Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensrecht/Abgabenordnung
Leitsatz (amtlich)
Unter welchen Voraussetzungen ist dem ausgeschiedenen Gesellschafter einer OHG Einsicht in die Steuerakten der Gesellschaft für die Zeit zu gewähren, in der er noch Gesellschafter war?
Normenkette
AO § 22
Tatbestand
Die Bfin. ist die Witwe und Alleinerbin des im Jahre 1953 gestorbenen Gesellschafters T. Nach dem Tod ihres Ehemannes trat sie zunächst als Mitunternehmerin in die OHG ein, schied aber dann zum 31. Dezember 1955 wieder aus der Firma aus, zu deren Vertretung sie nicht ermächtigt gewesen war. Die Gewinne wurden gemäß § 215 Abs. 2 Ziff. 2 AO einheitlich und gesondert vom Betriebsfinanzamt der OHG festgestellt.
Mit den Schreiben vom 2. Oktober 1960 und 9. November 1961 beantragte die Bfin. beim Betriebsfinanzamt, ihr Abschriften der Betriebsprüfungsberichte über die OHG einschließlich der Firmenbilanzen und der Verlust- und Gewinnrechnungen für die Zeit vom 24. Juni 1948 bis zum 31. Dezember 1955 zu überlassen, weil sie die Unterlagen in einem beim Verwaltungsgericht Berlin anhängigen Rechtsstreit über ihre Einkommensteuer benötige; für die Kosten komme sie auf. Das Finanzamt schickte der Bfin. im November 1960 nur eine Abschrift des Betriebsprüfungsberichts für die Jahre II/1948 bis 1952 und zwei Auszüge aus einem weiteren Betriebsprüfungsbericht über ihre Gewinnanteile für die Jahre 1953 bis 1955 und die Entwicklung ihres Kapitalkontos von Ende 1952 bis Ende 1955. Die OHG hatte auf Anfrage des Finanzamts nur diesen Auskünften aus ihren Steuerakten zugestimmt. Die beantragte Herausgabe der weiteren Unterlagen lehnte das Finanzamt mit den Bescheiden vom 2. und 15. März 1962 wegen des Steuergeheimnisses gemäß § 22 AO ab. Auch einer Aktenanforderung des Verwaltungsgerichts Berlin in dem Einkommensteuerrechtsstreit der Bfin. entsprach das Finanzamt nicht. Das Verwaltungsgericht Berlin setzte daraufhin das Berufungsverfahren bis zum rechtskräftigen Abschluß dieses Rechtsstreits aus.
Die Oberfinanzdirektion wies die Beschwerde der Bfin. gegen die Ablehnung ihres Antrages auf übersendung von Aktenunterlagen als unbegründet zurück und führte aus, das Finanzamt sei nicht verpflichtet, die von der Bfin. verlangten weiteren Unterlagen aus den Steuerakten der OHG zu übersenden; denn aus den ihr überlassenen Unterlagen könne die Bfin. alles entnehmen, was sie bei ihrer Einkommensbesteuerung brauche. Weiteren Auskünften stehe auch das Steuergeheimnis entgegen.
Auch die Berufung beim Finanzgericht hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht billigte das Vorgehen des Finanzamts und führte aus, die Bfin. sei nicht Eigentümerin der verlangten Urkunden und könne sie darum nicht herausverlangen. Das Verhalten des Finanzamts verletze auch nicht den Anspruch der Bfin. auf rechtliches Gehör. Die Bfin. sei zwar Beteiligte im einheitlichen und gesonderten Gewinnfeststellungsverfahren bis 1955 gewesen und habe in dieser Zeit als Steuerpflichtige Anspruch auf rechtliches Gehör gehabt. Diese Verfahren seien jedoch bereits vor dem 2. Oktober 1960 rechtskräftig abgeschlossen gewesen; damit sei der Anspruch der Bfin. auf Beteiligung erloschen. Die Bfin. habe im übrigen selbst dargelegt, daß sie die verlangten Unterlagen nicht für die einheitlichen Gewinnfeststellungen benötige. Der Steuerprozeß in der Einkommensteuersache der Bfin. rechtfertige es nicht, ihr nach Treu und Glauben die beantragte Einsicht in die Akten der OHG zu gewähren.
