Leitsatz (amtlich)
Die Pflicht des Abwicklers einer GmbH, nach Auflösung der Gesellschaft dafür zu sorgen, daß Mittel zur Bezahlung der Steuerschulden zurückgehalten und die Steuerschulden bezahlt werden (§ 106 AO), schließt die Pflicht ein, die handelsrechtlichen Vorschriften über das Sperrjahr (§ 73 GmbHG) zu beachten.
Normenkette
AO §§ 103, 106, 109; GmbHG § 73
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) war alleiniger Gesellschafter und Geschäftsführer einer GmbH. Diese wurde durch Gesellschafterbeschluß vom 11. April 1958 aufgelöst und am 9. Juli 1959 im Handelsregister gelöscht. Der Kläger war Abwickler. Nach seiner Darstellung und nach der Darstellung der GmbH war die Abwicklung bereits am 30. Juni 1958 durch Verteilung des Vermögens der Gesellschaft beendet.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das FA) veranlagte die GmbH durch vorläufigen Bescheid (§ 100 Abs. 1 und 2 AO) vom 14. Mai 1957 zur Körperschaftsteuer 1955. Durch weiteren vorläufigen Bescheid (§ 100 Abs. 2 AO) vom 7. April 1960 veranlagte das FA die GmbH zur Körperschaftsteuer 1958 bis 1959 und zur Gewerbesteuer 1958. In der folgenden Zeit stellte das FA Ermittlungen über den Wert von zwei Grundstücken an, die die GmbH in den Jahren 1955 und 1958 an den Kläger verkauft hatte. Am 2. Mai 1966 erließ es einen endgültigen Körperschaftsteuerbescheid 1955, einen endgültigen Körperschaftsteuerbescheid 1958/1959 und einen endgültigen Gewerbesteuerbescheid 1958. Im Körperschaftsteuerbescheid 1955 berücksichtigte das FA eine verdeckte Gewinnausschüttung von 41 048 DM als Unterschied zwischen dem Verkehrswert und dem Kaufpreis des im Jahre 1955 verkauften Grundstücks, im Körperschaftsteuerbescheid 1958/1959 und im Gewerbesteuerbescheid 1958 berücksichtigte das FA eine verdeckte Gewinnausschüttung von 117 657 DM als Unterschied zwischen dem Verkehrswert und dem Kaufpreis des im Jahre 1958 verkauften Grundstücks.
Gegen diese Bescheide legte der Kläger Einsprüche ein, weil die GmbH erloschen sei und kein Vermögen mehr besitze. Daraufhin erließ das FA gegen den Kläger einen Haftungsbescheid nach §§ 103, 106, 109 AO über 66 700,20 DM, weil der Kläger Vermögen der GmbH verteilt habe, ohne zuvor die dem Grunde nach entstandenen, der Höhe nach aber noch nicht festgesetzten Steuern bezahlt zu haben, obwohl er Kenntnis von den abweichenden Auffassungen über den Wert der beiden Grundstücke gehabt habe. Die Haftungssumme errechnet sich als Unterschied zwischen den Steuern nach den vorläufigen Bescheiden und den Steuern nach den endgültigen Bescheiden abzüglich bestimmter Beträge.
Die Einsprüche und die Klage blieben ohne Erfolg.
Das FG hat ausgeführt, die mit dem Haftungsbescheid angeforderten Steuern seien noch nicht verjährt. Der Kläger habe gegen § 73 Abs. 1 GmbHG verstoßen, als er das Vermögen der Gesellschaft verteilt habe. Durch ein Schreiben des FA vom 9. Mai 1957 an die GmbH, von dessen Inhalt der Kläger als deren Geschäftsführer Kenntnis erlangt habe, habe der Kläger erfahren, daß das FA Bedenken gegen die Angemessenheit des Kaufpreises des im Jahre 1955 verkauften Grundstücks gehabt habe.
Aus den vorliegenden Steuerakten könne nichts dafür entnommen werden, daß das FA auf die streitigen Steuerforderungen habe verzichten wollen und daß die Steueransprüche zur Zeit des Ergehens des Haftungsbescheids verwirkt gewesen seien.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Klägers, mit der gerügt wird:
a) Das angefochtene Urteil leide unter dem Verfahrensmangel der unvollständigen Sachaufklärung und des Verstoßes gegen den Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs. Das FG habe sich darauf gestützt, daß die GmbH ein Schreiben des FA vom 9. Mai 1957 erhalten habe. Dieses Schreiben sei aber bei der GmbH nicht eingegangen. Er, der Kläger, habe erst durch die Urteilsbegründung von diesem Schreiben Kenntnis erlangt.
b) Das angefochtene Urteil verletze Bundesrecht insoweit, als der Grundsatz der Rechtsverwirkung nicht hinreichend gewürdigt und ein erhebliches Mitverschulden des FA unberücksichtigt geblieben sei.
c) Das FG sei nicht auf die Einwendungen eingegangen, die er, der Kläger, gegen die sachliche Richtigkeit des Haftungsbescheids vorgetragen habe. Das FA habe die Verkehrswerte der beiden Grundstücke falsch ermittelt.
Der Kläger beantragt, das Urteil des FG und die angefochtenen Haftungsbescheide ersatzlos aufzuheben.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.
