Leitsatz (amtlich)
Ergibt eine Betriebsprüfung für einen Steuerabschnitt neue Tatsachen zugunsten des Steuerpflichtigen, durch die sich der bisherige Gewerbeverlust noch erhöht, so rechtfertigen diese neuen Tatsachen auch die Berichtigung der Veranlagung für den späteren Steuerabschnitt, in dem der Fehlbetrag nach § 10a GewStG anzurechnen ist.
Normenkette
AO § 222 Abs. 1 Nr. 2
Tatbestand
Die Revisionsklägerin (Steuerpflichtige) erlitt in den Jahren 1953 bis 1955 erhebliche Gewerbeverluste (Fehlbeträge im Sinne des § 10a GewStG). Durch deren Anrechnung wurden die Gewerbeerträge der Erhebungszeiträume 1956 bis 1958 voll und der Gewerbeertrag des strittigen Erhebungszeitraums 1959 zum Teil ausgeglichen. Bei der Ermittlung der Fehlbeträge waren die Gehälter der wesentlich Beteiligten nach § 8 Nr. 6 GewStG a. F. vom Verlust abgezogen bzw. dem Gewinn hinzugerechnet worden. Der Gewerbesteuermeßbescheid 1959 wurde bestandskräftig. Bei einer späteren Betriebsprüfung, die sich auf die Erhebungszeiträume 1954 bis 1959 erstreckte, ergaben sich für alle Besteuerungsabschnitte des Prüfungszeitraums neue Tatsachen zuungunsten der Steuerpflichtigen, die zu Verlustverminderungen oder Gewinnerhöhungen führten. Lediglich für den Erhebungszeitraum 1956 wurden auch einige Tatsachen zugunsten der Steuerpflichtigen festgestellt: Erstattungen von Soforthilfe- und Vermögensabgabe, die bei der Ermittlung des Gewerbeertrags nicht abgesetzt worden waren.
Auf Grund der Betriebsprüfung erging für die geprüften Erhebungszeiträume ein Sammelberichtigungsbescheid. Für die Erhebungszeiträume 1954 bis 1956 ergaben sich Fehlbeträge, die zusammen mit dem Fehlbetrag aus dem Erhebungszeitraum 1953 die Gewerbeerträge der Erhebungszeiträume 1957 und 1958 wieder auf 0 DM verminderten. Für den Erhebungszeitraum 1959 verblieb nach der Berechnung des Revisionsbeklagten (FA) noch ein Fehlbetrag aus den Vorjahren und nach dessen Anrechnung ein Gewerbeertrag, dem ein Steuermeßbetrag von 4 365 DM entsprach. Das FA setzte jedoch diesen Meßbetrag nicht fest, sondern behielt den im erstmaligen Bescheid ermittelten Meßbetrag von 11 950 DM bei, weil nach seiner Meinung dieser Betrag gemäß § 234 AO a. F. nicht unterschritten werden durfte.
Der Einspruch führte zu einer Herabsetzung des Meßbetrags auf 11 930 DM, weil der Einheitswert des zum Betriebsvermögen gehörenden Grundbesitzes erhöht worden war und sich deshalb ein höherer Kürzungsbetrag nach § 9 Nr. 1 GewStG errechnete. Die von der Steuerpflichtigen geforderte volle Anrechnung des noch verfügbaren Fehlbetrags lehnte das FA ab.
Das FG ermäßigte den Gewerbeertrag um den Betrag der Rückstellung für nachgeforderte Betriebssteuern und setzte entsprechend den Steuermeßbetrag nach dem Gewerbeertrag auf 11 390 DM fest. Im übrigen blieb die Klage ohne Erfolg. Zur Begründung hat das FG - soweit sie für das Revisionsvorbringen von Bedeutung ist - im wesentlichen ausgeführt, das FA habe für den Erhebungszeitraum 1959 keine neuen Tatsachen im Sinne des § 222 Abs. 1 Nr. 2 AO ermittelt. Das gelte auch für die Feststellung, daß bei der erstmaligen Ermittlung des Gewerbeertrags 1956 Erstattungen von Soforthilfe- und Vermögensabgabe unberücksichtigt geblieben seien. Diese Tatsache berühre zunächst das Jahr 1956 und den für diesen Erhebungszeitraum ergangenen Bescheid. Sie habe für diesen Erhebungszeitraum nur deshalb zu keiner Änderung des Meßbetrags nach dem Gewerbeertrag geführt, weil der bisherige Gewerbeertrag bereits negativ gewesen sei und sich der Fehlbetrag weiter erhöht habe; der Meßbetrag nach dem Gewerbeertrag sei nach wie vor mit 0 DM bestehen geblieben. Die Möglichkeit, gemäß § 10a GewStG Verluste vorangegangener Erhebungszeiträume anzurechnen, ändere nichts daran, daß es sich bei den die Verluste begründenden Umständen um Tatsachen handele, die in das Entstehungsjahr des Verlustes fielen und die sich nur mittelbar über den Verlustvortrag auf das spätere Gewinnjahr auswirkten. Daher könnten verlusterhöhende Umstände, die sich durch eine Betriebsprüfung nachträglich für ein vorausgegangenes Verlustjahr ergäben, nicht als selbständige neue Tatsachen des späteren Anrechnungsjahrs angesehen werden. Die Auswirkung einer neuen Tatsache könne nicht selbst noch einmal eine neue Tatsache darstellen.
