Entscheidungsstichwort (Thema)
Einzelrichter; Verstoß gegen das Gebot des gesetzlichen Richters
Leitsatz (NV)
Ein Übertragungsbeschluss nach § 6 FGO verstößt dann gegen das Gebot des gesetzlichen Richters, wenn er “greifbar gesetzeswidrig”, das heißt unter keinem Gesichtspunkt zu rechtfertigen ist. Hiervon kann dann auszugehen sein, wenn für ein Parallelverfahren, das gleichfalls von einem Einzelrichter entschieden worden ist, kein wirksamer Übertragungsbeschluss gefasst wurde.
Normenkette
GG Art. 101; FGO §§ 6, 115, 119 Nr. 1
Verfahrensgang
Hessisches FG (Urteil vom 22.01.2008; Aktenzeichen 2 K 1835/05) |
Tatbestand
I. Durch Beschluss des zuständigen Vollsenats des Finanzgerichts (FG) vom 17. April 2007 wurde der Rechtsstreit betreffend die Gewinnfeststellung 1994 dem Richter X gemäß § 6 der Finanzgerichtsordnung (FGO) übertragen. Dieser hat die Klage abgewiesen. Hiergegen richtet sich die Nichtzulassungsbeschwerde der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger), die Gegenstand des anhängigen Rechtsstreits ist. Mit der Beschwerde wird unter anderem geltend gemacht, dass die Voraussetzungen für eine Einzelrichterentscheidung nicht vorgelegen hätten und deshalb ein Verfahrensverstoß wegen nicht vorschriftsmäßiger Besetzung des Gerichts zu bejahen sei (§§ 115 Abs. 2 Nr. 3, 119 Nr. 1 FGO).
Richter X hat ferner die --die nämlichen Streitfragen betreffende-- Klage gegen den Bescheid zur Festsetzung des Gewerbesteuermessbetrages 1994 abgewiesen. Da im Hinblick auf diesen Rechtsstreit ein Übertragungsbeschluss gemäß § 6 FGO nicht gefasst worden ist, hat der Senat mit Beschluss vom heutigen Tage das Urteil (betreffend Gewerbesteuermessbetrag 1994) aufgehoben und die Sache an die Vorinstanz zurückverwiesen (Az.: IV B 39/08).
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist begründet, da auch für den anhängigen Rechtsstreit (betreffend Gewinnfeststellung 1994) die Voraussetzungen für eine Entscheidung durch den Einzelrichter gemäß § 6 FGO nicht vorlagen.
Zwar ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass der nicht anfechtbare Beschluss nach § 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4 FGO in das Ermessen des Gerichts gestellt und deshalb die Entscheidung des Vollsenats zur Übertragung des Rechtsstreits --von formellen Verstößen abgesehen-- grundsätzlich selbst dann hinzunehmen ist, wenn das FG im Rahmen der prognostischen und überschlägigen Beurteilung der Streitsache die Tatbestandsvoraussetzungen des § 6 Abs. 1 FGO --also z.B. die Schwierigkeit der Sache-- verkannt hat (z.B. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 21. Oktober 1999 VII R 15/99, BFHE 190, 47, BStBl II 2000, 88). Ausnahmsweise kann der Übertragungsbeschluss jedoch zu einer fehlerhaften Besetzung des Gerichts (§ 119 Nr. 1 FGO) und damit zu einem Verfahrensmangel gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO wegen Verstoßes gegen das Gebot des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes) führen, wenn der Beschluss "greifbar gesetzwidrig", d.h. unter keinem Gesichtspunkt mehr zu rechtfertigen ist (vgl. BFH-Beschluss vom 25. Juni 2001 V B 6/01, BFH/NV 2001, 1589). Von Letzterem ist für das anhängige Verfahren auszugehen.
Zweck des § 6 FGO ist es vor allem, die Senate der Finanzgerichte von weniger bedeutsamen Verfahren zu entlasten (vgl. Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 6 Rz 1, m.w.N.). Dieser Zweck wird jedoch offenkundig verfehlt, wenn --wie vorliegend-- bei zwei selbständigen und am selben Tag abgeschlossenen Hauptsacheverfahren ein Rechtsstreit dem Einzelrichter übertragen wird (hier: Gewinnfeststellung 1994), das andere Klageverfahren aber, in dem über die nämlichen Rechtsfragen zu entscheiden ist, mangels eines wirksamen Übertragungsbeschlusses in der Zuständigkeit des Vollsenats verbleibt (hier: Gewerbesteuermessbetrag 1994). Da eine solche Auffächerung der Zuständigkeiten den Vollsenat erkennbar nicht zu entlasten vermag und damit der Zielsetzung des § 6 FGO offenkundig widerstreitet, ist es auch unerheblich, ob --wovon der Senat ausgeht-- der Übertragungsbeschluss in der Gewerbesteuersache 1994 nur versehentlich unterblieben ist.
Fundstellen