Leitsatz (amtlich)
1. Für die Gewährung von Pauschbeträgen nach § 26 Abs. 1 LStDV 1968 ist die Bescheinigung des Gesundheitsamts maßgebend, die den "dauernden" Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit feststellt.
2. Eine im zeitlichen Zusammenhang mit einem Unfall vorübergehend höhere Minderung der Erwerbsfähigkeit ist nicht im Rahmen des § 26 Abs. 1 LStDV zu berücksichtigen.
Normenkette
EStG 1967 §§ 33, 33a Abs. 6, § 40; LStDV 1968 §§ 25-26
Tatbestand
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) hatte am 26. September 1968 einen schweren selbstverschuldeten Autounfall und dabei einen Becken-, Kniescheiben- und Hüftgelenksbruch erlitten. Der Unfall hat zu einer Teilversteifung beider Hüft- und Kniegelenke und zu einer äußerlich erkennbaren Einbuße der körperlichen Bewegungsfähigkeit geführt. Der Kläger begehrte mit dem Einspruch gegen den geänderten Bescheid des Beklagten und Revisionsklägers (FA) vom 28. Januar 1970 betreffend den Lohnsteuer-Jahresausgleich 1968 einen Pauschbetrag wegen dauernder 100prozentiger Minderung der Erwerbsfähigkeit. Er legte dem FA zwei kreisärztliche Bescheinigungen vom 16. April 1970 und vom 19. Mai 1970 vor. Die Bescheinigung vom 16. April 1970 hat im wesentlichen folgenden Wortlaut:
"Infolge Zustand nach Beckenbruch und Kniescheibenbruch und Hüftgelenksbruch links mit Teilversteifung bd. Hüft- und Kniegelenke (Autounfall 26. September 1968) liegt eine dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit vor. Die dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit ist äußerlich erkennbar. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit beträgt seit 1968 50 %."
Die kreisärztliche Bescheinigung vom 19. Mai 1970 hat folgenden Wortlaut:
"Am 16. April 1970 ist Herr Sch ... hier vorstellig geworden. Mein Mitarbeiter ... hat auf Grund der Diagnose, Zustand nach Becken-, Kniescheiben- und Hüftgelenksbruch li. mit Teilversteifung beider Hüftund Kniegelenke' seit 1968 eine EM von 50 % unterstellt. Herr Sch bittet um eine Präzisierung seiner Erwerbsfähigkeit, besonders für das Jahr 1968.
Für die Zeit nach dem Autounfall vom 26. September 1968 bis zum Jahresende hat Arbeitsunfähigkeit, das heißt völlige Erwerbsunfähigkeit bestanden. Am 24. März 1969 ist Herr Sch von mir untersucht worden. Zu diesem Zeitpunkt werden die Unfallfolgen unter Einschluß der Feststellung einer Einbuße der körperlichen Beweglichkeit mit äußerlicher Erkennbarkeit auf eine EM von 70 % geschätzt. Für das Jahr 1970 gilt die Beurteilung vom 16. April 1970."
Das FA gewährte in der Einspruchsentscheidung dem Kläger einen Pauschbetrag nach § 26 Abs. 1 LStDV 1968 von 768 DM wegen 50prozentiger Minderung der Erwerbsfähigkeit.
Die Klage hatte Erfolg. Das FG führte aus, dem Kläger stehe für das Streitjahr 1968 ein Pauschbetrag wegen 100prozentiger Minderung der Erwerbsfähigkeit zu. Nach der amtsärztlichen Bescheinigung vom 16. April 1970 sei die Erwerbsfähigkeit des Klägers nicht nur vorübergehend, sondern dauernd gemindert. Nach der amtsärztlichen Bescheinigung vom 19. Mai 1970 sei lediglich der Grad der Erwerbsminderung fallend. Es sei unwesentlich, daß die Bescheinigung vom 19. Mai 1970 die dauernde Erwerbsunfähigkeit nicht ausdrücklich festgestellt habe; denn diese Bescheinigung berichtige lediglich die frühere Bescheinigung vom 16. April 1970 hinsichtlich des Prozentsatzes der Erwerbsminderung. Sie habe deshalb die sonstigen Erfordernisse für die Gewährung des Pauschbetrages nicht zu wiederholen brauchen. Die FG seien nach dem Urteil des BFH vom 30. November 1966 VI R 108/66 (BFHE 88, 491, BStBl III 1967, 459) hinsichtlich des Grades sowie des Beginns und der Beendigung der Minderung der Erwerbsfähigkeit an die Feststellungen der Gesundheitsbehörden gebunden. Es sei daher im Streitfall von der Bescheinigung des Amtsarztes vom 19. Mai 1970 auszugehen, der die völlige Erwerbsunfähigkeit des Klägers für das Jahr 1968 ab dem Zeitpunkt des Unfalls festgestellt habe. Nach dem vorgenannten BFH-Urteil könne der Pauschbetrag nach § 26 Abs. 1 LStDV auch gewährt werden, wenn der Grad der Erwerbsminderung sich im Laufe der Zeit geändert habe.
