Leitsatz (amtlich)
Die durch die Schwellenpreisverordnung vom 2. November 1971 für 1962 rückwirkend festgesetzten Schwellenpreise für Mais sind gültig.
Normenkette
EWGV 10/62; Schwellenpreisverordnung vom 2. November 1971
Tatbestand
Die Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel (EVSt) als Rechtsvorgängerin der Beklagten und Revisionsbeklagten, der Bundesanstalt für landwirtschaftliche Marktordnung (BALM), erteilte der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) in der Zeit vom 7. August bis 17. Dezember 1962 mehrere Einfuhrlizenzen für die Einfuhr von Mais aus Drittländern und setzte den bei der Einfuhr zu erhebenden Abschöpfungssatz jeweils im voraus lest. Mit der Klage beantragte die Klägerin, die EVSt zu verurteilen, die Abschöpfung in den genannten Lizenzen um 5,50 DM/t zu ermäßigen. Zur Begründung trug sie vor, die Verordnung zur Änderung der Schwellenpreise für Getreide für die Monate Juli bis Dezember 1962 vom 2. November 1971 (Bundesanzeiger – BAnz – Nr. 209 vom 9. November 1971) sei insoweit nichtig, als in ihr der Schwellenpreis für Mais um 5,50 DM/t höher festgesetzt worden sei als der für Gerste. Dies folge aus dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG-Vertrag – EWGV –) sowie dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Auf Vorlage des Finanzgerichts (FG) entschied der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EGH) mit Urteil vom 5. Dezember 1973 Rs. 119/73 (EGHE 1973, 1369). Art. 8 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 19/62 – (VO Nr. 19/62) – des Rates über die schrittweise Errichtung einer gemeinsamen Marktorganisation für Getreide vom 4. April 1962 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften – ABlEG – 1962, 933, Bundeszollblatt 1962 S. 618 – BZBl 1962, 618 –) sei dahin auszulegen, daß die Mitgliedstaaten ohne nennenswerte Maiserzeugung bei der Festsetzung des Schwellenpreises für Mais die Besonderheiten der verschiedenen in Betracht kommenden Getreidearten nicht berücksichtigen durften, soweit die Berücksichtigung dieser Besonderheiten den Schwellenpreis für Mais so beeinflußt hätte, daß der Richtpreis für Gerste nicht hätte erreicht werden können.
Das FG wies die Klage als nicht begründet ab.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet.
Nach Art. 10 Abs. 2 der VO Nr. 19/62 entspricht der Abschöpfungsbetrag gegenüber Drittländern dem Unterschied zwischen dem unter Zugrundelegung der günstigsten Einkaufsmöglichkeit auf dem Weltmarkt ermittelten cif-Preis und dem vom einführenden Mitgliedstaat nach Art. 4 und 8 der VO Nr. 19/62 festgesetzten Schwellenpreis. Durch § 5 des Gesetzes zur Durchführung der Verordnung Nr. 19 (Getreide) des Rates der EWG vom 26. Juli 1962 – DurchfG EWG-Getr – wurde der Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (BML) ermächtigt, die Schwellenpreise für die der Marktordnung unterliegenden Erzeugnisse festzusetzen. Mit der Errechnung der Abschöpfungssätze beauftragte § 6 DurchfG EWG-Getr die EVSt (vgl. auch Art. 15 Abs. 1 der VO Nr. 19/62), die danach verpflichtet war, die Sätze durch Aushang bekanntzugeben. Wie zwischen den Beteiligten nicht streitig ist, entsprachen die in den Einfuhrlizenzen nach Art. 17 Abs. 2 Unterabsatz 1 der VO Nr. 19/62 vorausfixierten Abschöpfungssätze den von der EVSt errechneten Sätzen, die wiederum auf den durch die Verordnungen vom 30. Juli 1962 (BGBl I 1962, 473) und vom 2. November 1971 vom BML festgesetzten Schwellenpreisen beruhten.
