Entscheidungsstichwort (Thema)
Einkommensteuer/Lohnsteuer/Kirchensteuer Handelsrecht Gesellschaftsrecht Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Das Recht des Steuerpflichtigen auf Veranlagung zum Zwecke der Erstattung von Vorauszahlungen unterliegt nicht der Verjährung.
Die Finanzgerichte sind nicht befugt, diese Veranlagung anstelle des dafür zuständigen Finanzamts durchzuführen.
Normenkette
EStG § 47 Abs. 3; AO §§ 143, 243-244
Tatbestand
Der Beschwerdegegner (Bg.) betreibt seit dem Jahre 1953 bei den nunmehr für ihn zuständigen Wohnsitzfinanzamt seine Einkommensteuerveranlagung für den Veranlagungszeitraum 1944, um auf diese Weise die Voraussetzungen im Sinne der §§ 47 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG), 150, 153 der Reichsabgabenordnung (AO) für eine Erstattung von Einkommensteuervorauszahlungen 1944 zu schaffen, die er - nach seinen Angaben in Höhe von 255.693 RM - im Jahre 1944 an das damals für ihn zuständige Wohnsitzfinanzamt in Ostpreußen geleistet hat. Das Finanzamt hat bisher die Durchführung der begehrten Veranlagung abgelehnt.
Der in X. wohnhafte Bg. ist an dem Tiefbauunternehmen A. & B. KG beteiligt, dessen Sitz bis 1946 Berlin war und jetzt - soweit aus den Akten ersichtlich - Y. ist. Der wirtschaftliche Schwerpunkt der Gesellschaft, die bis zum Zusammenbruch Niederlassungen in M., N., O. und P. unterhielt, befand sich bis dahin in Ostpreußen, wo auch der Bg. bis zu seiner Flucht Anfang 1945 wohnte. Mitte 1945 gelangte er auf dem Wege über Dresden, wohin er sich zunächst begeben hatte, nach Westdeutschland und begründete in diesem Teil Deutschlands seinen Wohnsitz. Der Bg. hat wiederholt Darlegungen über die wirtschaftliche Lage der Gesellschaft in den Jahren 1943 und 1944 gemacht. Danach ergab sich für 1943 auf Grund einer dem Finanzamt Berlin Z. eingereichten die Gesellschaft betreffenden Gewinnerklärung ein etwa dem Jahre 1942 entsprechender Gewinn von insgesamt 748.838,42 RM, wovon auf den Bg. 443.037,76 RM entfielen, so daß danach - wie der Bg. weiter ausführt - die für den Veranlagungszeitraum 1944 behauptete Vorauszahlung ihrer Höhe nach glaubhaft sei. Für 1944 habe sich - ebenfalls nach seinen Darlegungen - bei allen Niederlassungen infolge der militärischen Entwicklung ein derartiger Umsatzrückgang ergeben, daß nur Verluste zu verzeichnen gewesen seien. Ein Bilanzentwurf für die Niederlassungen O. und P. weise Verluste von 22.241,86 RM bzw. 58.800,38 RM aus. Die Zweigniederlassung N. habe seit jeher schon ungünstiger als die anderen Niederlassungen gearbeitet. In Ostpreußen dürfte selbst bei Aktivierung der Kriegsschädenansprüche kein Gewinn mehr entstanden sein.
