Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht/Abgabenordnung Einkommensteuer/Lohnsteuer/Kirchensteuer
Leitsatz (amtlich)
Die Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung eines Abgabenbescheids durch die Finanzverwaltungsbehörden ist nicht schon deshalb ermessensfehlerhaft, weil gegen die dem Bescheid zugrunde liegende Norm vom Abgabenschuldner und einem Finanzgericht verfassungsrechtliche Bedenken erhoben worden sind; es kommt vielmehr darauf an, ob auch von anderen Gerichten oder im Schrifttum Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der Norm vorgebracht worden sind ober ob die Verfassungsmäßigkeit der Norm von diesen bejaht worden ist und hierfür vertretbare Gründe angeführt worden sind.
In solchen Fällen kann bei der Ausübung des Ermessens unter dem Gesichtspunkt von Recht und Billigkeit auch nicht unberücksichtigt bleiben, in welcher Weise sich eine Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung im Hinblick auf den Charakter der geforderten Abgaben auf den Abgabenschuldner auswirkt.
Normenkette
AO §§ 251, 242, 237, 230; StAnpG § 2; FGO § 74
Tatbestand
A -
Die Bgin. ließ am 5. Oktober 1964 Braugerste aus Holland zum freien Verkehr abfertigen. Gegen den Bescheid des Zollamts, durch den von ihr Abschöpfung und Umsatzausgleichsteuer angefordert wurden, legte sie im Hinblick auf die vom Finanzgericht Rheinland-Pfalz im Vorlagebeschluß vom 14. November 1963 III 77/63 dem Bundesverfassungsgericht unterbreiteten verfassungsrechtlichen Bedenken gegen das Gesetz zu den Verträgen vom 25. März 1957 zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) vom 27. Juli 1957 (BGBl II S. 753), das deutsche Durchführungsgesetz vom 26. Juli 1962 (BGBl I S. 455) zur Verordnung Nr. 19 des Rates der EWG vom 4. April 1962 (Bundeszollblatt - BZBl - 1962 S. 618) und das Abschöpfungserhebungsgesetz vom 25. Juli 1962 (BGBl I S. 453) Einspruch ein und beantragte am gleichen Tage, die Vollziehung des Bescheids ohne - hilfsweise gegen - Sicherheitsleistung auszusetzen. Das Finanzamt lehnte den Aussetzungsantrag ab, die Oberfinanzdirektion wies die Beschwerde hiergegen zurück.
Auf die Berufung der Bgin. hob das Finanzgericht die Beschwerdeentscheidung und die Verfügung des Zollamts auf und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung an das Zollamt zurück.
Die Oberfinanzdirektion begründet ihre Rb. wie folgt:
Die Entscheidung über die Aussetzung der Vollziehung eines Abgabenbescheids nach § 251 AO stehe im pflichtgemäßen Ermessen der Steuerbehörde. Die Vollziehung sei auszusetzen, wenn die Möglichkeit der Aufhebung auf Grund gewichtiger Darlegungen des Steuerpflichtigen, die nach ihrer Schlüssigkeit zu bewerten seien, bestehe. Gehe es um die Verfassungswidrigkeit einer Vorschrift, so sei auszusetzen, wenn ernsthafte verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Gültigkeit des Gesetzes erhoben würden (Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 21. Februar 1961 - 1 BvR 314/60 -, BStBl 1961 I S. 63). Bei Ablehnung der Aussetzung liege ein Ermessensmißbrauch nicht vor, wenn die Verwaltungsbehörde und die Steuergerichte die Verfassungsmäßigkeit der Norm bejahten und diese Rechtsauffassung nicht offensichtlich unvertretbar sei (Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 6. März 1963 - 2 BvR 58/63 -, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1963 S. 160). Schwerwiegende verfassungsrechtliche Bedenken gegen das Abschöpfungserhebungsgesetz bestünden jedoch nicht, wie in der Beschwerdeentscheidung ausgeführt sei; das sei vom Finanzgericht nicht gewürdigt und nicht widerlegt. Daß schon wegen Verneinung der Verfassungsmäßigkeit einer Norm durch ein Finanzgericht die Vollziehung darauf beruhender Bescheide auszusetzen sei, sei unzutreffend. Es komme allein darauf an, ob sich die Entscheidung der Verwaltung in den Grenzen des von ihr auszuübenden Ermessens halte und die von ihr zur Frage der Verfassungsmäßigkeit geäußerte Rechtsauffassung vertretbar sei. Die Rechtsauffassung der Oberfinanzdirektion werde vom Schrifttum unterstützt. Da somit ihre Auffassung nicht offensichtlich unvertretbar sei, liege ihrer Entscheidung ein Ermessensmißbrauch nicht zugrunde. Das Finanzgericht habe auch nicht zwischen der Aussetzung der Vollziehung der Abschöpfungsbeträge einerseits und der Umsatzausgleichsteuer andererseits unterschieden. Selbst wenn man dem Finanzgericht hinsichtlich seines Vorlagebeschlusses folgen würde, könne die Vollziehung des angefochtenen Bescheids zumindest insoweit nicht ausgesetzt werden, als er die Ausgleichsteuer betreffe. Denn nach den Darlegungen des Finanzgerichts in Abschnitt A 2 des Vorlagebeschlusses müsse die Berufung wegen der Erhebung der Ausgleichsteuer als unbegründet zurückgewiesen werden, wenn entweder die Billigung des Art. 189 des EWG-Vertrages durch das Ratifikationsgesetz oder das Gesetz zur Durchführung der Verordnung Nr. 19 oder das Abschöpfungserhebungsgesetz nicht rechtens sei.
