Leitsatz (amtlich)
Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines steuerrechtlichen Verwaltungsakts rechtfertigen für sich allein die Aussetzung der Vollziehung dann nicht, wenn - wie bei der Erhebung von Eingangsabgaben - besonders schwerwiegende öffentliche Interessen an der alsbaldigen Vollziehung des Verwaltungsakts bestehen (Bestätigung der Beschlüsse VII B 46/66 vom 6. Februar 1967 und VII B 12/66 vom 28. Juni 1967, BFH 87, 414 und 89, 82, BStBl III 1967, 123, 513).
Normenkette
FGO § 69
Tatbestand
Die Antragstellerin ist Alleinvertreterin der Firmen ... von denen sie laufend Wermutweine der Marken ... bezieht. Für die gelieferten Waren wird ihr ein Zahlungsziel von elf bzw. sechs Monaten gewährt.
Die Antragstellerin betreibt für die von ihr vertriebenen Erzeugnisse eine umfangreiche Werbung, welche von der Zollbehörde aufgrund verschiedener Betriebsprüfungen zu einem erheblichen Teil als Markenwerbung angesprochen wird.
Die von der Antragstellerin eingeführten Waren wurden beim Zollamt (ZA) zum freien Verkehr abgefertigt, welches dabei Ausgleichsteuer in Höhe von 4 % des Werts erhob. Bei der Festsetzung des dafür maßgebenden Zollwerts berücksichtigte das ZA an Kreditierungskosten entgegen den auf 11 bzw. 6 % lautenden Zollwertanmeldungen lediglich 3 %. Außerdem rechnete es den von den Firmen ... in Rechnung gestellten Preisen im Hinblick auf die von der Steuerpflichtigen aufgewandten Werbekosten einen Zuschlag von 45 % des jeweiligen Rechnungspreises hinzu.
Gegen die 181 Abgabenbescheide, welche das ZA erteilte, erhob die Antragstellerin nach erfolglosem Einspruch Klage. Außerdem beantragte sie beim FG, die Vollziehung der Bescheide hinsichtlich eines Teilbetrages der Ausgleichsteuer von zusammen ... DM auszusetzen. Das ist der Teil dieser Abgabe, welcher nach den Berechnungen der Steuerpflichtigen auf den vom ZA angewandten Zuschlag von 45 % der Rechnungspreise und die nicht anerkannten Kreditierungskosten von 8 % bzw. 3 % entfällt.
Das FG gab den Aussetzungsanträgen insoweit statt, als die Abgabenforderungen darauf beruhen, daß das ZA bei der Feststellung der Zollwerte die Rechnungspreise um einen Zuschlag von mehr als 22,5 % erhöht und die im Hinblick auf das eingeräumte Zahlungsziel geltend gemachten Abzüge nur teilweise anerkannt hatte.
Die Vorinstanz begründete ihre Entscheidung damit, daß gegen die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Steuerbescheide zum Teil ernstliche Zweifel bestünden. Sie wandte sich gegen die vom BFH vertretene Auffassung, wonach die Aussetzung der Vollziehung ein berechtigtes Interesse an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes voraussetze und ein solches gegenüber der Anforderung von Eingangsabgaben regelmäßig nicht anerkannt werden könne.
Gegen die Beschlüsse des FG erhob das HZA Beschwerde.
Das HZA beruft sich im wesentlichen auf die Beschlüsse des BFH VII B 46/66 vom 6. Februar 1967 (BFH 87, 414, BStBl III 1967, 123, BZBl 1967, 180) und VII B 12/66 vom 28. Juni 1967 (BFH 89, 82, BStBl III 1967, 513, BZBl 1967, 1030), welche nach seiner Ansicht auch auf die vorliegenden Fälle zutreffen.
Das HZA beantragt, die Beschlüsse des FG aufzuheben.
Die Steuerpflichtige beantragt, die Beschwerden des HZA zurückzuweisen.
Sie meint, daß bei der Zollwertfestsetzung für die von ihr eingeführten Waren kein Zuschlag zum Rechnungspreis wegen Markenwerbung gemacht werden dürfe.
Die Mittel für die erhöhten Grenzabgaben müsse sie selbst aufbringen, da bei der gegebenen Marktlage keine Möglichkeit für eine Abwälzung bestehe. Im Hinblick auf die in die Millionen gehende Summe der streitigen Abgaben habe sie ein erhebliches Interesse an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die Beschwerden des HZA haben Erfolg.
Gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1 FGO kann das Gericht die Vollziehung eines Verwaltungsaktes auf Antrag des Steuerpflichtigen ganz oder teilweise aussetzen. Nach dem dafür sinngemäß geltenden § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO soll die Aussetzung u. a. erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen.
Die Vorentscheidungen gehen davon aus, daß im Streitfall solche ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Ausgleichsteuerbescheide des ZA zum Teil gegeben seien. Ob dies zutrifft, kann dahinstehen. Denn selbst wenn man es bejaht, ist eine Aussetzung der Vollziehung der angefochtenen Verwaltungsakte nicht gerechtfertigt.
§ 69 Abs. 2 Satz 2 FGO schreibt beim Vorliegen der dort genannten Voraussetzungen die Aussetzung der Vollziehung nicht zwingend vor. Vielmehr ergibt sich, wie der Senat in seinen Beschlüssen VII B 46/66 vom 6. Februar 1967 und VII B 12/66 vom 28. Juni 1967 dargelegt hat, aus dem Charakter dieser Norm als einer bewußt gewählten Sollvorschrift, daß der Gesetzgeber in diesen Fällen die Aussetzung zwar in der Regel für geboten ansieht, aber Ausnahmen hiervon zuläßt.
Das bedeutet, daß das Gericht auch insoweit, als es ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes annimmt, die Interessen des Abgabenpflichtigen an der Aussetzung der Vollziehung gegen das öffentliche Interesse an der Verwirklichung des Verwaltungsaktes abzuwägen hat. Die in der Sollvorschrift des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO zum Ausdruck kommende Beschränkung des Spielraums für die richterliche Entscheidung hat allerdings zur Folge, daß das Ergebnis dieser Interessenabwägung nur ausnahmsweise die Ablehnung der Aussetzung rechtfertigen kann.
Eine derartige Ausnahme ist jedoch im Streitfall zulässig und geboten. Denn ein berechtigtes Interesse an einem vorläufigen Rechtsschutz kann nicht anerkannt werden, wenn - wie hier - besonders schwerwiegende öffentliche Interessen auf dem Spiel stehen, gegenüber denen die Belange des Abgabenpflichtigen nicht ins Gewicht fallen. Die den Gegenstand des Aussetzungsbegehrens der Antragstellerin bildenden Steuerbescheide betreffen nämlich die Erhebung von Eingangsabgaben. Für diese Art von Abgaben hat aber der erkennende Senat in den oben angeführten Beschlüssen entschieden, daß bei gerechter Abwägung der Interessen des Staatsbürgers als Abgabenschuldner einerseits und der öffentlichen Interessen andererseits ein berechtigtes Interesse an einer Aussetzung der Vollziehung in der Regel nicht anerkannt werden könne.
Das besondere Gewicht, welches dem öffentlichen Interesse an der alsbaldigen Erhebung angefallener Eingangsabgaben zukommt, ergibt sich, wie der Senat dort ausgeführt hat, aus dem Wesen dieser Abgaben. Sie sollen eine ganz bestimmte Ware als solche belasten und sind dazu bestimmt, in der auf die einzelne Warenart entfallenden Höhe gerade in deren Preis einzugehen. Der damit bezweckte Wettbewerbsschutz gestaltet sich dadurch besonders wirksam, daß das Gesetz die zollamtliche Freigabe eingeführter Waren von der vorherigen Entrichtung der Eingangsabgaben bzw. deren Anschreibung auf einem Aufschubkonto abhängig macht und bis zu diesem Zeitpunkt die Waren selbst einer dinglichen Haftung für die sie belastenden Abgaben unterwirft (siehe § 38 ZG und § 121 AO). In dieser Regelung findet somit das besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Erhebung der Eingangsabgaben in gesetzlicher Form Ausdruck.
Andererseits ist ihr die Vorstellung des Gesetzgebers zu entnehmen, daß der Abgabenpflichtige die für die Entrichtung der Eingangsabgaben notwendigen Mittel bei einem mit der erforderlichen kaufmännischen Sorgfalt betriebenen Einfuhrgeschäft durch Weiterveräußerung der Ware von seinen Abnehmern hereinholt. Das Interesse des Abgabenpflichtigen an der Aussetzung der Vollziehung von Bescheiden über Eingangsabgaben hat deshalb im allgemeinen nur eine geringe rechtliche Bedeutung und kann nur beim Vorliegen außergewöhnlicher Umstände ins Gewicht fallen.