Auf die - nach erfolglosem Einspruch gegen den ablehnenden Bescheid des Finanzamts vom 20. März 1956 - eingelegte Berufung hat das Finanzgericht den Bescheid des Finanzamts sowie seine Einspruchsentscheidung aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Finanzamt zurückverwiesen. Es führt aus:
Nach der Entscheidung des Bundesfinanzhofs IV 439/51 S vom 21. Februar 1952 (BStBl 1952 III S. 128, Slg. Bd. 56 S. 324) dürfe den aus den Gebieten östlich der Oder-Neiße-Linie vertriebenen Steuerpflichtigen eine Veranlagung und gegebenenfalls die Erstattung der an die Finanzämter der ehemaligen Reichsfinanzverwaltung geleisteten Vorauszahlungen nicht mit der Begründung abgelehnt werden, daß es sich um Veranlagungszeiträume aus der Zeit vor dem Zuzug in ein Land der Bundesrepublik Deutschland handle, wobei es auch unerheblich sei, ob der Zwang vor oder nach dem 8. Mai 1945 erfolgt sei. Nach § 1 der Verordnung über die Anrechnung und Erstattung von Reichsmark-Steuerzahlungen habe die Erstattung der überzahlten Beträge im Verhältnis 10 RM = 1 DM zu erfolgen (WiGBl 1949 S. 27). Die Auffassung des Finanzamts, eine Veranlagung zur Einkommensteuer 1944 könne infolge Zeitablaufs nicht mehr durchgeführt werden, erscheine bedenklich. Die Ausschlußfrist des § 153 AO scheide aus, da sie sich nur auf die Geltendmachung eines bereits nach § 47 Abs. 3 EStG entstandenen Erstattungsanspruchs beziehe; ein Erstattungsanspruch könne aber vom Bg. erst geltend gemacht werden, wenn durch die von ihm für 1944 betriebene Veranlagung klargestellt sei, daß er für dieses Jahr zu hohe und damit nach § 47 Abs. 3 EStG zu erstattende Vorauszahlungen geleistet habe. Aus den §§ 143 ff. AO sei nicht zu entnehmen, daß das Recht des Bg. auf Veranlagung der Verjährung unterliege. Ein Anspruch des Bg. auf Veranlagung könne insbesondere dann bestehen, wenn er für frühere Jahre veranlagt worden sei, seine weitere Veranlagung für 1944 aber infolge der Kriegsereignisse und der Nachkriegsereignisse unterblieben sei, obwohl er Vorauszahlungen für diesen Veranlagungszeitraum geleistet habe. Eine Ablehnung der Veranlagung könne auch gegen Treu und Glauben verstoßen, zumal das Finanzamt selbst darauf hingewiesen habe, daß die Durchführung der Veranlagung Voraussetzung für eine Erstattung sei. Der Bg. habe auch das Recht auf Veranlagung nicht verwirkt, da er weder ausdrücklich noch durch sein Verhalten darauf verzichtet habe. Er habe vielmehr ausdrücklich um Prüfung gebeten, ob und in welcher Weise eine Veranlagung für 1944 durchgeführt werden könne. Damit nunmehr das Finanzamt entscheiden könne, ob eine Veranlagung für 1944 vorzunehmen sei, erscheine es zweckmäßig, die Sache zur Ersparung von Arbeit, Kosten und Zeit nach § 284 Abs. 1 AO an das Finanzamt zurückzuverweisen.
Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde (Rb.) des Vorstehers des Finanzamts. Er macht geltend: In § 1 des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes vom 5. November 1957 (BStBl 1957 I S. 1747 ff.) sei bestimmt, daß Ansprüche gegen das Deutsche Reich erlöschen, soweit nichts anderes bestimmt sei. Da für Reichsmark-Steuerüberzahlungen an ein Finanzamt außerhalb des Währungsgebiets-West eine Sonderregelung nicht erfolgt sei, seien Ansprüche auf Erstattung von Steuerzahlungen dieser Art erloschen. Unbestritten habe der Bg. weder im Kalenderjahr 1944 noch für diesen Veranlagungszeitraum Einkommensteuervorauszahlungen an ein Finanzamt des Währungsgebiets-West geleistet. Es bedürfe deshalb auch nicht mehr der Durchführung einer Einkommensteuerveranlagung 1944 als Voraussetzung für eine Erstattung, weil auch bei Feststellung einer überzahlung nach dem gegenwärtigen Stand der Gesetzgebung eine Rückzahlung nicht in Betracht komme. Abgesehen hiervon sei das Finanzgericht, wie sich aus der Entscheidung des erkennenden Senats IV 27/58 U vom 11. März 1958 (BStBl 1958 III S. 212, Slg. Bd. 66 S. 556) ergebe, auch nicht zur Zurückverweisung berechtigt gewesen, da es bei entsprechender Mitwirkung des Bg. ebenso wie das Finanzamt zur Feststellung des Steueranspruchs für den Veranlagungszeitraum 1944 und eines sich danach etwa ergebenden Erstattungsanspruchs in der Lage sei.
Entscheidungsgründe
Die Rb. ist nicht begründet.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats hat der Bg. nach den §§ 47 Abs. 3 EStG, 150 und 1953 AO an das für ihn zuständige Wohnsitzfinanzamt einen Anspruch auf Erstattung der von ihm behaupteten Einkommensteuervorauszahlungen im Verhältnis 10 RM = 1 DM, wenn er diese Vorauszahlungen tatsächlich in der von ihm geltend gemachten Höhe geleistet hat und wenn weiter festgestellt wird, daß ihnen kein entsprechender Steueranspruch gegenübersteht (Urteile des Bundesfinanzhofs IV 439/51 S vom 21. Februar 1952, a. a. O.; IV 36/58 U vom 12. Juni 1958, BStBl 1958 III S. 354, Slg. Bd. 67 S. 212). Nach der letztgenannten Entscheidung steht einem etwaigen Erstattungsanspruch des Bg. - entgegen der vom Finanzamt vertretenen Auffassung - auch nicht die im Allgemeinen Kriegsfolgengesetz vom 5. November 1957 (a. a. O.) getroffene Regelung entgegen, weil nach § 1 Abs. 2 dieses Gesetzes solche Ansprüche unberührt bleiben, für die schon vor seinem Inkrafttreten eine Rechtsgrundlage gegeben war. Bei der Erstattung nach § 47 Abs. 3 EStG handelt es sich um eine ausschließlich nach den Vorschriften des Steuerrechts zu entscheidende Steuersache.
