Entscheidungsstichwort (Thema)
Zinsberechnung gemäß § 233a AO 1977 bei nach Beginn des Zinslaufs festgesetzten Vorauszahlungen - Aufhebung der Vollziehung ohne Sicherheitsleistung aufgrund der Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren
Leitsatz (amtlich)
Es ist ernstlich zweifelhaft, ob gemäß § 233a Abs.3 Satz 1 AO 1977 nach Beginn des Zinslaufs festgesetzte Vorauszahlungen bei der Zinsberechnung unberücksichtigt bleiben.
Orientierungssatz
Es entspricht dem Grundgedanken der Verzinsung nach § 233a AO 1977, daß nach dem Beginn des Zinslaufs festgesetzte Vorauszahlungen sogar für den Zeitraum bis zu ihrer Festsetzung unverzinst bleiben (Ausführungen zu den Motiven des Gesetzgebers sowie zum Vorliegen einer planwidrigen Gesetzeslücke in § 233a AO 1977; im Streitfall: Aussetzung der Vollziehung aufgrund der Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren ohne die Anordnung einer Sicherheitsleistung).
Normenkette
AO 1977 § 233a Abs. 3 S. 1; FGO § 69 Abs. 2; AO 1977 § 233a Abs. 2 S. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Das Finanzgericht (FG) hat den Antrag der Antragstellerin und Beschwerdeführerin (Antragstellerin), einer GmbH, gegen den Antragsgegner und Beschwerdegegner (Finanzamt --FA--) wegen Aufhebung der Vollziehung der Zinsbescheide zur Körperschaftsteuer 1990 und 1991 abgelehnt und die Beschwerde zugelassen. Die Antragstellerin legte gegen den entsprechenden Beschluß Beschwerde ein, der das FG nicht abgeholfen hat und der folgender Sachverhalt zugrunde liegt:
Die Antragstellerin reichte ihre Körperschaftsteuererklärungen für 1990 am 2. Juli 1993 und für 1991 am 20. Oktober 1993 beim FA ein. Aufgrund dieser Erklärungen setzte das FA durch Körperschaftsteuerbescheide vom 5. April 1994 Körperschaftsteuern in Höhe von 1 422 085 DM (1990) und 2 061 503 DM (1991) fest. Die Steuern waren nach den Anrechnungsverfügungen vom selben Tage insgesamt (1990) bzw. bis auf einen Restbetrag von 153 903 DM (1991) durch erstmals festgesetzte sowie nachträglich erhöhte Vorauszahlungen getilgt; das FA hatte die Erhöhungsbeträge in Höhe von 1 144 545 DM (1990) und 1 630 000 DM (1991) nach Ablauf der Anpassungsfrist (§ 49 Abs.1 des Körperschaftsteuergesetzes i.V.m. § 37 Abs.3 Satz 3, 1.Halbsatz des Einkommensteuergesetzes i.d.F. des Art.1 Nr.22 des Wohnungsbauförderungsgesetzes --WoBauFG-- vom 22. Dezember 1989, BGBl I 1989, 2408, BStBl I 1989, 505) durch Bescheide vom 15. Oktober 1993 festgesetzt.
Das FA erließ außerdem am 5. April 1994 Zinsbescheide gemäß § 233a der Abgabenordnung (AO 1977) i.d.F. des Steuerreformgesetzes (StRG) 1990 vom 25. Juli 1988 (BGBl I 1988, 1093, BStBl I 1988, 224), des WoBauFG, des Gesetzes zur Bekämpfung des Mißbrauchs und zur Bereinigung des Steuerrechts (StMBG) vom 21. Dezember 1993 (BGBl I 1993, 2310, BStBl I 1994, 50) und des Grenzpendlergesetzes (GrenzpendlG) vom 24. Juni 1994 (BGBl I 1994, 1395, BStBl I 1994, 440) über Zinsen in Höhe von 137 340 DM (1990) und 107 034 DM (1991). Diese Zinsen berechnete es von Körperschaftsteuerschulden in Höhe von (abgerundet) 1 144 500 DM (1990) und 1 783 900 DM (1991), die am 1. April 1992 bzw. 1993 noch nicht zum Soll gestellt waren, jeweils für die vollen Monate bis zum 8. April 1994.
Gegen die Zinsbescheide legte die Antragstellerin Einsprüche ein, über die noch nicht entschieden ist. Sie macht geltend, die nachträglich erhöhten Vorauszahlungen seien in die Unterschiedsbeträge (§ 233a Abs.3 Satz 1 AO 1977) einzubeziehen.