Die Bgin. erwidert darauf folgendes: Die Vollziehung von Abgabenbescheiden sei auszusetzen, wenn die bloße Möglichkeit der Aufhebung in dem Sinne bestehe, daß die Rechtslage auf Grund gewichtiger Darlegungen des Steuerpflichtigen zweifelhaft sei (Entscheidung des Bundesfinanzhofs III 187/52 S vom 10. September 1954, BStBl 1954 III S. 328, Slg. Bd. 59 S. 307). Gewichtig seien die Darlegungen immer dann, wenn sie von einer Entscheidung eines Finanzgerichts gestützt würden, solange die Auffassung des Finanzgerichts nicht vom Bundesfinanzhof für rechtsirrig erklärt worden sei. Das gelte auch und erst recht für verfassungsrechtliche Zweifel an der Gültigkeit eines Abgabenbescheids. Eine Verfassungsbeschwerde der Bgin. allein würde nicht genügen, anders aber, wenn ein Gericht die Verfassungsfrage dem Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 des Grundgesetzes (GG) vorgelegt habe. Von da an dürfte die Finanzverwaltung die Aussetzung der Vollziehung nicht mehr unter Berufung auf die Gültigkeitsvermutung des Gesetzes ablehnen. Der Ermessensspielraum der Verwaltung werde nicht nur durch etwaige Entscheidungen oberer Gerichte eingeengt, sondern auch anderer Gerichte. Daher habe das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluß vom 6. März 1962 elastischer formuliert und die Beachtung der Rechtsprechung der "angerufenen Gerichte" bei Ermessensentscheidungen nach § 251 AO verlangt.
Bisher habe der Bundesfinanzhof nicht entschieden und von den Finanzgerichten habe als einzigstes das Finanzgericht Rheinland-Pfalz die Verfassungsmäßigkeit der Abschöpfungsregelung geprüft und darüber entschieden. Die vor dem Vorlagebeschluß ergangenen Urteile der Finanzgerichte Bremen und Nürnberg (VII 202, 222/63) hätten die Fragen nicht angeschnitten, geschweige denn sich mit ihnen auseinandergesetzt. Die Ablehnung des Vorlagebeschlusses im Schrifttum beziehe sich nur auf den ersten Punkt, nämlich die Frage, ob das EWG-Recht im Inlande unmittelbare Geltung besitze und das deutsche Zustimmungsgesetz zum EWG-Vertrag verfassungswidrig sei. Auch das Verwaltungsgericht Frankfurt habe sich in seinem Urteil vom 17. Dezember 1963 (Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern - ZfZ - 1964 S. 91) nur mit dem ersten Punkt des Vorlagebeschlusses beschäftigt, in seinem Zwischenurteil vom 10. Mai 1963 (zfZ 1964 S. 50) hingegen dem Finanzgericht Rheinland-Pfalz darin beigepflichtet, daß die Abschöpfungen materiell-rechtlich nicht als Zölle anzusehen seien. Da die bisher ergangenen gerichtlichen Entscheidungen und die Literatur nicht geeignet seien, den Standpunkt der Verwaltung überzeugend zu stützen, geschweige denn den Vorlagebeschluß als offensichtlich unbegründet erscheinen zu lassen, müsse die Verwaltung die im Vorlagebeschluß geäußerte ausführliche begründete Rechtsauffassung respektieren, selbst wenn sie sie im Ergebnis für unrichtig hielte. Der Bundesfinanzhof habe im Urteil III 187/52 S vom 10. September 1954 (a. a. O.) zutreffend darauf hingewiesen, daß das Gewicht der dem Aussetzungsantrag gegebenen Begründung nicht nach der unveränderten Rechtsauffassung der Behörde, sondern nach der Schlüssigkeit des Vorbringens des Antragstellers beurteilt werden müsse. Daß dieses schlüssig sei, wenn es mit der Auffassung eines Finanzgerichts übereinstimme, bedürfe keiner näheren Begründung. Solange das Bundesverfassungsgericht nicht über den Vorlagebeschluß entschieden habe, habe dieser Tatbestandswirkung, die von der Verwaltung bei Ermessensentscheidungen nach § 251 AO zu beachten sei.
