Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Die Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung (ß 251 AO a. F.) eines Bescheides über Nachforderungen nicht mehr abwälzbarer Abschöpfungsbeträge für Geflügel war mit Rücksicht auf die ernsten Bedenken gegen die Gültigkeit der Verordnung vom 7. September 1962 mit Recht und Billigkeit nicht vereinbar.
Zur Frage der Sicherheitsleistung in solchen Fällen. AO a. F. § 251; Verordnung über eine zusätzliche Abschöpfung bei der Einfuhr von Eiern und Geflügel vom 7. September 1962 (Bundesanzeiger 1962
Normenkette
AO §§ 251, 242
Tatbestand
I. -
Die Klägerin ließ in der Zeit vom 3. April bis 8. August 1963 bei verschiedenen Zollstellen amerikanische Geflügelteile der Abschöpfungstarifstellen 02.02 - B - II - a und 02-02 - B - II - b zum freien Verkehr abfertigen. Da die auf der Grundlage der Rechnungspreise festgesetzten Zollwerte nicht unter den in Spalte 13 des Abschöpfungstarifs angegebenen Einschleusungspreisen lagen, wurden keine zusätzlichen Abschöpfungsbeträge nach der Verordnung über eine zusätzliche Abschöpfung bei der Einfuhr von Eiern und Geflügel vom 7. September 1962 (Bundeszollblatt - BZBl - 1962 S. 814) erhoben. Auf Grund späterer Ermittlungen kam die Verwaltung zu dem Ergebnis, daß die Rechnungspreise über den handelsüblichen Wettbewerbspreisen lägen und die Zollwerte zu hoch festgesetzt worden seien. Unter Berichtigung der Zollwerte forderte das Zollamt die danach zu zahlenden zusätzlichen Abschöpfungsbeträge in Höhe von ... DM durch Steuerbescheid vom 6. Juli 1964 nach.
Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin Sprungberufung ein. Mit Schreiben vom 15. Juli 1964 beantragte sie, die Vollziehung des Bescheides vom 6. Juli 1964 ohne Sicherheitsleistung auszusetzen. Diesen Antrag lehnte das Zollamt durch Verfügungen vom 21. Juli und 3. August 1964 ab. Die Beschwerde hiergegen wurde als unbegründet zurückgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hob das Finanzgericht die Beschwerdeentscheidung auf und setzte die Vollziehung des genannten Steuerbescheides ohne Sicherheitsleistung aus.
Mit ihrer nunmehr als Revision zu behandelnden Rechtsbeschwerde macht die Oberfinanzdirektion folgendes geltend:
Eine abschließende gerichtliche Entscheidung darüber, ob die Verordnung über eine zusätzliche Abschöpfung bei der Einfuhr von Eiern und Geflügel vom 7. September 1962 rechtsgültig sei oder nicht, sei bisher noch nicht ergangen. Eine ordnungsgemäß verkündete Rechtsverordnung habe aber die Vermutung der Gültigkeit für sich. Die Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung darauf gegründeter Bescheide sei daher nicht ermessensmißbräuchlich. Wenn aber wie hier gegen teilweise Sicherheitsleistung von der Vollstreckung Abstand genommen werde, sei den wirtschaftlichen Interessen des Steuerpflichtigen weitestgehend Rechnung getragen. Das Finanzgericht dürfe nicht sein Ermessen an die Stelle desjenigen der Verwaltung setzen. Da der Steuerpflichtigen an einer Aussetzung gegen Sicherheitsleistung nicht gelegen sei, sei entscheidend allein die Frage nach der Gefährdung des Abgabenanspruchs. Nach dem Urteil des Bundesfinanzhofs VII 11/61 U vom 11. April 1962 (BStBl 1962 III S. 289) sei bei einem die Aussetzung rechtfertigenden Stande der Hauptsache das Verlangen nach Sicherheitsleistung immer dann gerechtfertigt, wenn durch die Aussetzung der Vollziehung der Steueranspruch gefährdet sei. Die im Zusammenhang mit den gegen die Klägerin eingeleiteten Vollstreckungsmaßnahmen bekanntgewordene wirtschaftliche Lage der Firma lasse zweifelsfrei erkennen, daß der Abgabenanspruch von rund ... DM tatsächlich gefährdet sei. Bei dieser Situation könne nicht von einem Ausnahmefall die Rede sein, in dem das Interesse des Staates an einer Sicherstellung der Abgabenforderung gegenüber dem Interesse der Klägerin an einer Aussetzung der Vollziehung zurücktreten müsse.