Um feststellen zu können, ob eine Steuerüberzahlung des Bg. in Höhe der von ihm geltend gemachten und darzutuenden Vorauszahlungen in Betracht kommt, muß er für 1944 zur Einkommensteuer veranlagt werden. Darauf hat er ein Recht. Gegen seine Versagung steht ihm in entsprechender Anwendung des § 235 Ziff. 1 AO das Berufungsverfahren im Sinne der §§ 228, 229 AO offen (vgl. auch Urteil des Bundesfinanzhofs IV 353/52 U vom 10. Dezember 1953, BStBl 1954 III S. 107, Slg. Bd. 58 S. 510). Das Recht des Bg. auf Veranlagung ist auch nicht durch Zeitablauf erloschen. Die Ausschlußfrist des § 153 AO scheidet aus, weil es sich hier zunächst nicht um den Erstattungsanspruch als solchen im Sinne der genannten Vorschrift, sondern um die Schaffung seiner Voraussetzung durch Herbeiführung der Einkommensteuerveranlagung 1944 handelt. Verjährung scheidet ebenfalls aus, da nach § 143 AO grundsätzlich nur die Ansprüche des Steuerberechtigten der Verjährung unterliegen und ein gesetzlich geregelter Ausnahmefall - wie z. B. im Falle des § 222 Abs. 1 Ziff. 4 AO - hier nicht vorliegt. Schließlich scheidet auch der Gesichtspunkt der Verwirkung aus. Der Bg. hat - wie die Vorentscheidung zutreffend ausführt - nichts getan, was etwa vom Finanzamt zwangsläufig im Sinne eines Verzichts zu deuten wäre (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs II 221/56 U vom 11. Juni 1958, BStBl 1958 III S. 352, Slg. Bd. 67 S. 208). Er hat im Gegenteil die Rückzahlung der Vorauszahlungen ständig und nachhaltig betrieben, sobald er Kenntnis von der Rechtslage erhalten hatte. Daß er seiner sonstigen Mitwirkungspflicht bisher noch nicht in der erforderlichen Weise nachgekommen ist, liegt an der bisher grundsätzlich ablehnenden Haltung der Behörde und nicht etwa an seiner Weigerung, an der Sachaufklärung mitzuwirken.
Die Rb. ist auch insoweit unbegründet, als sie die Zurückverweisung der Sache an das Finanzamt beanstandet. Nach den §§ 204 ff. AO sind für die Durchführung der Veranlagung ausschließlich die Finanzämter sachlich zuständig. Nach § 210 Abs. 1 AO erläßt das Finanzamt nach Abschluß seiner Ermittlungen den Steuerbescheid. Die Finanzgerichte haben auf Anruf den Steuerbescheid auf seine Rechtmäßigkeit nachzuprüfen und sind nach den §§ 243, 244 AO auch befugt, ihn in Fortsetzung des vom Finanzamt durchzuführenden und durchgeführten Veranlagungsverfahrens zu ändern und demgemäß auch die Steuer anderweit festzusetzen. Sie sind aber nicht befugt, von vornherein die sachliche Zuständigkeit des Finanzamts an sich zu ziehen und in dessen Befugnisse einzutreten. Etwas anderes ist weder dem § 244 AO noch der vom Finanzamt angeführten Entscheidung des Senats IV 27/58 U zu entnehmen. Hiernach wird das Finanzamt - aus Gründen steuerlicher Gerechtigkeit nunmehr beschleunigt - unter entsprechender Mitwirkung des Bg. die Einkommensteuerveranlagung 1944 durchzuführen haben. Zu diesem Zweck wird es sich mit dem nach § 72 AO als Betriebsfinanzamt in Betracht kommenden Finanzamt wegen der von diesem gemäß § 215 AO einheitlich und gesondert zu treffenden Feststellung des Gewinns der Gesellschaft in Verbindung zu setzen haben. Dabei werden gegebenenfalls die Besteuerungsgrundlagen, soweit sie sich nicht mehr im einzelnen rechnerisch genau ermitteln lassen, nach § 217 AO zu schätzen sein.
Fundstellen
Haufe-Index 409395 |
BStBl III 1959, 367 |
BFHE 1960, 279 |
BFHE 69, 279 |