Bei der gegenwärtigen Rechtsunsicherheit müsse man die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels der Bgin. mindestens ebenso hoch einschätzen wie die Möglichkeit eines Mißerfolges. Wenn die Verwaltung meine, ihr stehe ein Ermessensspielraum bei der Beurteilung der Begriffe "Erfolgsaussichten" und "ernste verfassungsrechtliche Bedenken" zu, sei das nur sehr bedingt richtig. Solange eine Rechtsprechung zu den streitigen Fragen nicht existiere, dürfe die Behörde ihre eigene Rechtsauffassung mit den vom Rechtsmittelführer vorgetragenen Gründen abwägen. Auch dabei dürfe sie aber nicht von ihrer eigenen unveränderten Rechtsauffassung ausgehen, sondern müsse die Darlegungen des Rechtsmittelführers auf das ihnen innewohnende Gewicht und ihre innere Schlüssigkeit prüfen. Existierten hingegen zu den streitigen Fragen bereits Entscheidungen des die Behörde kontrollierenden Finanzgerichts, dann sei die Verwaltung bei der Beurteilung der Frage, ob die Darlegungen des Rechtsmittelführers gewichtig sind oder nicht, in aller Regel an die Auffassung des Finanzgerichts gebunden.
Vorsorglich hat die Bgin. sodann sowohl in ihren Schriftsätzen als auch in der mündlichen Verhandlung im einzelnen zu den verfassungsrechtlichen Problemen Stellung genommen.
Auch wegen der Umsatzausgleichsteuer - so führt die Bgin. aus - sei die Aussetzung der Vollziehung geboten, denn insoweit habe bereits das Finanzgericht Bremen in seinem Urteil vom 9. April 1963 die Auffassung der Bgin. bestätigt. Auch das Finanzgericht Rheinland-Pfalz sei der Auffassung, daß entweder die Erhebung der Abschöpfung oder die Erhebung der Umsatzausgleichsteuer rechtswidrig sei, daß aber beide Abgaben nebeneinander keineswegs erhoben werden dürften.
Der Bundesminister der Finanzen, der dem Verfahren beigetreten ist, trägt folgendes vor:
Das Bundesverfassungsgericht habe in seinem Urteil vom 21. Februar 1961 (BStBl I S. 63) nicht im einzelnen ausgeführt, was unter ernsten verfassungsrechtlichen Bedenken zu verstehen sei. Solche seien dann vorhanden, wenn eine summarische überprüfung ergebe, daß der Erfolg des Rechtsmittels im Hauptverfahren mindestens ebenso wahrscheinlich sei wie der Mißerfolg. Die Erfolgsaussichten könnten nicht allein auf Grund der äußeren Tatsache des Vorlagebeschlusses eines Finanzgerichts nach Art. 100 GG beurteilt werden. Maßgebend könne nur das sachliche Gewicht der Erwägungen des Finanzgerichts sein. Eine summarische Würdigung des Vorlagebeschlusses und der Gründe gegen die Auffassung des Finanzgerichts ergebe, daß der Mißerfolg des Einspruchs gegen den Abschöpfungsbescheid weitaus wahrscheinlicher sei als sein Erfolg. Es werde insoweit auf die Beschwerdeentscheidung, das in der Rechtsbeschwerdebegründung angeführte Schrifttum und auf die beigefügte Stellungnahme der Bundesregierung Bezug genommen. Das Finanzgericht habe seine Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der Abschöpfungsregelung zu Unrecht für ernst erachtet.