Mit der Rb. rügt die Bfin., das Finanzgericht habe den Begriff Steuergeheimnis verkannt. Sie sei nicht Dritte, sondern selbst Steuerpflichtige im Sinne des § 22 AO. Die Verweigerung der Herausgabe der verlangten Aktenteile sei ein Ermessensmißbrauch des Finanzamts.
Entscheidungsgründe
Die Rb. führt zur Aufhebung der Vorentscheidungen.
Ob die Finanzverwaltungsbehörden einem Steuerpflichtigen Auskünfte oder Abschriften aus Steuerakten erteilen, hängt von ihrem Ermessen ab, bei dessen Ausübung sie sich in den Grenzen von Recht und Billigkeit halten müssen. Da die Bfin. eine Ermessensverletzung der Oberfinanzdirektion rügt, hat das Finanzgericht mit Recht gemäß § 237 AO neuer Fassung den Rechtsweg für zulässig erachtet.
Zutreffend hat das Finanzgericht dargelegt, daß die Dienstakten einer Behörde Eigentum der öffentlichen Körperschaft sind, bei der sie anfallen. Daraus kann indessen nicht geschlossen werden, daß die Behörde Außenstehenden die Einsicht in ihre Akten unbeschränkt verwehren kann. In einigen Fällen ist das Recht Dritter auf Akteneinsicht gesetzlich festgelegt, z. B. in § 12 der Grundbuchordnung. In anderen Fällen hat die Behörde von Fall zu Fall nach ihrem pflichtgemäßen Ermessen zu entscheiden, wie weit der Inhalt von Dienstakten Interessenten bekanntgegeben werden kann (Urteil des Bundesfinanzhofs II 154/54 vom 30. Juni 1955, zitiert bei Koch-Wolter, Das Steuergeheimnis, S. 146 unter Anm. 666). Die Behörde muß bei der Ausübung ihres Ermessens alle Umstände gegeneinander abwägen. In erster Linie hat sie in Betracht zu ziehen, welches Interesse an der Akteneinsicht der Antragsteller dargetan hat. Aber auch die Belange des Staates, der Allgemeinheit und der Behörde selbst sind angemessen in Rechnung zu stellen. So ist z. B. in der Regel der Behörde nicht zuzumuten, ein ganzes Aktenbündel abzuschreiben.
Bei der Gewährung von Einsicht in Steuerakten spielt auch das Steuergeheimnis (ß 22 AO) eine wichtige Rolle. In diesem Zusammenhang sind zwei Fälle zu unterscheiden, nämlich der Fall, daß der Steuerpflichtige selbst die Offenlegung seiner Steuerakten begehrt, sowie der andere Fall, daß ein Dritter Einsicht in die Akten eines anderen Steuerpflichtigen oder Auskünfte aus ihnen begehrt. Das Steuergeheimnis spielt nur in den Fällen der zweiten Gruppe eine Rolle; denn das Steuergeheimnis dient dem Schutz des Steuerpflichtigen, der im Interesse einer gesetzmäßigen Besteuerung dem Finanzamt fast unbeschränkt seine wirtschaftlichen und persönlichen Verhältnisse zu offenbaren hat, auf der anderen Seite aber dann auch die Sicherheit haben muß, daß die offenbarten Verhältnisse nicht ohne seine Zustimmung über den engen Kreis der dienstlich mit der Sache befaßten Beamten hinaus bekannt werden. Da das Steuergeheimnis ausschließlich die Interessen des Steuerpflichtigen gegenüber dritten Personen absichern soll, kann es nicht gegen den Steuerpflichtigen selbst ins Feld geführt werden. Bittet also der Steuerpflichtige selbst das Finanzamt um eine Auskunft aus seinen Steuerakten oder ist er mit der Auskunft an Dritte einverstanden, so muß das Finanzamt in der Regel Auskunft erteilen, wenn nicht andere Gründe es geboten erscheinen lassen, die Einsichtnahme oder Auskunftserteilung abzulehnen.