Die Klägerin erwidert darauf wie folgt: Die Oberfinanzdirektion habe mit ihrer Beschwerdeentscheidung jede Aussetzung abgelehnt. Daher müsse geprüft werden, ob die Aussetzung nach § 251 Satz 2 AO erfolgen mußte. Eine Vollziehung habe nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs zu unterbleiben, wenn ein Rechtsbehelf gegen den Bescheid Aussicht auf Erfolg habe. Das treffe im Streitfall zu, da es offensichtlich sei, daß die Verordnung vom 7. September 1962 keine Grundlage in der Verordnung Nr. 22 des EWG-Ministerrats gehabt habe, ja daß sie gegen die Verordnung Nr. 109 der EWG-Kommission verstoße. So habe bereits das Finanzgericht Düsseldorf und rechtskräftig das Finanzgericht Hamburg entschieden. Eine Vollstreckung sei um so weniger zulässig gewesen, als sie bei dem Betrag von ... DM bei einem kleinen Unternehmen in jedem Fall zu verheerenden Folgen geführt hätte. Das Urteil des Bundesfinanzhofs vom 11. April 1962 dürfe nicht verallgemeinert werden. Es müsse selbstverständlich auch geprüft werden, ob die Stellung der Sicherheit bei der Höhe des Betrages für den Steuerpflichtigen eine zumutbare Belastung bedeute. Es handle sich nicht um einen echten Fall der Sicherheitsleistung. Die Klägerin habe unter Aufrechterhaltung ihres Rechtsstandpunktes eine Bürgschaft von ... DM angeboten, um die unzulässige Vollstreckung abzuwenden. Auch bei der Prüfung der Voraussetzungen einer Sicherheitsleistung seien die Erfolgsaussichten zu beachten.
Entscheidungsgründe
II. -
Die Revision ist nicht begründet. Nach dem bis zum Ablauf des 31. Dezember gültigen § 251 AO wurde durch die Einlegung eines Rechtsmittels die Wirksamkeit des angefochtenen Bescheides nicht gehemmt, insbesondere die Erhebung einer Steuer nicht aufgehalten. Die Behörde, die den Bescheid erlassen hatte, konnte jedoch die Vollziehung aussetzen, geeignetenfalls gegen Sicherheitsleistung. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs handelte es sich bei der Entscheidung über eine Aussetzung der Vollziehung um eine nach den Grundsätzen von Recht und Billigkeit zu treffende Ermessensentscheidung der Finanzverwaltungsbehörden; daher hatten die Steuergerichte nur zu prüfen, ob die Entscheidung nicht ermessensfehlerhaft war (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs II 37/53 U vom 10. Februar 1954, BStBl 1954 III S. 116; Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -, Reichsabgabenordnung, § 251 Rechtsspruch 1), d. h. ob sich die Verwaltung innerhalb der ihr gezogenen Schranken des Ermessens gehalten hatte und ihre Entscheidung auch nicht ermessensmißbräuchlich war. Es konnte ermessensmißbräuchlich sein, die Vollziehung eines Steuerbescheides nicht auszusetzen, wenn die Möglichkeit zu seiner Aufhebung in dem Sinne bestand, daß die Rechtslage auf Grund gewichtiger Darlegungen des Steuerpflichtigen zweifelhaft war (Urteil des Bundesfinanzhofs III 187/52 S vom 10. September 1954, BStBl 1954 III S. 328). Dabei kam es nach diesem Urteil darauf an, die vom Steuerpflichtigen gemachten Rechtsausführungen nach der ihnen für sich selbst und ihrer inneren Schlüssigkeit zukommenden Bedeutung zu beurteilen. Die Befugnis, selbst die Vollziehung auszusetzen, stand den Steuergerichten jedoch nur zu, wenn sich ergab, daß die Ermessensentscheidung der Verwaltungsbehörden nur darauf hätte lauten können.
Die Nachprüfung der Vorentscheidung unter diesen Gesichtspunkten hat folgendes ergeben.
Mit Recht hat die Vorinstanz dahingestellt sein lassen, ob die verfassungsrechtlichen Zweifel, die das Finanzgericht Rheinland-Pfalz in seinem Vorlagebeschluß vom 14. November 1963 III 77/63 hinsichtlich Art. 1 des Ratifikationsgesetzes zu den Verträgen über die Gründung der EWG und der EAG vom 27. Juli 1957, des Abschöpfungserhebungsgesetzes vom 25. Juli 1962 und des Gesetzes zur Durchführung der Verordnung Nr. 19 des Rates der EWG vom 26. Juli 1962 zum Ausdruck gebracht hat, eine Aussetzung der Vollziehung des Abschöpfungsbescheides rechtfertigen würden. Denn, wie sich aus Nachstehendem ergibt, hat die Vorinstanz zutreffender Weise aus anderen Gründen der Berufung gegen die Ablehnung einer Aussetzung der Vollziehung ohne Sicherheitsleistung stattgegeben.