Durch § 234 AO a. F. sei die Steuerpflichtige auch gehindert, für den Erhebungszeitraum 1959 den Abzug eines Gewerbeverlustes geltend zu machen, der sich daraus ergeben könnte, daß der Gewerbesteuermeßbescheid 1953 vorläufig ergangen und deshalb für dieses Jahr die Nichtigkeitserklärung aus § 8 Nr. 6 GewStG a. F. noch zu beachten sei.
Mit der Revision rügt die Steuerpflichtige unrichtige Auslegung der Vorschriften des § 234 AO a. F. und des § 222 Abs. 1 Nr. 2 AO. Sie beantragt, den Gewerbesteuermeßbetrag 1959 auf 4 365 DM festzusetzen. Sie vertritt die Auffassung, daß die Feststellung hinsichtlich der Erstattungen von Soforthilfe- und Vermögensabgabe im Jahr 1956 als selbständige neue Tatsache des Jahres 1959 anzusehen sei. Demgemäß hält sie ihren Anspruch auf uneingeschränkte Berichtigung der Veranlagung 1959 für gerechtfertigt. Sie stützt sich besonders darauf, daß der Fehlbetrag nicht schon bei der Veranlagung für das Entstehungsjahr, sondern erst bei der Veranlagung für das Anrechnungsjahr maßgeblich festgestellt wird. Die Höhe des Fehlbetrags gehöre deshalb zu den Besteuerungsgrundlagen auch des Anrechnungsjahrs. Folglich betreffe eine vom Betriebsprüfer getroffene Feststellung hinsichtlich der Höhe des Fehlbetrags das Anrechnungsjahr. Schließlich weist die Steuerpflichtige noch darauf hin, daß das FG die Anwendung des § 4 Abs. 3 Nr. 2 StAnpG nicht geprüft habe.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die Revision hat Erfolg.
Die Vorinstanz hat nicht verkannt, daß das Verbot des § 234 AO a. F. (§ 232 Abs. 1 AO n. F.), bei der Berichtigung eines früheren Steuerbescheids den ursprünglichen Steuerbetrag zu unterschreiten, nicht gilt, wenn sich die Berichtigungsveranlagung auf § 222 Abs. 1 Nr. 2 AO stützt, d. h. wenn durch eine Betriebsprüfung neue Tatsachen festgestellt worden sind, die eine gegenüber der bisherigen niedrigere Veranlagung rechtfertigen. In der Regel ist der gesamte Steuerfall neu aufzurollen, und Fehler, die in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht bei der erstmaligen Veranlagung unterliefen, sind zu beheben. Das gilt auch für Sachverhalte, die mit den neu festgestellten Tatsachen in keinem Zusammenhang stehen. (Vgl. z. B. Urteile des BFH I 248/60 U vom 21. August 1962, BFH 75, 643, BStBl III 1962, 501, und V 275/60 U vom 23. Juli 1964, BFH 80, 185, BStBl III 1964, 540).