Das FA rügt mit der vom FG wegen grundsätzlicher Bedeutung des Falles zugelassenen Revision mangelnde Sachaufklärung und Verletzung von Vorschriften materiellen Rechts. Es meint, es sei von der kreisärztlichen Bescheinigung vom 16. April 1970 auszugehen, die entsprechend dem vorgeschriebenen amtlichen Muster für die Erteilung amtsärztlicher Bescheinigungen an Körperbehinderte auf Grund des Runderlasses des Innenministers Nordrhein-Westfalen vom 8. Dezember 1966 (Ministerialblatt für das Land Nordrhein-Westfalen 1967 S. 3 = ESt-Kartei Nordrhein-Westfalen, § 33a EStG, Anweisung Nr. 42) erteilt und für die Finanzbehörden bindend sei. Danach liege beim Kläger ab dem Jahr 1968 eine dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit vor, die zu einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 50 % geführt habe. Das Gesundheitsamt habe die Bescheinigung vom 19. Mai 1970 nicht nach dem amtlichen Muster erteilt. Es fehle dort auch die Feststellung, daß es sich um eine dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit handle. Daraus sei zu folgern, daß der zweite Gutachter im Gegensatz zu der ersten Bescheinigung vom 16. April 1970 nur einen zeitlich begrenzten und vorübergehenden Zustand für die Jahre 1968 und 1969 habe beurteilen wollen. Das FG habe es unterlassen, eine wegen dieser Umstände notwendige weitere Sachaufklärung vorzunehmen. Das FG habe im übrigen § 33a Abs. 6 EStG i. V. m. § 26 Abs. 1 LStDV nicht zutreffend gewürdigt. Nach § 26 Abs. 1 LStDV müsse eine dauernde (nicht nur vorübergehende) Minderung der Erwerbsfähigkeit des Körperbehinderten sowohl dem Grunde wie der Höhe nach vorliegen. Sie betrage nach dem maßgebenden ersten Gutachten vom 16. April 1970 lediglich 50 %. Nach dem Gutachten vom 19. Mai 1970 sei die festgestellte Erwerbsminderung für das Jahr 1968 von 100 % und für das Jahr 1969 von 70 % der Höhe nach nur vorübergehender Natur gewesen.
Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben.
Entscheidungsgründe
Die Revision des FA führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage.
Gemäß dem zu § 33a Abs. 6, § 40 EStG 1967 ergangenen § 26 Abs. 1 LStDV 1968 wird für Körperbehinderte, wenn nicht höhere Aufwendungen nachgewiesen oder glaubhaft gemacht werden, wegen der außergewöhnlichen Belastungen, die ihnen unmittelbar infolge ihrer Körperbehinderung erwachsen, auf Antrag ein steuerfreier Pauschbetrag gewährt. Die Höhe des Pauschbetrages richtet sich nach der dauernden (nicht nur vorübergehenden) Minderung der Erwerbsfähigkeit, wobei der Jahrespauschbetrag je nach der Höhe der Minderung der Erwerbsfähigkeit abgestuft ist. Nach § 26 Abs. 3 LStDV 1968 ist das Ausmaß der Körperbehinderung durch eine Bescheinigung der zuständigen Behörde zu erbringen. Finanzbehörden und Steuergerichte sind gemäß dem Urteil des Senats VI R 108/66 wegen des Grades, des Beginns und der Beendigung der Minderung der Erwerbsfähigkeit an die Feststellungen der Gesundheitsbehörde gebunden.