Selbst dann aber, wenn das Finanzgericht hätte zu dem Ergebnis kommen können, daß seine Beurteilung der Abschöpfungsregelung richtiger sei als die der Finanzbehörden, müsse das Urteil des Finanzgerichts aufgehoben werden. Das Finanzgericht sei nämlich nicht befugt, dem Urteil seine eigene Auffassung über die Verfassungsmäßigkeit der Abschöpfungsregelung zugrunde zu legen. Bei der Anwendung der Begriffe "Erfolgsaussichten" und "ernste verfassungsrechtliche Bedenken" stehe vielmehr den Finanzbehörden ein gewisser Beurteilungsspielraum zu, innerhalb dessen Grenzen mehrere Entscheidungen rechtmäßig sein könnten. Das folge schon aus dem Wesen der summarischen Prüfung, die die Grundlage für die Entscheidung zu bilden habe, und gehe außerdem auch deutlich aus dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 6. März 1963 (HFR 1963 S. 160) hervor. Ein Ermessensmißbrauch sei demnach nur dann gegeben, wenn die Beurteilung der Erfolgsaussichten des Rechtsmittels im Hauptverfahren durch die Finanzbehörden, insbesondere auch deren Auffassung über die Gültigkeit der angewandten Normen nicht mehr vertretbar erscheine. Das könne im Streitfall nicht behauptet werden.
Ergänzend trug der Bundesminister der Finanzen in der mündlichen Verhandlung vor, daß es sich bei den Abschöpfungen nach dem EWG-Vertrag um eine besondere, zwischen den EWG-Partnern vereinbarte Form von Zöllen auf dem Agrarsektor handle, die der überleitung in den gemeinsamen Agrarmarkt diene. Bei Abschöpfungen könne aber für die Frage der Aussetzung der Vollziehung die funktionelle Bedeutung dieser Abgaben und die Stellung des Importeurs als Abgabenschuldner nicht außer acht gelassen werden. Die Abschöpfungen hätten den Zweck, im Wege der Abwälzung der Abgaben durch die am Handel Beteiligten, den Endverbraucherpreis zu beeinflussen, und übten diese Wirkung aus, einerlei ob ihre Vollziehung beim Importeur ausgesetzt werde oder nicht, da dieser in jedem Falle die strittigen Abgaben im Preis an seine Nachmänner weitergebe. Es komme daher, da der Importeur beim Weiterverkauf der Ware im Preis auch den Betrag der Abschöpfung erhalte, die Aussetzung der Vollziehung beim Importeur einer zinslosen Kreditgewährung an diesen gleich.
Auf die Ausführungen des Bundesministers der Finanzen bestritt die Bgin. in der mündlichen Verhandlung erneut den Zollcharakter der Abschöpfungen und führte zur Frage der Abschöpfung aus: Es sei zwar richtig, daß die bestrittenen Abschöpfungsbeträge vom Importeur im Preis weitergegeben würden, doch sei in den Verträgen vereinbart, daß im Falle des Obsiegens des Importeurs im Rechtsstreit über die Rechtmäßigkeit der Abschöpfungen die nicht erhobenen oder erstatteten Beträge an den Nachmann vergütet würden. Die Bgin. gab jedoch auf Vorhalt zu, daß das natürlich nicht bis zum Endverbraucher geschehen könne.
Entscheidungsgründe
B -
Die Rb. führt zur Aufhebung der Vorentscheidung.
I. -
Nach § 251 AO wird durch Einlegung eines Rechtsmittels die Wirksamkeit des angefochtenen Bescheids nicht gehemmt, insbesondere die Erhebung einer Steuer nicht aufgehalten. Die Behörde, die den Bescheid erlassen hat, kann jedoch die Vollziehung aussetzen, geeignetenfalls gegen Sicherheitsleistung. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs handelt es sich bei der Entscheidung über eine Aussetzung der Vollziehung um eine - nach den Grundsätzen von Recht und Billigkeit zu treffende - Ermessensentscheidung der Finanzverwaltungsbehörde; daher haben die Steuergerichte nur zu prüfen, ob die Entscheidung nicht ermessensfehlerhaft ist (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs II 37/53 U vom 10. Februar 1954, BStBl 1954 III S. 116, Slg. Bd. 58 S. 538; Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -, Reichsabgabenordnung, § 251, Rechtsspruch 1), d. h. ob sich die Verwaltung innerhalb der ihr gezogenen Grenzen des Ermessens gehalten hat und ihre Entscheidung auch nicht ermessensmißbräuchlich ist. Es kann ermessensfehlerhaft sein, die Vollziehung eines Steuerbescheids nicht auszusetzen, wenn die Möglichkeit zu seiner Aufhebung in dem Sinne besteht, daß die Rechtslage auf Grund gewichtiger Darlegungen des Steuerpflichtigen zweifelhaft ist (Urteil des Bundesfinanzhofs III 187/52 S vom 10. September 1954, a. a. O.). Dabei kommt es nach diesem Urteil darauf an, die vom Steuerpflichtigen gemachten Rechtsausführungen nach der ihnen für sich selbst und ihrer inneren Schlüssigkeit zukommenden Bedeutung zu beurteilen.