Das FA hat über die bei ihm gestellten Anträge auf Aussetzung der Vollziehung der Zinsbescheide nicht entschieden. Es buchte die festgesetzten Zinsen vom Konto der Antragstellerin ab. Ferner hob es die bestandskräftig gewordenen Vorauszahlungsbescheide vom 15. Oktober 1993 durch Bescheide vom 5. Juli 1994 auf; auch hiergegen sind noch Einsprüche anhängig.
Nach Eingang eines entsprechenden Antrags beim FG hob das FA die Vollziehung der Zinsbescheide teilweise in Höhe von 34 335 DM (1990) und 48 900 DM (1991) auf. Hierzu berechnete es die Zinsen von den Unterschiedsbeträgen, soweit sie streitig sind, nur für einen Zinslauf bis zum 18. Oktober 1993.
Den weitergehenden Antrag lehnte das FG, wie eingangs erwähnt, ab.
Die Antragstellerin stützt ihre Beschwerde auf die Verletzung des § 233a AO 1977. Sie beantragt sinngemäß, den Beschluß des FG vom 9. Februar 1995 4 V 2648/94 aufzuheben und die Vollziehung der Zinsbescheide zur Körperschaftsteuer 1990 und 1991 vom 5. April 1994 in Höhe weiterer Teilbeträge von 103 005 DM (1990) und 48 900 DM (1991) aufzuheben.
Das FA beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist begründet. Sie führt antragsgemäß zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Aussetzung der Vollziehung der Zinsbescheide (§ 132 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
1. Die für die Aufhebung der Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes gemäß § 69 Abs.3 Sätze 1 und 3 i.V.m. Abs.2 Satz 2 FGO erforderlichen ernstlichen Zweifel an dessen Rechtmäßigkeit liegen u.a. vor, wenn gewichtige Umstände Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung von Rechtsfragen bewirken (ständige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs --BFH--, z.B. Beschluß vom 28. Mai 1986 I B 22/86, BFHE 146, 508, BStBl II 1986, 656). Solche Zweifel sind im Streitfall bezüglich der Behandlung der nachträglich erhöhten Vorauszahlungen gegeben.
2. Gemäß § 233a Abs.1 Satz 1 AO 1977 sind Nachzahlungszinsen auf Steuern ab dem Veranlagungszeitraum 1989 nach Maßgabe der folgenden Absätze zu erheben, wenn die Festsetzung einer Steuer (hier: der Körperschaftsteuer 1990 und 1991) zu einer Steuernachforderung führt. Der Zinslauf beginnt grundsätzlich 15 Monate nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist (§ 233a Abs.2 Satz 1 AO 1977); er endet mit Ablauf des Tages, an dem die Steuerfestsetzung wirksam wird, spätestens vier Jahre nach seinem Beginn (§ 233a Abs.2 Satz 3 AO 1977 i.d.F. des Art.4 Nr.1 GrenzpendlG, die nach Art.5 Nr.1 GrenzpendlG in allen Fällen gilt, in denen Zinsen nach dem 31. Dezember 1993 festgesetzt werden). Bei einer erstmaligen Steuerfestsetzung ist nach § 233a Abs.3 Satz 1 AO 1977 die festgesetzte Steuer, vermindert um die anzurechnenden Steuerabzugsbeträge, um die anzurechnende Körperschaftsteuer und um die festgesetzten Vorauszahlungen (Unterschiedsbetrag) für die Zinsberechnung maßgebend.
3. Ernstliche Zweifel bestehen insoweit, als das FA nur die bei Beginn des Zinslaufs festgesetzten Vorauszahlungen bei den Zinsberechnungen berücksichtigt hat.