Die Klägerin ist der Meinung, die Verordnung vom 2. November 1971 hätte die Schwellenpreise für Mais um 5,50 DM/t niedriger festsetzen müssen. Wäre das geschehen, so wäre auch der von der EVSt zu errechnende Abschöpfungssatz um diesen Betrag niedriger gewesen. Die Klägerin erstrebt also, so gestellt zu werden, als sei die Festsetzung des Schwellenpreises für Mais durch die Verordnung vom 2. November 1971 nicht nur ungültig gewesen, sondern als habe diese Verordnung einen anderen Inhalt gehabt. Sie begehrt also im Ergebnis, daß das Gericht eine Rechtsnorm anwendet, die als solche nicht besteht. Die Klägerin hat nicht dargestellt, auf welcher Rechtsgrundlage dies geschehen könnte. Die Frage kann jedoch dahingestellt bleiben, denn jedenfalls wäre Voraussetzung, daß die bestehende Regelung, auf der die Festsetzung der Abschöpfungssätze beruht, nicht gültig ist. Dieser Meinung ist die Klägerin offenbar mit der Begründung, die Festsetzung des Schwellenpreises für Mais durch die Verordnung vom 2. November 1971 verstoße gegen höherrangiges Recht, nämlich gegen das Recht des Grundgesetzes und gegen Gemeinschaftsrecht. Diese Auffassung trifft jedoch, wie das FG zu Recht entschieden hat, nicht zu.
Die Verordnung verletzt nicht den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Übermaß verbot). Dieser Grundsatz ergibt sich aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 GG) und hat Verfassungsrang (vgl. z. B. Beschluß des Bundesverfassungsgerichts – BVerfG – vom 5. März 1968 1 BvR 579/67, BVerfGE 23, 127, 133). Er besagt im wesentlichen, daß das gewählte Mittel und der gewählte Zweck in einem vernünftigen Verhältnis zueinander stehen müssen (vgl. das BVerfG-Urteil vom 29. Juli 1959 1 BvR 394/58, BVerfGE 10, 89, 117). Dabei ist aber zu berücksichtigen, daß es sich im vorliegenden Fall um eine wirtschaftsordnende Maßnahme handelt. Bei solchen Maßnahmen muß dem Gesetzgeber hinsichtlich der Auswahl und der technischen Gestaltung dieser Maßnahmen ein weiter Bereich des Ermessens zugestanden werden (vgl. BVerfG-Entscheidungen vom 18. Dezember 1968 1 BvL 5, 14/64, usw., BVerfGE 25, 1, 19. und vom 8. Februar 1977 1 BvF 1/76 usw., BVerfGE 43, 291, 347). Es ist nicht Sache des Gerichts, die vom Gesetzgeber gewählte Lösung auf ihre Zweckmäßigkeit zu prüfen oder zu untersuchen, ob sie vom Standpunkt einer beteiligten Interessentengruppe die gerechteste denkbare Lösung darstellt; es kann daher nur darauf ankommen zu prüfen, ob der Gesetzgeber gewisse äußerste Grenzen überschritten hat, ob also für die fragliche Regelung sachlich einleuchtende Gründe schlechterdings nicht mehr erkennbar sind (BVerfG-Entscheidungen vom 17. Dezember 1953 1 BvR 147/52, BVerfGE 3, 58, 135, und vom 16. Juni 1959 2 BvL 10/59, BVerfGE 9, 334, 337). Diese Grenzen hat der Verordnungsgeber im vorliegenden Fall bei der Festsetzung der Schwellenpreise für Mais nicht überschritten.