Wegen der weiteren für die Interessenabwägung in Betracht kommenden Gesichtspunkte wird auf die eingehende Begründung der genannten Beschlüsse verwiesen.
Die von der Vorinstanz in ihrem Beschluß III 353/66 vom 6. April 1967 (EFG 1967, 316) sowie in ihren hier angefochtenen Entscheidungen in einer zum Teil ungewöhnlichen Form geübte Kritik an der Rechtsprechung des erkennenden Senats ist unbegründet.
Es kann keine Rede davon sein, daß die vom Senat vertretene Auslegung des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO zu einer vom Gesetzgeber nicht gewollten Einschränkung des Rechtsschutzes in bestimmten Abgabensachen führe. Bei der genannten Vorschrift handelt es sich, wie in den wiederholt zitierten Beschlüssen vom 6. Februar und 28. Juni 1967 eingehend begründet wurde und auch von der Vorinstanz eingeräumt wird, um eine echte Sollvorschrift. Daraus folgt aber, daß es gerade Aufgabe der Gerichte ist, zu prüfen und zu entscheiden, unter welchen Voraussetzungen abweichend von der gesetzlichen Regel die Vollziehung auch dann nicht auszusetzen ist, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen.
Der erkennende Senat hält daran fest, daß es für die danach im Einzelfall zu treffende Entscheidung darauf ankommt, ob bei einer Abwägung der gegenteiligen Interessen der Beteiligten ein berechtigtes Interesse des Steuerpflichtigen an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes anzuerkennen ist.
Die Tätigkeit, welche die Gerichte hiernach bei der Anwendung des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO vollziehen, wird von der Vorinstanz als Ausübung richterlichen Ermessens gekennzeichnet, während sie der Senat in seinem erwähnten Beschluß vom 28. Juni 1967 als Rechtsanwendung angesehen hat. Diese Frage braucht indessen keiner neuerlichen Prüfung unterzogen zu werden; denn in dem gegen die Entscheidung des FG eröffneten Verfahren der Beschwerde gegen die Aussetzung der Vollziehung hat der BFH auch dessen Ermessensausübung in vollem Umfang nachzuprüfen. Das folgt aus der Natur der Beschwerde, welche dem Rechtsmittelgericht - anders als die Revision - keine Schranken hinsichtlich der Nachprüfung der angefochtenen Entscheidung setzt (vgl. BFH-Beschluß I B 56/67 vom 21. Februar 1968, BFH 91, 521, BStBl II 1968, 414).
In der Vorentscheidung wird weiter eingewandt, daß bei der Auslegung des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO auch der Sinnzusammenhang beachtet werden müsse, in den diese Vorschrift hineingestellt sei und der auch § 80 VwGO umfasse. Dem ist zuzustimmen; jedoch sprechen die für die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach der VwGO geltenden Regeln und ihr Verhältnis zu den entsprechenden Vorschriften der FGO nicht gegen, sondern für die Auffassung des erkennenden Senats.
Die Frage, ob bis zum Abschluß eines schwebenden Rechtsstreits die Vollziehung des davon betroffenen Verwaltungsaktes im Einzelfall aufgeschoben bleiben soll, kann immer nur aus der Abwägung des Interesses des Staatsbürgers daran einerseits und des öffentlichen Interesses an einer sofortigen Vollziehung andererseits beantwortet werden. In dieser Hinsicht bestehen keine Unterschiede zwischen dem allgemeinen Verwaltungsrecht und dem Abgabenrecht. Beide sehen vor, daß bei einem besonderen öffentlichen Interesse der Verwaltungsakt sofort vollzogen werden kann. Wenn dabei nach der VwGO regelmäßig eine besondere behördliche Anordnung über die sofortige Vollziehung notwendig ist, während im Steuerrecht die Vollziehbarkeit allgemein gegeben ist und der Aufschub der Vollziehung einer besonderen Anordnung bedarf, so liegen darin lediglich verfahrensmäßige Abweichungen. § 69 Abs. 1 FGO trägt nämlich gerade dem Umstand Rechnung, daß bei Abgabensachen im allgemeinen ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung vorliegt (vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - C 124/65 vom 13. Dezember 1967, Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern 1968 S. 180 [181] - ZfZ 1968, 180 [181] -). § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO normiert hingegen Tatbestände, bei denen in der Regel dieses öffentliche Interesse durch die Belange des Steuerpflichtigen soweit aufgewogen wird, daß die einstweilige Vollziehung des Verwaltungsaktes vor Abschluß des Rechtsstreits nicht gerechtfertigt ist. Beiden Normen liegt das Prinzip der Abwägung der widerstreitenden Interessen der Beteiligten zugrunde und beide Normen sind in dem Sinne generalisierend, daß Ausnahmen möglich bleiben, wenn auf der einen oder anderen Seite besonders schwerwiegende Interessen auf dem Spiele stehen.