Schwierigkeiten können entstehen, wenn an einem Steuerverfahren nicht nur eine Person beteiligt ist, sondern mehrere Personen, wie z. B. im Verfahren der einheitlichen Gewinnfeststellung bei Personengesellschaften (ß 215 AO). Hier ist ein Mitgesellschafter im Verhältnis zur Personengesellschaft nicht "Dritter" oder "Fremder", sondern ein unmittelbar an dem Steuerfall "Beteiligter". Auf der anderen Seite sind aber auch die anderen Gesellschafter "Beteiligte", deren Interessen durch die Auskunft berührt werden können. Zieht man das in Betracht, so hat das Finanzamt, wenn ein Beteiligter die gemeinsamen Steuerakten einsehen will, auch die Interessen der anderen Beteiligten mit zu würdigen. Es hat darum alle Beteiligten über den Antrag des einen Beteiligten auf Akteneinsicht zu hören. Lehnt ein anderer Beteiligter die erbetene Einsicht ab, so muß er aber seinen Widerspruch begründen; denn es ist nicht vertretbar, einem Beteiligten, der Einsicht in die Akten einer OHG begehrt und sein Interesse daran stichhaltig begründet hat, die Einsicht nur deshalb zu verweigern, weil ein oder mehrere Mitgesellschafter ohne stichhaltigen Grund ihr Einverständnis versagen.
Dem Finanzgericht ist zuzugeben, daß ein Beteiligter sein Recht auf Akteneinsicht auch auf dem Weg des Zivilprozesses gegen die Gesellschaft oder die Mitgesellschafter verwirklichen kann. Das Finanzamt kann sicher die Beteiligten auf den Zivilprozeß verweisen, wenn die Gesellschafter über das Recht auf Akteneinsicht eines Beteiligten mit guten Gründen streiten; denn in solchen Fällen ist es dem Finanzamt nicht zuzumuten, sich in den zivilrechtlichen Streit unter den Gesellschaftern einzumischen. Ist die zivilrechtliche Rechtslage aber klar und widersprechen die Mitgesellschafter der Akteneinsicht ohne stichhaltigen Grund, so ist es auf der anderen Seite nicht angebracht, daß das Finanzamt, anstatt selbst zu entscheiden, den Antragsteller auf den Weg des Zivilprozesses verweist. Bei der Ausübung des Ermessens ist in Betracht zu ziehen, daß ein Zivilprozeß langwierig und kostspielig ist und darum nicht ohne sachliche Notwendigkeit eingeleitet werden sollte. Aus dieser Erwägung ist auch das Recht auf Akteneinsicht eines Gesamtschuldners nicht davon abhängig zu machen, wer von den mehreren Gesamtschuldnern nach den Vorschriften des Zivilrechts im Innenverhältnis die Steuern endgültig tragen muß; das Recht auf Akteneinsicht steht vielmehr jedem Beteiligten zu (Mattern, Das Steuergeheimnis, S. 26/37, und Der Betriebsberater 1955 S. 645; Wauer-Dörr, Das Steuergeheimnis, Auskunftserteilung durch die Finanzämter, Einsicht in die Steuerakten, S. 14; Becker, Reichsabgabenordnung, 7. Auflage, 1930, Anm. 3 a zu § 10; Koch-Wolter, a. a. O., S. 63 ff.).