a) Dem möglichen Wortsinn des § 233a Abs.3 Satz 1 AO 1977 ("festgesetzte Vorauszahlungen") entspricht es, daß nach Beginn des Zinslaufs wirksam (d.h. rechtmäßig oder rechtswidrig) festgesetzte Vorauszahlungen in den Unterschiedsbetrag eingehen. Das FG hat insoweit eine durch einschränkende Auslegung zu behebende Gesetzeslücke bejaht. Ob die Rechtsprechung Gesetzeslücken zu Lasten des Steuerpflichtigen schließen darf (vgl. hierzu BFH-Urteile vom 20. Oktober 1983 IV R 175/79, BFHE 139, 561, BStBl II 1984, 221; vom 12. Januar 1990 VI R 29/86, BFHE 159, 341, BStBl II 1990, 423, m.w.N.), kann offenbleiben. Zweifelhaft ist jedenfalls, ob die für eine Lückenfüllung unerläßliche "planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes" (BFH-Urteil in BFHE 159, 341, BStBl II 1990, 423, m.w.N.) vorliegt. Bezogen auf den Zeitpunkt der Festsetzung der Vorauszahlungen läßt sich nicht mit der gebotenen Sicherheit annehmen, daß die bloßen Gesetzesworte das teleologische Konzept des Gesetzes unvollständig zum Ausdruck bringen.
b) Die Berücksichtigung der nach Beginn des Zinslaufs festgesetzten Vorauszahlungen hat allerdings zur Folge, daß sie sogar für den Zeitraum bis zu ihrer Festsetzung unverzinst bleiben. Dies entspricht aber entgegen der Ansicht des FG dem Grundgedanken der Verzinsung.
Nach § 233a Abs.1 Satz 1 AO 1977 muß die Festsetzung der Jahressteuer zu einer Steuernachforderung führen. Demzufolge hängt der Umfang des abzuschöpfenden Liquiditätsvorteils von dem Zeitpunkt der Steuerfestsetzung und der Höhe des nachzuzahlenden Betrages ab (vgl. Bericht der Bundesregierung über die Möglichkeit der Einführung einer Vollverzinsung im Steuerrecht (BTDrucks 8/1410 S.4). Nach dem Grundgedanken der Verzinsung ist für den gesamten Zinslauf nur der aufgrund der Steuerfestsetzung nachzuzahlende Betrag maßgebend. Der auf einer verspäteten Festsetzung (Anpassung) der Vorauszahlungen beruhende Liquiditätsvorteil darf hingegen, wie § 233a Abs.1 Satz 2 AO 1977 verdeutlicht, für den gesamten Zinslauf nicht abgeschöpft werden.
c) Unter diesen Umständen ist es auch ernstlich zweifelhaft, ob sich eine Gesetzeslücke allein aus dem Zweck des § 233a Abs.3 Satz 1 AO 1977 ableiten läßt.
Das FG hat sich darauf berufen, der Gesetzgeber habe für die Zinsberechnung, "um die verwaltungsmäßigen Schwierigkeiten zu begrenzen, ... entsprechend den Grundsätzen der Sollverzinsung auf die Abweichung zwischen der festgesetzten Steuer, vermindert um ... den zu Beginn des Zinslaufs festgesetzten Vorauszahlungen" abstellen wollen (vgl. Gesetzesentwurf zum StRG 1990, BTDrucks 11/2157 S.195). Insoweit ist aber fraglich, ob die Berücksichtigung der nach Beginn des Zinslaufs festgesetzten Vorauszahlungen beim Vorsoll Schwierigkeiten bereitet und der Gedanke der Vereinfachung eine dem Grundgedanken des § 233a AO 1977 widersprechende Verzinsung rechtfertigen kann.
d) Schließlich ist bei der gebotenen summarischen Prüfung davon auszugehen, daß sich im Streitfall aus der Aufhebung der (rechtswidrigen) Vorauszahlungsbescheide vom 15. Oktober 1993 keine anderweitigen Zinsfolgen ergeben haben.
4. Die vom Senat angenommenen ernstlichen Zweifel beziehen sich für 1990 auf die gesamten festgesetzten Zinsen und für 1991 auf den Betrag, der die nach §§ 233a, 238 AO 1977 mit (12 Monate x 0,5 v.H. von 153 900 DM =) 9 234 DM zu errechnenden Zinsen übersteigt. Der Beschwerde war danach antragsgemäß stattzugeben. Mit Rücksicht auf die Erfolgsaussichten der Antragstellerin erscheint die Anordnung einer Sicherheitsleistung nicht erforderlich.
Fundstellen
Haufe-Index 66051 |
BFH/NV 1996, 229 |
BFHE 180, 15 |
BFHE 1997, 15 |
BB 1996, 1425 |
BB 1996, 1425-1426 (LT) |
DB 1996, 1454 (LT) |
DStR 1996, 1045-1046 (KT) |
DStZ 1996, 605-606 (KT) |
HFR 1996, 637-638 (L) |
StE 1996, 439 (K) |