Anknüpfend an diese Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 21. Februar 1961 - 1 BvR 314/60 - (BStBl 1961 I S. 63, 64) entschieden, daß die Verwaltung auf Grund ihres Ermessens auch dann zu einer Aussetzung der Vollziehung kommen müsse, wenn ernste verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Gültigkeit des Gesetzes selbst erhoben werden könnten; denn auch die vollziehende Gewalt sei nach Art. 20 Abs. 3, Art. 1 Abs. 3 GG an Gesetz und Recht, insbesondere an die Grundrechte gebunden. Aus dem Prinzip der Gewaltenteilung und aus Sinn und Zweck der Ermächtigung zur Aussetzung folge nichts anderes. Darüber, wann es der Fall ist, daß ernsthafte Bedenken gegen die Gültigkeit des Gesetzes erhoben werden können, hat sich das Bundesverfassungsgericht in dem bereits genannten Urteil und in seinem Beschluß vom 6. März 1963 - 2 BvR 58/63 - (HFR 1963 S. 160; StRK, Reichsabgabenordnung, § 251, Rechtsspruch 27) nur insofern geäußert, als es bei Ablehnung einer Aussetzung der Vollziehung eine Ermessensverletzung dann als nicht vorliegend ansieht, wenn bereits ein oberes Bundesgericht die Verfassungsmäßigkeit der Norm bejaht und sich die Verwaltungsbehörde dieser Auffassung angeschlossen habe oder wenn die Finanzbehörden und die angerufenen Gerichte die Verfassungsmäßigkeit der umstrittenen Norm bejahten und diese Rechtsauffassung nicht offensichtlich unvertretbar sei. Das besagt keinesfalls, daß nur in diesen Fällen die Ablehnung einer Aussetzung der Vollziehung ermessensfehlerfrei sei. Vielmehr bleibt offen, wann in sonstigen Fällen ernsthafte Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit einer Norm als vorliegend anzusehen sind, so daß die Ablehnung der Vollziehungsaussetzung als ermessensfehlerhaft zu erachten wäre.
Bei der Entscheidung dieser Frage ist zu berücksichtigen, daß es für die Ausübung des Ermessens durch die Verwaltungsbehörde einen Unterschied macht, ob es im Hauptstreit um die unrichtige Anwendung des Gesetzes und damit um den Fortbestand des Steuerbescheids oder um die Vereinbarkeit der anzuwendenden Norm mit der Verfassung geht, so daß gegen denselben oder gegen andere Steuerpflichtige auf Grund dieser Norm ein Verwaltungsakt wie der angefochtene nicht mehr ergehen dürfte bzw. bei allen bereits ergangenen Akten die Vollziehung auszusetzen wäre, d. h. die Durchführung einer Norm mindestens zeitweilig allgemein unterbleiben müßte. In letzterem Falle wird, weil die Tragweite der Entscheidung der Verwaltung über den Einzelfall hinausgeht und daher schwerer wiegt als bei unrichtiger Anwendung eines Gesetzes oder ungenügender Sachaufklärung im Einzelfall, bei der Abwägung der Gewichtigkeit der Bedenken angesichts der Vermutung der Gültigkeit eines Gesetzes der in einem Vorlagebeschluß zum Ausdruck kommenden Rechtsauffassung eines Finanzgerichts nicht entscheidende Bedeutung in dem Sinne zukommen, daß eine Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung als ermessensfehlerhaft anzusehen wäre. Vielmehr bleibt die Möglichkeit einer anderen Entscheidung auf Grund der Abwägung der Ernsthaftigkeit verfassungsrechtlicher Bedenken bestehen.