Die Ansicht der Vorinstanz, im Streitfall habe die Betriebsprüfung für den Erhebungszeitraum 1959 keine neuen Tatsachen zugunsten der Steuerpflichtigen im Sinne des § 222 Abs. 1 Nr. 2 AO ergeben, kann jedoch nicht gebilligt werden. Die Auffassung der Vorinstanz trifft zwar zu hinsichtlich der Erhöhung des Kürzungsbetrags nach § 9 Nr. 1 GewStG als Folgeänderung nach § 218 Abs. 4 AO auf Grund der Erhöhung des Einheitswerts für die Betriebsgrundstücke und hinsichtlich der Rückstellung für nachgeforderte Betriebssteuern (Urteil des BFH I 248/60 U, a. a. O.). Es ist der Vorinstanz auch darin beizutreten, daß die Erstattungen von Soforthilfe- und Vermögensabgaben, die im Jahr 1956 erfolgt und bei den erstmaligen Veranlagungen dem FA nicht bekanntgeworden und von ihm nicht berücksichtigt worden waren, Geschäftsvorfälle des Jahres 1956 und damit im Sinne des § 222 Abs. 1 Nr. 2 AO neue Tatsachen des Erhebungszeitraums 1956 darstellten, wenn sie auch auf den Meßbetrag nach dem Gewerbeertrag des Erhebungszeitraums 1956 ohne Auswirkung blieben, weil dieser bereits vorher auf 0 DM festgestellt worden war. Der Umstand, daß die Abgabenerstattungen Geschäftsvorfälle im Erhebungszeitraum 1956 bilden, schließt aber - entgegen der Meinung der Vorinstanz - nicht aus, daß sie auch einen anderen Steuerabschnitt berühren und deshalb neue Tatsachen im Sinne des § 222 Abs. 1 Nr. 2 AO darstellen, die eine Berichtigung der Veranlagung dieses anderen Steuerabschnitts rechtfertigen (vgl. Urteil des BFH I 69/63 U vom 7. September 1965, BFH 83, 495, BStBl III 1965, 677). Die Berücksichtigung der Abgabenerstattungen führt zu einer Erhöhung des im Erhebungszeitraum 1956 entstandenen Fehlbetrags und damit nach § 10a GewStG zu einer Verringerung des Gewerbeertrags für den Erhebungszeitraum 1959. Daß sie auch für den Steuerfall 1959 neue Tatsachen sind, zeigt sich deutlich daran, daß nach ständiger Rechtsprechung (vgl. Urteile des BFH VI 67/60 U vom 17. März 1961, BFH 73, 441, BStBl III 1961, 427, und I 184/63 vom 12. Januar 1966, BFH 85, 161, BStBl III 1966, 270) die Höhe anzurechnender Vorjahrsverluste sowohl im Fall des § 10d EStG wie des § 10a GewStG erst im Anrechnungsjahr, und zwar unabhängig von den Berechnungen für die Entstehungsjahre, zu ermitteln ist. Bei dieser Auslegung des § 222 Abs. 1 Nr. 2 AO wird - was die Vorinstanz verkannt hat - nicht die Auswirkung einer neuen Tatsache selbst wieder zu einer neuen Tatsache, sondern eine neue Tatsache aus dem Jahr 1956 berechtigt wegen ihrer - sich aus § 10a GewStG ergebenden - Auswirkung auf den Steuerfall des Erhebungszeitraums 1959 zu einer Berichtigung der Veranlagung 1959.
Es handelt sich nicht um einen Fall des § 4 Abs. 3 Nr. 2 StAnpG. Denn es ist kein Sachverhaltsmerkmal nachträglich mit steuerlicher Wirkung für die Vergangenheit weggefallen, sondern das FA hatte bei der erstmaligen Veranlagung für den Erhebungszeitraum 1959 nur irrtümlich, weil vorhandene Tatsachen unbekannt waren, den Fehlbetrag des Erhebungszeitraums 1956 zu niedrig ermittelt. Anders als im Fall der Nachversteuerung von nicht entnommenem Gewinn (vgl. Urteile des BFH IV 263/56 U vom 23. Januar 1958, BFH 66, 337, BStBl III 1958, 130, und VI 270/63 U vom 13. November 1964, BFH 81, 662, BStBl III 1965, 237) wurde der Fehlbetrag im Entstehungsjahr nicht mit Bindungswirkung für das Anrechnungsjahr festgestellt. Insofern unterscheidet sich der Streitfall auch von dem Fall des Urteils des BFH VI 67/60 U (a. a. O.), in dem der Verlust im Entstehungsjahr durch einheitliche Gewinnfeststellung mit Bindungswirkung (§ 218 Abs. 2 und 4 AO) festgestellt worden war.
Die Vorentscheidung wird wegen unrichtiger Rechtsanwendung aufgehoben. Die Sache ist spruchreif (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 FGO).
Die Betriebsprüfung hat durch die Feststellung der Erstattungen von Soforthilfe- und Vermögensabgabe im Erhebungszeitraum 1956 eine neue Tatsache im Sinne des § 222 Abs. 1 Nr. 2 AO für den Erhebungszeitraum 1959 ergeben. Die Veranlagung für den Erhebungszeitraum 1959 ist deshalb in vollem Umfang wiederaufzurollen. Das FA hat hierfür im Berichtigungsbescheid einen einheitlichen Gewerbesteuermeßbetrag von 4 365 DM errechnet. Da § 234 AO a. F. (§ 232 Abs. 1 AO n. F.) bei Berichtigungsveranlagungen, die sich auch auf § 222 Abs. 1 Nr. 2 AO stützen, keine Anwendung findet, ist der Betrag von 4 365 DM, wie beantragt, festzusetzen.
Fundstellen
BStBl II 1969, 383 |
BFHE 1969, 260 |