Das FG verkennt seine Aufgabe und seine Stellung im Verfahren, wenn es meint, bei der danach erforderlichen Interessenabwägung gegenüber den Belangen des Steuerpflichtigen das Interesse der Allgemeinheit am rechtzeitigen Aufkommen der Steuereinnahmen vernachlässigen zu können. Es übersieht, daß es gerade dieses Interesse ist, welchem der Gesetzgeber so viel Bedeutung beigemessen hat, daß er es für gerechtfertigt hielt, der Anfechtungsklage in Abgabensachen grundsätzlich die aufschiebende Wirkung zu versagen.
Allerdings wiegt das öffentliche Interesse am rechtzeitigen und vollständigen Eingang der Steuern für sich allein im allgemeinen wiederum nicht so schwer, daß es die sofortige Vollziehung eines Verwaltungsaktes auch dann zulassen würde, wenn die Rechtslage ernstlich zweifelhaft ist. Dem trägt die Regelung des § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO Rechnung, die jedoch nicht dahin verstanden werden darf, daß jenes Interesse bei der auch in ihrem Anwendungsbereich vom Gericht vorzunehmenden Interessenabwägung gänzlich außer Betracht zu bleiben hätte. Vielmehr kann ihm auch dort in besonders gelagerten Fällen durchaus ein beachtliches Gewicht zukommen. In den Entscheidungen des erkennenden Senats vom 6. Februar und 28. Juni 1967 durfte es deshalb nicht unberücksichtigt bleiben, daß in jenen Fällen durch eine Aussetzung der Vollziehung gesetzlich festgelegte Abgaben in beträchtlicher Höhe und auf lange Sicht unerhoben geblieben wären. Außerdem kann das öffentliche Interesse am rechtzeitigen Aufkommen der Steuern vor allem im Verein mit anderen staatlichen Belangen zu einem Übergewicht des öffentlichen Interesses an der sofortigen Vollziehung steuerrechtlicher Verwaltungsakte führen. Das trifft, wie an anderer Stelle bereits näher dargelegt wurde, in der Regel bei der Erhebung der Eingangsabgaben zu.
Entgegen der Ansicht der Antragstellerin weist der Streitfall keine Besonderheiten auf, welche eine davon abweichende Beurteilung der Interessenlage rechtfertigen würde. Insbesondere erhalten die Belange der Steuerpflichtigen nicht schon dadurch ein besonderes Gewicht, daß diese aufgrund der gegebenen Marktlage keine Preiserhöhungen vornehmen zu können glaubt und deshalb die streitigen Abgaben selbst tragen muß. Wie der erkennende Senat bereits in seinem mehrfach erwähnten Beschluß vom 28. Juni 1967 ausgeführt hat, sind die zollrechtlichen Vorschriften über die Erhebung und Sicherung der Eingangsabgaben so gestaltet, daß der Importeur genötigt wird, sie auf seine Abnehmer abzuwälzen. Die genannten Abgaben sollen also die Selbstkosten der eingeführten Ware erhöhen, indem sie diese unmittelbar und in einer bei ihrer zollamtlichen Freigabe sofort wirksam werdenden Weise belasten. Eine Steigerung der Selbstkosten kann aber stets nur durch eine Preiserhöhung oder eine Verringerung des Gewinns ausgeglichen werden und die Notwendigkeit zu diesen Dispositionen bewirkt gerade den vom Gesetz gewollten Wettbewerbsschutz der inländischen Wirtschaft. So gesehen befindet sich die Antragstellerin in keiner anderen Lage als jeder Importeur, der bei der Einfuhr von Waren Abgaben entrichten muß.
Fundstellen
Haufe-Index 170354 |
BStBl II 1969, 528 |