Für die Entscheidung, ob die für die Verfassungswidrigkeit einer Norm geäußerten Gründe so gewichtig sind, daß sie die Verwaltung zu einer Aussetzung der Vollziehung nötigen, ist es von Bedeutung, ob auch von anderen Gerichten oder im Schrifttum Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit einer Norm vorgebracht worden sind oder ob die Verfassungsmäßigkeit der Norm von diesen bejaht worden ist und hierfür vertretbare Gründe angeführt worden sind.
Da nach § 251 AO die Einlegung eines Rechtsmittels grundsätzlich die Vollziehung der Abgabenbescheide nicht hindert, stellt eine auf der Ermächtigung des Satzes 2 a. a. O. beruhende Aussetzung der Vollziehung durch die Verwaltung eine Durchbrechung dieses Grundsatzes dar. Da es sich dabei um eine Ermessensentscheidung handelt, die nach § 2 StAnpG nach Recht und Billigkeit zu treffen ist, kann nicht unberücksichtigt bleiben, in welcher Weise sich die Aussetzung der Vollziehung oder deren Ablehnung im Hinblick auf den Charakter der Abgabe auf den Abgabenschuldner auswirkt. Daher ist es auch von Bedeutung, wenn, wie sich aus dem Vorbringen der Bgin. selbst ergibt, die Importeure die Abschöpfungsbeträge im Preis für die von ihnen eingeführten Waren weitergeben, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob die Vollziehung der Abschöpfungsbescheide ausgesetzt worden ist oder nicht.
Hinzu kommt, daß auf dem Gebiet solcher wirtschaftslenkender Abgaben für Waren, die in ein einheitliches Wirtschaftsgebiet eingeführt werden, durch unter Umständen sich widersprechende Entscheidungen von Gerichten mit örtlich begrenzter Zuständigkeit diese Abgaben im Bezirk eines Gerichts durch vorläufige Aussetzungen nicht zur Erhebung gelangen, während sie in anderen Bezirken erhoben werden. Hierdurch können unerwünschte Verzerrungen der Wettbewerbslage bei den Importeuren entstehen, die einer dem Gleichheitsgrundsatz zuwiderlaufenden unterschiedlichen Behandlung der Importeure gleichkommen.
Entsprechend dem Ziel des Verfahrens betreffend die Aussetzung der Vollziehung eines Steuerbescheids - nämlich nicht eine Entscheidung über das Bestehen eines erhobenen Abgabenanspruchs zu fällen, sondern nur über ein etwaiges Absehen von der alsbaldigen Durchsetzung des Anspruchs zu befinden - kann die Prüfung der Gewichtigkeit erhobener verfassungsrechtlicher Bedenken durch die Verwaltungsbehörde naturgemäß - wie das bereits für andere Aussetzungsfälle entschieden ist (Urteil des Bundesfinanzhofs IV 300/58 vom 4. Oktober 1962, StRK, Reichsabgabenordnung, § 251, Rechtsspruch 29) - nur eine summarische sein, während die endgültige Entscheidung gerade bei Verfassungsstreitigkeiten letztlich dem dazu berufenen Organ überlassen bleiben muß.
II. -
Im Streitfall geht es um die Aussetzung der Vollziehung eines Bescheids über Abschöpfung und Umsatzausgleichsteuer. Im Zeitpunkt der die Aussetzung ablehnenden letzten Verwaltungsentscheidung - 9. Dezember 1964 - waren gegen die der Anforderung der Abschöpfung zugrunde liegenden Normen nicht nur von der Bgin., sondern auch durch das Finanzgericht Rheinland-Pfalz mit seinem bereits erwähnten Vorlagebeschluß vom 14. November 1963 III 77/63 (Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 1964 S. 22) in anderer Sache verfassungsrechtliche Bedenken erhoben und vom Finanzgericht dem Bundesverfassungsgericht unterbreitet worden. Das Finanzgericht hält nach diesem Beschluß die Billigung des Art. 189 des EWG-Vertrages durch Art. 1 des Ratifikationsgesetzes vom 27. Juli 1957 sowie das Abschöpfungserhebungsgesetz vom 25. Juli 1962 und das Gesetz zur Durchführung der Verordnung Nr. 19 des Rates der EWG vom 26. Juli 1962 für verfassungswidrig, und zwar hat das Gericht - in Kürze gesagt - folgende Bedenken: a) die übertragung der Befugnis zu gesetzesvertretenden Rechtsverordnungen auf den Rat der EWG, der eine Exekutivbehörde darstelle, widerspreche dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Gewaltenteilung, b) die Abschöpfung sei kein Zoll, sondern eine Steuer, für die dem Bunde die Gesetzgebungskompetenz fehle, so daß das Abschöpfungserhebungsgesetz nicht hätte erlassen werden dürfen, c) das Durchführungsgesetz zur Verordnung Nr. 19 lasse die rechtsstaatliche Forderung außer acht, daß Abgabengesetze selbst dem Bürger darüber Aufschluß geben müßten, in welchen Fällen und in welcher Höhe er mit der Abgabe zu rechnen habe; die Regelung dieser grundlegenden Fragen sei aber dem Rat der EWG und sonstigen Exekutivorganen überlassen.