Es trifft nicht zu, daß für die Differenzierung bei den Schwellenpreisen und Abschöpfungssätzen für Mais einerseits und Gerste andererseits sachlich einleuchtende Gründe schlechterdings nicht erkennbar sind. Es handelt sich um zwei verschiedene Produkte. Der Verordnungsgeber konnte davon ausgehen, daß die Marktverhältnisse, insbesondere die Versorgungs- und Nachfragelage, für beide Erzeugnisse nicht unbedingt die gleichen waren (vgl. auch die Ausführungen des Generalanwalts im Vorabentscheidungsverfahren Rs. 119/73, EGHE 1973, 1381, 1383). Eine Differenzierung erscheint also sachlich nicht ungerechtfertigt. Jedenfalls kann nicht die Rede davon sein, daß die für Mais festgesetzten Schwellenpreise in einem offenbaren krassen Mißverhältnis zu dem mit der Verordnung zu erzielenden Erfolg standen (vgl. auch Maunz/Dürig/Herzog, Grundgesetz, Art. 20 Anm. 115 Fußnote 2, Lieferung vom 1. September 1960).
Der Umstand allein, daß bei den Schwellenpreisfestsetzungen der folgenden Jahre der Verordnungsgeber nicht mehr entsprechende Unterschiede gemacht hat, belegt noch nicht das Gegenteil. Denn naturgemäß muß der Normgeber bei seiner Entscheidung von der Beurteilung der zur Zeit des Erlasses der Rechtsnorm bestehenden Verhältnisse ausgehen. Da die Entwicklung sich nicht genau vorausberechnen läßt und aus den verschiedensten Gründen der erwartete Geschehensablauf eine unvorhergesehene Wendung nehmen kann, müssen etwaige Irrtümer über den Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung in Kauf genommen werden. Eine Rechtsnorm kann nicht schon deshalb als verfassungswidrig angesehen werden, weil sie etwa auf einer Fehlprognose beruht (vgl. BVerfG-Entscheidungen vom 27. Januar 1965 1 BvR 213, 715/58 und 66/60, BVerfGE 18, 316, 330, und vom 9. März 1971 2 BvR 326, 327, 341–345/69, BVerfGE 30, 250, 263).
Die Verordnung verstößt auch nicht gegen Gemeinschaftsrecht. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist zwar auch der Gemeinschaftsrechtsordnung eigen (vgl. EGH-Urteile vom 5. Juli 1977 Rs. 119 und 120/76, EGHE 1977, 1269, 1286, und vom 20. Februar 1979 Rs. 122/78 – noch nicht veröffentlicht –; Pescatore, Bestand und Bedeutung der Grundrechte im Recht der Europäischen Gemeinschaften, Europarecht 1979, S. 1, 3). Er ist aber aus den oben dargelegten Gründen nicht als verletzt anzusehen.
Der Normgeber hat entgegen der Auffassung der Revision auch nicht gegen Art. 39 Abs. 1 Buchst. b, c und e, 40 EWGV verstoßen, indem er den Schwellenpreis für Mais um 5,50 DM/t höher als für Gerste festgesetzt hat. Nach Art. 39 Abs. 1 Buchst. e EWGV ist Ziel der gemeinsamen Agrarpolitik, für die Belieferung der Verbraucher zu angemessenen Preisen Sorge zu tragen. Diese Vorschrift ist nicht als verletzt anzusehen. Denn bei der Ausfüllung dieser Vorschrift steht dem Verordnungsgeber auch nach Gemeinschaftsrecht aus den gleichen Gründen ein weiterer Ermessensspielraum zu, die in der oben zitierten Rechtsprechung des BVerfG für die weitgehende Ermessensfreiheit des nationalen Gesetzgebers geltend gemacht worden sind (vgl. die Rechtsprechung des EGH zum analogen Problem der Festsetzung von Währungsausgleichsbeträgen durch die Kommission, wonach diese, da es sich um die Beurteilung eines komplexen wirtschaftlichen Sachverhalts handelt, über einen weiten Ermessensspielraum verfügt, dessen Einhaltung gerichtlich nur daraufhin überprüfbar ist, ob der Behörde kein offensichtlicher Irrtum oder Ermessensmißbrauch unterlaufen ist oder ob sie die Grenzen ihres Ermessensspielraums nicht offensichtlich überschritten hat; vgl. z. B. EGH-Urteil vom 20. Oktober 1977 Rs. 29/77, EGHE 1977, 1835).
Fundstellen
Haufe-Index 510555 |
BFHE 1979, 560 |