Entscheidungsstichwort (Thema)
Überraschungsentscheidung; Glaubhaftmachung einer Verhinderung bei Bettlägerigkeit
Leitsatz (NV)
- Eine unvorhersehbare Überraschungsentscheidung liegt nicht vor, wenn das Gericht dem Kläger zu dessen Behauptung, er sei krankheitsbedingt an der Wahrung der Einspruchsfrist gehindert gewesen, aufgibt, die Art und Dauer seiner Erkrankung spätestens in der mündlichen Verhandlung glaubhaft zu machen, und sich im Urteil mit dem Vorbringen des Klägers im Einzelnen auseinandersetzt.
- Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Verhinderung infolge einer Erkrankung kann nur gewährt werden, wenn der Antragsteller glaubhaft macht, dass er so schwer erkrankt war, dass er auch an der Einreichung eines ihm zumutbaren fristwahrenden Einspruchsschreibens gehindert war.
Normenkette
AO 1977 § 110; FGO § 115 Abs. 2 Nr. 3, § 119 Nr. 3, § 142; ZPO § 114
Tatbestand
Mit Urteil vom 27. März 2000 wies das Finanzgericht (FG) die Klage des Antragstellers wegen Einkommensteuer 1984 bis 1986 ab, weil das beklagte Finanzamt (FA) die per Telefax am 23. Januar 1996 übermittelten Einsprüche gegen die am 7. Dezember 1995 erlassenen Einkommensteuerbescheide zu Recht als unzulässig verworfen habe. Das FA habe zu Recht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand versagt. Der Antragsteller habe trotz entsprechender Aufforderung im hier für den Wiedereinsetzungsantrag maßgebenden Einspruchsverfahren nicht glaubhaft gemacht, dass er die Einspruchsfrist ohne Verschulden versäumt habe. Die erst in der mündlichen Verhandlung vor dem FG vorgelegten Krankheitsbescheinigungen seien verspätet und mithin unbehelflich. Zudem sei daraus erkennbar, dass der Kläger zumindest fristwahrend Einspruch hätte einlegen können, weil er die Klinik bereits am 26. Dezember 1995 verlassen habe. Im Übrigen habe er anschließend nicht einmal ―wie empfohlen― einen Hausarzt zugezogen. Die Revision ließ das FG nicht zu. Die Entscheidung wurde dem Antragsteller lt. Postzustellungsurkunde am 15. April 2000 zugestellt.
Mit am 15. Mai 2000 beim FG eingegangenem Schriftsatz beantragte der Antragsteller die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) und die Beiordnung des Rechtsanwalts X. Er macht geltend, das Urteil des FG stelle eine unvorhersehbare Überraschungsentscheidung dar. Entgegen seinem Hinweis in der Ladung, der Antragsteller möge die Art und die Dauer seiner Erkrankung glaubhaft machen, vertrete das FG nun unter Hinweis auf das Urteil des FG Köln vom 11. Mai 1993 8 K 3358/92 (Entscheidungen der Finanzgerichte ―EFG― 1994, 304) die Ansicht, diese Glaubhaftmachung sei nicht mehr zulässig. Auch bezeichne es die vorgelegten Bescheinigungen als unzulänglich. Er, der Antragsteller, habe die Rechtsbehelfsfrist bis zum letzten Tag nutzen können. Es gehe auch nicht darum, ob er einen Satz zur Fristwahrung hätte formulieren können, sondern wie er eben diesen Satz an das FA hätte gelangen lassen können.
Entscheidungsgründe
Der Antrag auf Bewilligung von PKH und Beiordnung eines Rechtsanwalts hat keinen Erfolg.
Nach § 142 der Finanzgerichtsordnung (FGO) i.V.m. § 114 der Zivilprozeßordnung (ZPO) erhält ein Prozessbeteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag PKH, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
Der Antragsteller hat die nach § 117 Abs. 2 ZPO erforderliche Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vorgelegt. Er hat auch ausdrücklich versichert, dass die darin enthaltenen Angaben vollständig und wahr sind.
Doch verspricht das beabsichtigte Rechtsmittel in Form einer Revision oder einer Nichtzulassungsbeschwerde keine ausreichende Aussicht auf Erfolg. Der vom Antragsteller gerügte Verfahrensmangel, das Urteil stelle eine unvorhergesehene Überraschungsentscheidung dar, liegt augenscheinlich nicht vor. Das FG hatte dem Antragsteller in der Ladung zur mündlichen Verhandlung aufgegeben, spätestens in der mündlichen Verhandlung am 27. März 2000 die Art und Dauer seiner Erkrankung glaubhaft zu machen. Die vorgelegten Bescheinigungen des Klinikums … vom 3. und 9. November 1999 sowie der vom Antragsteller zum Jahreswechsel 1995/96 und im Januar 1996 telefonisch konsultierten Fachärztin vom 25. März 2000 waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Das FG hat sich damit im Urteil auch auseinander gesetzt und ausgeführt, dass sich aus diesen Bescheinigungen gerade nicht ergebe, dass der Antragsteller dauernd bettlägerig gewesen sei. Dementsprechend ist das FG auch nicht zu der Überzeugung gelangt, dass der Antragsteller die Einspruchsfrist ohne Verschulden versäumt habe. Daraus ergibt sich zugleich, dass der Antragsteller nicht nur imstande gewesen wäre, ein fristwahrendes Einspruchsschreiben zu verfassen, sondern es auch rechtzeitig zur Post zu geben.
Ob das FG seine Entscheidung zu Recht ―zusätzlich― auch darauf stützen konnte, dass die Glaubhaftmachung der Wiedereinsetzungsgründe im Klageverfahren nicht mehr möglich sei, kann danach offen bleiben (s. insoweit jedoch z.B. Brockmeyer in Klein, Abgabenordnung, 7. Aufl., § 110 Rz. 46).
Die Entscheidung des Senats löst keine Gerichtskosten aus (vgl. § 118 Abs. 1 Sätze 4 und 5 ZPO).
Fundstellen
Haufe-Index 635873 |
BFH/NV 2001, 1525 |