Soweit ersichtlich ist, hat weder vor diesem Vorlagebeschluß noch nachher in der Zeit bis zum Dezember 1964 ein anderes Gericht die gleichen verfassungsrechtlichen Bedenken geäußert. Ohne verfassungsrechtliche Fragen aufzuwerfen hat das Finanzgericht Nürnberg in seinem Urteil vom 23. April 1963 II 9-10/63 Z (EFG 1963 S. 326) die Erhebung von Abschöpfung gebilligt, jedenfalls also keine verfassungsrechtlichen Zweifel an der Gültigkeit des Abschöpfungserhebungsgesetzes geäussert; ebenso hat auch das Finanzgericht Bremen in seinem Urteil vom 9. April 1963 II 5-6/63 (siehe Außenwirtschaftsdienst des Betriebs-Beraters - AWD BB - 1963 S. 281) gegen die Erhebung der Abschöpfung keine Bedenken erhoben. Das Verwaltungsgericht Frankfurt/Main vertritt in seinem Urteil vom 17. Dezember 1963 II/1-636/63 (AWD BB 1964 S. 60) in ausdrücklichem Gegensatz zum Finanzgericht Rheinland-Pfalz die Verfassungsmäßigkeit des Ratifikationsgesetzes zum EWG-Vertrag. Auch im Schrifttum wurde ganz überwiegend die Auffassung vertreten, daß dieses Gesetz gültig sei (vgl. Ophüls, AWD BB 1964 S. 65 ff.; List, Finanz-Rundschau - FR - 1964 S. 207; Ipsen-Nicolaysen, Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 1964 S. 964 ff.; Klein, Die öffentliche Verwaltung - DöV - 1964 S. 308 ff.; Fuß, DöV 1964 S. 577, 582). Friauf, Deutsches Verwaltungsblatt 1964 S. 781, hat zwar die Problematik der übertragung rechtssetzender Befugnisse auf gewisse Organe von Gemeinschaften erörtert, nicht aber das Ratifikationsgesetz zum EWG-Vertrag als ungültig angesehen.
Soweit es um die Frage der Gesetzgebungskompetenz des Bundes hinsichtlich der Abschöpfung geht, ist festzustellen, daß die Abschöpfung von verschiedener Seite im Schrifttum als Zoll angesehen wurde (Maunz-Dürig, Grundgesetz, Art. 105 Randbem. 14; Lenkewitz, ZfZ 1962 S. 260; Becker-Riewald-Koch, Reichsabgabenordnung, § 1 Anm. 7 a; Rohr-Cordts, EWG-Abschöpfungen und Ausfuhrerstattungen, § 1 des Abschöpfungserhebungsgesetzes Anm. 4 b), so daß sich bei dieser Auffassung die Gesetzgebungskompetenz des Bundes aus Art. 105 GG ergeben würde. Aber auch von der anderen Ansicht her, daß die Abschöpfung kein Zoll sei, würde damit nicht die Kompetenz des Bundes entfallen; vgl. Götz, Juristen-Zeitung 1963 S. 157, und List, a. a. O. Eine Grundlage für die Gesetzgebungskompetenz des Bundes sehen diese in Art. 73 Ziff. 5 GG, wonach der Bund die ausschließliche Gesetzgebung über die Einheit des Zoll- und Handelsgebiets hat.