In seinem Urteil VII 79/65 S vom 23. November 1965 (BStBl 1966 III S. 79) hat der erkennende Senat entschieden, daß neben der Abwägung der Gewichtigkeit der gegen die Gültigkeit der Rechtsgrundlage der Abschöpfung unter dem Gesichtspunkt von Recht und Billigkeit auch nicht unberücksichtigt bleiben kann, in welcher Weise sich eine Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung im Hinblick auf den Charakter der geforderten Abgaben auf den Abgabenschuldner auswirkt. Das gleiche wird in der Regel auch bei der Erhebung zusätzlicher Abschöpfung zu gelten haben. Das heißt, daß ein Steuerpflichtiger, der dem Steuergläubiger gegenüber die Rechtsgültigkeit einer Abgabe bestreitet, dann, wenn er seinen Abnehmern gegenüber - begreiflicherweise - nicht die gleichen Konsequenzen zieht, sondern die von ihm geforderten Abgaben abwälzt, schon mit Rücksicht auf die Tatsache, daß der geforderte Betrag selbst auf diese Weise seinem Vermögen zufließt, unter dem Gesichtspunkt von Recht und Billigkeit nicht verlangen kann, daß der Steuergläubiger ihm den Betrag entgegen dem Grundsatz des § 251 AO beläßt.
Von diesen Fällen unterscheidet sich der Streitfall grundlegend. Denn hier wurde nach Ablauf fast eines Jahres und nach Weiterverkauf der importierten Waren ein erheblicher Betrag von seiten der Verwaltung nachgefordert mit der Behauptung, daß bei der seinerzeitigen Abgabenerhebung von unzutreffenden Besteuerungsgrundlagen ausgegangen worden sei. Bei diesem Sachverhalt, bei der Höhe des nicht mehr abwälzbaren Abgabenbetrages und der Gewichtigkeit der vom Abgabenschuldner geltend gemachten Bedenken gegen die Gültigkeit der der Abgabenerhebung zugrunde liegenden Verordnung vom 7. September 1962 erscheint es dem Senat in übereinstimmung mit den von der Vorinstanz dargelegten Erwägungen mit dem Gesichtspunkt von Recht und Billigkeit nicht vereinbar, wenn die Verwaltung eine Aussetzung der Vollziehung des Abgabenbescheids ohne Sicherheitsleistung abgelehnt hat.
Auch lassen die Ausführungen der Vorinstanz zu der Frage, ob im vorliegenden Falle nach den Grundsätzen des Urteils VII 11/61 U vom 11. April 1962 von seiten der Verwaltung etwa Sicherheitsleistung verlangt werden kann, und die Verneinung dieser Frage durch die Vorinstanz - im Sinne einer allein möglichen Entscheidung - keinen Rechtsirrtum erkennen. Diese Entscheidung steht mit den Grundsätzen des genannten Urteils nicht im Widerspruch. Denn der Senat hatte dort entschieden, daß in Fällen der Anfechtung eines Steuerbescheids, in denen die Rechtslage insofern zweifelhaft erscheint, als weder die Aussichtslosigkeit noch die sicheren Erfolgsaussichten des eingelegten Rechtsmittels erkennbar sind, sowohl mit der Möglichkeit eines Erfolges als auch eines Mißerfolges des vom Steuerpflichtigen eingelegten Rechtsmittels gerechnet werden muß, und daß in solchen Fällen dem Steuergläubiger nicht verwehrt werden kann, die Aussetzung der Vollziehung eines gefährdeten Steueranspruchs nur gegen Sicherheitsleistung auszusprechen. Im Streitfalle liegen jedoch so ernsthafte Bedenken gegen die Rechtsgültigkeit der dem Abgabenanspruch zugrunde liegenden Verordnung vor, daß dem Abgabenschuldner die Leistung einer Sicherheit für den nicht abwälzbaren Anspruch nicht zugemutet werden kann.
Die Vorinstanz hat daher mit Recht der seinerzeitigen Berufung der Klägerin stattgegeben und die Vollziehung des Steuerbescheides vom 6. Juli 1964 ohne Sicherheitsleistung ausgesetzt. Die Revision der Oberfinanzdirektion war daher als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2, die Festsetzung des Streitwerts auf § 140 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung.
Fundstellen
Haufe-Index 411970 |
BStBl III 1966, 166 |
BFHE 1966, 455 |
BFHE 84, 455 |
StRK, AO:251 R 46 |