1. Die Rüge der unvollständigen Sachaufklärung ist begründet (§ 76 FGO). Das FG hat sich in den Gründen seiner Entscheidung auf ein Schreiben des FA vom 9. Mai 1957 gestützt, ohne zu prüfen, ob der Kläger dieses Schreiben erhalten hat. Das FA hat in der Revisionsbegründung zugegeben, daß dieses Schreiben an ein anderes FA gerichtet gewesen sei, der Kläger habe auch keine Abschrift erhalten. Damit bestätigt das FA das Vorbringen des Klägers, das Schreiben vom 9. Mai 1957 sei bei ihm nicht eingegangen.
2. Die übrigen tatsächlichen Feststellungen des FG reichen nicht aus, um zu entscheiden, ob der Kläger wegen schuldhafter Verletzung seiner Pflichten für die Steuerschulden der GmbH nach den endgültigen Bescheiden vom 2. Mai 1966 haftet. Der Kläger durfte Vermögen der GmbH nicht verteilen vor Tilgung oder Sicherstellung der Steuerschulden und nicht vor Ablauf eines Jahres seit dem Tage, an welchem die Aufforderung an die Gläubiger in den öffentlichen Blättern zum dritten Male erfolgt war (§ 73 Abs. 1, § 65 Abs. 2 GmbHG). Ein Verstoß gegen dieses Verbot führt zur Haftung nach § 109 AO. Denn die Pflicht, nach Auflösung der GmbH dafür zu sorgen, daß Mittel zur Bezahlung der Steuerschulden zurückgehalten und die Steuerschulden bezahlt werden (§ 106 AO), schließt die Pflicht ein, die handelsrechtlichen Vorschriften zu beachten, die im Interesse der Gläubiger der aufgelösten Gesellschaft erlassen sind.
Der Kläger hat nach seinen eigenen Angaben das Vermögen der GmbH bis zum 30. Juni 1958 und damit innerhalb des Sperrjahres verteilt. Er haftet nach § 109 AO, soweit durch die schuldhafte Verletzung seiner Pflicht zur Einhaltung des Sperrjahres Steueransprüche verkürzt wurden. Die Haftung erstreckt sich auch auf die Steuerschulden, die nach Auflösung, aber vor Löschung der GmbH im Handelsregister entstanden sind (Urteil des BFH vom 16. Juni 1971 I R 58/68, BFHE 102, 227, BStBl II 1971, 614), somit auf die Körperschaftsteuer 1955, die Gewerbesteuer 1958 und die Körperschaftsteuer für den Zeitraum vom 1. Januar 1958 bis 9. Juli 1959 (§ 3 Abs. 5 Nr. 1 c, 3 StAnpG, § 14 KStG). Der Kläger hat - das Bestehen der Steuerforderungen nach den Bescheiden vom 2. Mai 1966 einmal unterstellt - durch die Verteilung des Vermögens der GmbH innerhalb des Sperrjahres Steueransprüche dann schuldhaft verkürzt, wenn ihm noch vor Ablauf des Sperrjahres, dessen Beginn und Ende das FG noch genau feststellen wird, bekannt war oder bekannt sein mußte, daß mit höheren Steuern der GmbH zu rechnen sei, als sie im vorläufigen Bescheid vom 14. Mai 1957 festgesetzt waren und später im vorläufigen Bescheid vom 7. April 1960 festgesetzt wurden. Denn bei Beachtung des Sperrjahres wäre es möglich gewesen, die zur Bezahlung der Steuern notwendigen Beträge zurückzubehalten (§ 73 Abs. 1, 2 GmbHG, §§ 103, 106, 109 AO).
Da dem Kläger das Schreiben des FA vom 9. Mai 1957 nicht bekannt war, wird das FG prüfen, ob der Kläger aus anderen Umständen schließen mußte, daß mit höheren Steuern wegen der Berücksichtigung verdeckter Gewinnausschüttungen durch den Verkauf der beiden Grundstücke zu rechnen war. Die Tatsache, daß der ursprüngliche Bescheid vom 14. Mai 1957 vorläufig erging, reicht dazu für sich allein nicht aus.
Hat der Kläger auch noch nach dem Ablauf des Sperrjahres bis zur Löschung der GmbH Vermögen der Gesellschaft verteilt, so hat er dadurch schuldhaft Steueransprüche verkürzt, wenn ihm im Zeitpunkt der Verteilung bekannt war oder bekannt sein mußte, daß mit höheren Steuern zu rechnen war (§§ 103, 106, 109 AO). Auch diese Frage wird das FG noch untersuchen.
3. Das FG muß schließlich prüfen, ob die Steueransprüche gegen die GmbH, die dem angefochtenen Haftungsbescheid zugrunde gelegt wurden, zu Recht bestanden, insbesondere, ob das FA verdeckte Gewinnausschüttungen wegen der Veräußerungen der beiden Grundstücke hinzurechnen durfte. Denn über das Bestehen der Steuerschulden, für die der Kläger haften soll, ist - wie das FG selbst zutreffend bemerkt hat - im Rechtsstreit über die Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheids zu entscheiden.
Fundstellen
Haufe-Index 70407 |
BStBl II 1973, 465 |
BFHE 1973, 482 |