Was das Erfordernis der hinreichenden Festlegung, wann und in welcher Höhe der Bürger mit einer Abgabenbelastung zu rechnen habe, angeht, so haben die oben erwähnten Urteile an der Regelung im Durchführungsgesetz zur Verordnung Nr. 19 keinen Anstoß genommen. List, a. a. O., hebt hervor, daß der Frei-Grenze-Preis durch die Kommission der EWG, der Schwellenpreis durch Rechtsverordnung bestimmt werde, so daß diese Preise, aus denen sich die Höhe der Abschöpfung ergebe, festlägen und die Ermittlung der Abschöpfungssätze daher nur eine rein rechnerische Aufgabe sei. Ferner hat der erkennende Senat in seinem Grundsatzurteil VII 188/57 S vom 26. März 1963 (BStBl 1963 III S. 282, Slg. Bd. 76 S. 771) entschieden, daß der Branntweinaufschlag eine Steuer im Sinne der AO sei und daß es mit rechtsstaatlichen Grundsätzen vereinbar sei, daß seine Höhe durch den von der Monopolverwaltung festgesetzten regelmäßigen Verkaufspreis bestimmt und bei dessen Minderung in Form eines Abschlags durch allgemeinen Verwaltungsakt der Monopolverwaltung festgesetzt werde. Der Senat hat es demnach, soweit es ausnahmsweise das Wesen der Abgabe bedingt, für zulässig erachtet, daß die Höhe der Abgabe nicht im Gesetz festgelegt ist, sondern sich auf Grund von Verwaltungsakten ergibt.
Die Vorinstanz sah sich also, als sie über die Rechtmäßigkeit der die Aussetzung der Vollziehung ablehnenden Ermessensentscheidung der Verwaltung zu urteilen hatte, vor der Lage, feststellen zu müssen, daß die von ihr erhobenen verfassungsrechtlichen Bedenken von anderen mit der Frage befaßten Gerichten nicht erhoben worden waren und auch im Schrifttum keine wesentliche Unterstützung gefunden hatten und daß sie damit eine vereinzelte Meinung, d. h. die der Vorinstanz darstellten, im übrigen aber beachtliche Gründe zugunsten der Verfassungsmäßigkeit der streitigen Normen vorgebracht worden waren. Bei dieser Sachlage durfte das Finanzgericht für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Verwaltungsentscheidung unter dem Gesichtspunkt der Ermessensnachprüfung sich nicht allein von seiner eigenen Auffassung über die verfassungsrechtlichen Fragen leiten lassen, sondern hätte zu dem Ergebnis kommen müssen, daß die Verwaltung bei dieser Situation nicht gezwungen war, im Sinne einer allein möglichen Entscheidung die Vollziehung auszusetzen. Dabei hätte das Finanzgericht überdies berücksichtigen müssen, daß, wie bereits unter I, 3. ausgeführt, gerade bei der Aussetzung der Vollziehung von Abschöpfungsbescheiden kein berechtigtes Interesse des Abgabenschuldners gegenüber der alsbaldigen Vollziehung der Abgabenbescheide anzuerkennen ist, da die Ablehnung der Aussetzung der Vollziehung sich in diesem Fall, soweit nicht andere Gründe vorliegen, nicht als unbillig erweist. Insoweit liegt auch ein wesentlicher Unterschied hinsichtlich des Sachverhalts im Streitfall gegenüber dem durch das oben erwähnte Urteil des Bundesfinanzhofs III 187/52 S vom 10. September 1954 entschiedenen Fall vor, bei dem daher die die Entscheidung des Streitfalls wesentlich bestimmende Problematik nicht auftreten konnte.
Nach dem Vorstehenden bestand kein Anlaß, auf die von der Bgin. und der Finanzverwaltung vorgebrachten Einzelheiten hinsichtlich der Rechtsnatur der Abschöpfung und der damit zusammenhängenden verfassungsrechtlichen Fragen näher einzugehen.
Im Ergebnis gelten die obigen Ausführungen auch für die Frage der Aussetzung der Vollziehung des Abgabenbescheids, soweit mit ihm Umsatzausgleichsteuer gefordert wird.
Demnach hat die Vorinstanz zu Unrecht die Beschwerdeentscheidung und die eine Aussetzung ablehnende Verfügung des Zollamts aufgehoben und die Sache zurückverwiesen. Demgemäß war die Vorentscheidung aufzuheben und die Berufung der Bgin. gegen die Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion als unbegründet zurückzuweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 411866 |
BStBl III 1966, 79 |
BFHE 1966, 219 |
BFHE 84, 219 |