Das Finanzgericht hat die Bfin. als Dritte im Sinne des § 22 AO betrachtet. Es meint, nach dem Ausscheiden aus der OHG stehe ihr ein Recht auf Einsicht in die Steuerakten der OHG nur zu, wenn die jetzt zur Vertretung der OHG berechtigten Gesellschafter das Finanzamt zuvor von der Wahrung des Steuergeheimnisses entbunden hätten; das Finanzamt dürfe nicht von sich aus prüfen, ob die Bfin. ein Recht auf Einsicht in die Jahresbilanzen habe. Diese Auslegung ist mit den obigen Rechtsgrundsätzen nicht vereinbar. Die Bfin. ist keine "Dritte" im Sinne des § 22 AO, sondern eine von mehreren Mitgesellschaftern, soweit es um die Zeit geht, in der sie Gesellschafterin war. Die einheitlichen Gewinnfeststellungsbescheide wirken nicht nur gegenüber der OHG, sondern gemäß § 218 Abs. 2 AO auch für die Einkommensteuerveranlagungen der Mitunternehmer. Nach der sogenannten Bilanzbündeltheorie faßt die Bilanz einer Personengesellschaft die Bilanzen mehrerer Mitunternehmer zusammen. Darum ist es rechtlich unzutreffend, die Bfin. als "Dritte" im Sinne des § 22 AO anzusehen. Sie war in der Zeit, um die es hier geht, selbst eine von mehreren Steuerpflichtigen; sie haftet auch für die Schulden der OHG. Im übrigen hat auch der Bundesgerichtshof ausgesprochen, daß einem ausgeschiedenen Mitunternehmer für die Zeit, in der er noch Gesellschafter war, Einsicht in die Bilanzen zum Zwecke der Prüfung gegeben werden muß (Urteil II ZR 102/60 vom 23. Oktober 1961, Der Betriebs-Berater 1961, S. 1341).
Der Vorsteher des Finanzamts beruft sich für seine Auffassung, daß der ausgeschiedene Gesellschafter einer Personengesellschaft ohne Zustimmung der Gesellschaft nicht in die Steuerakten des Unternehmens Einblick nehmen könne, noch auf das Urteil des Reichsfinanzhofs IV A 651/25 vom 14. Oktober 1925 (Steuer und Wirtschaft 1926 Nr. 31) und das Schrifttum, z. B. Koch-Wolter, a. a. O., S. 146, Höllig in Der Betrieb 1964 S. 1677). Der Vorsteher des Finanzamts übersieht dabei, daß es hier um die Zeit geht, in der die Bfin. noch Mitgesellschafterin war. Zu der von Höllig (a. a. O.) aufgeworfenen Frage, ob ein Kommanditist Einsicht in die Steuerakten einer KG nehmen kann, braucht der Senat nicht Stellung zu nehmen, weil die Bfin. nicht Kommanditistin einer KG, sondern unbeschränkt haftende Gesellschafterin einer OHG war.
Nach allem waren die Vorentscheidung und die Beschwerdeentscheidung der Oberfinanzdirektion, die von einer anderen Rechtsauffassung ausgegangen sind, aufzuheben. Die Sache geht an die Oberfinanzdirektion zurück, die über die Beschwerde der Bfin. erneut entscheiden und dabei berücksichtigen muß, daß die Bfin. ein berechtigtes Interesse dargetan hat, die Auszüge aus den Steuerakten der OHG zu erhalten. Ihrem Antrag braucht das Finanzamt aber nicht zu entsprechen, wenn die OHG oder ihre Gesellschafter schwerwiegende Bedenken gegen die Erteilung der Information vorbringen. Ein solcher Grund könnte z. B. sein, daß die Bfin. nach dem Gesellschaftsvertrag oder auf Grund einer Vereinbarung beim Ausscheiden kein Recht auf Einsicht in die frühere Geschäftsvorgänge und Geschäftsunterlagen hat. Ist das Recht auf Einsicht zivilrechtlich ausgeschlossen, so kann die Bfin. es sich nicht auf dem Weg über die Auskunftserteilung aus den Steuerakten der OHG verschaffen. Bisher sind aber von den Mitgesellschaftern solche oder ähnliche Gründe nicht vorgebracht worden. Die Oberfinanzdirektion muß darum den Mitgesellschaftern nochmals Gelegenheit zur äußerung und zur Begründung ihrer Weigerung geben. Sie kann auch nochmals prüfen, ob ein schwerwiegendes Interesse der Finanzverwaltung entgegensteht. Jedenfalls bietet nach den bisherigen Feststellungen allein die Wahrung des Steuergeheimnisses keinen ausreichenden Grund, der Bfin. die erbetenen Unterlagen zu verweigern.
Fundstellen
Haufe-Index 411753 |
BStBl III 1965, 675 |
BFHE 1966, 490 |
BFHE 83, 490 |