Für den Streitfall ist allein die kreisärztliche Bescheinigung vom 16. April 1970 maßgebend, nach der ab 1968 eine dauernde Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers von 50 % vorliegt. Es kann dahingestellt bleiben, ob die zweite kreisärztliche Bescheinigung vom 19. Mai 1970 entsprechend dem Vorbringen des FA schon deshalb steuerlich nicht zu beachten ist, weil sie nicht nach dem vorgeschriebenen amtlichen Muster für die Erteilung amtsärztlicher Bescheinigungen an Körperbehinderte entsprechend einem Runderlaß des Innenministers Nordrhein-Westfalen vom 8. Dezember 1966 ausgestellt worden ist. Sie ist jedenfalls nicht dem Lohnsteuer-Jahresausgleich 1968 zugrunde zu legen, da sie keine Aussage über die "dauernde" Minderung der Erwerbsfähigkeit des Klägers enthält. Sie besagt lediglich, daß die Erwerbsfähigkeit des Klägers nach dem Unfall bis Ende 1968 100 % und für das Jahr 1969 70 % betrage, während für das Jahr 1970 die erste Bescheinigung vom 16. April 1970 gelten soll. Die kreisärztliche Bescheinigung vom 19. Mai 1970 befaßt sich mithin nur mit der vorübergehend höheren Minderung der Erwerbsfähigkeit in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit dem Unfall. Darauf kommt es steuerlich aber nicht an. Entscheidend sind die Feststellungen des Gesundheitsamts über den Grad der "dauernden" Minderung der Erwerbsfähigkeit dem Grunde und der Höhe nach. Der für den dauernden Grad der Erwerbsminderung maßgebende Pauschbetrag des § 26 Abs. 1 LStDV 1968 ist daher auch für die Jahre zu gewähren, in denen im engen zeitlichen Zusammenhang mit dem Unfall vorübergehend eine höhere Minderung der Erwerbsfähigkeit eingetreten war, wie dies insbesondere bei Unfällen mit anschließender stationärer Krankenhausbehandlung oft der Fall ist. Es bleibt den Steuerpflichtigen unbenommen, für diese Jahre statt des Pauschbetrages die mit der Erwerbsminderung zusammenhängenden tatsächlichen Ausgaben nach § 33 EStG, § 25 LStDV nachzuweisen.
Der Senat hat zwar durch Urteil vom 9. März 1962 VI 296/61 (StRK, Einkommensteuer-Durchführungsverordnung ab 1955, § 65, Rechtsspruch 3) entschieden, daß in Fällen, in denen der Grad der Erwerbsminderung innerhalb des Unfalljahres verschieden hoch ist, dem Steuerpflichtigen der Pauschbetrag für den höchsten Grad der Erwerbsminderung für das ganze Jahr zusteht. Diese Entscheidung ist jedoch für den Streitfall unbeachtlich, da sie § 65 der EStDV 1957 betraf, der eine "dauernde" Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht vorsah. Der Senat ließ in dem Urteil eindeutig erkennen, daß die Rechtslage ab 1960 anders zu beurteilen sei, weil § 65 Abs. 1 Satz 2 EStDV 1960, der § 26 Abs. 1 Satz 2 LStDV 1959 in der Fassung der Änderungsverordnung vom 30. Dezember 1959 (BGBl I 1960, 1, BStBl I 1960, 26) entsprach, erstmals eine "dauernde (nicht nur vorübergehende) Minderung der Erwerbsfähigkeit" voraussetze.
Der Senat hat diese Entscheidung in dem vom FG erwähnten Urteil VI R 108/66 betreffend die Einkommensteuerveranlagung 1962 erwähnt und dabei betont, der Pauschbetrag könne auch gewährt werden, wenn der Grad der Erwerbsminderung sich im Laufe der Zeit ändere. An dieser generellen Aussage hält der Senat fest. In vielen Fällen werden sich die der Erwerbsminderung zugrunde liegenden Leiden im Laufe von Jahren und Jahrzehnten als Dauerzustand verbessern oder verschlechtern. Die sich dementsprechend ändernden Grade der Minderung der dauernden Erwerbsfähigkeit lt. entsprechender amtlicher Bescheinigung sind bei Gewährung der Pauschsätze des § 26 Abs. 1 LStDV steuerlich dann zu beachten. Entgegen der Ansicht des FG ist jedoch daraus, daß der Senat im Urteil VI R 108/66 die Entscheidung VI 296/61 zitiert hat, nicht zu folgern, er wolle ab dem Einkommensteuerveranlagungszeitraum 1960 nur vorübergehend höhere Erwerbsminderungen wegen noch nicht sofort zu behebender Unfallfolgen im Rahmen des § 26 Abs. 1 EStDV berücksichtigen.
Die Vorentscheidung war aufzuheben, da sie von anderen Rechtsgrundsätzen ausging. Die Klage war abzuweisen, weil das FA dem Kläger in der Einspruchsentscheidung zu Recht nur einen Pauschbetrag nach § 26 Abs. 1 LStDV 1968 wegen 50prozentiger Minderung der Erwerbsfähigkeit gewährt hat.
Fundstellen
Haufe-Index 71329 |
BStBl II 1975, 394 |
BFHE 1975, 491 |