Leitsatz (amtlich)
Zu den Voraussetzungen, unter denen bei einem sogenannten rechtmäßigen Schätzungslandwirt die Schätzung des Gewinns in Anlehnung an die VOL bei der ursprünglichen Veranlagung aufgrund einer Schätzung nach dem Vermögensvergleich nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO berichtigt werden kann.
Normenkette
AO §§ 217, 222 Abs. 1 Nr. 1; EStG § 13; VOL §§ 2, 4
Tatbestand
Für die Veranlagungszeiträume 1963 und 1964 ist streitig, ob bei einer Betriebsprüfung neue Tatsachen im Sinne des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO festgestellt wurden, die den Beklagten und Revisionskläger (FA) zur Durchführung von Berichtigungsveranlagungen berechtigten.
Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) sind Eheleute. Sie bewirtschafteten einen (einschließlich Zupachtung) etwa 39 ha großen landwirtschaftlichen Hof. In den Streitjahren waren sie wegen eines Gewinns aus Landwirtschaft von weniger als 12 000 DM nicht zur Buchführung verpflichtet und führten auch freiwillig keine Bücher. Da der Umsatz 40 000 DM überstieg, schätzte das FA die Besteuerungsgrundlagen gemäß § 217 AO in Anlehnung an die VOL vom 2. Juni 1949. Bei einer Betriebsprüfung für die Wirtschaftsjahre 1962/63 bis 1964/65 stellte das FA verschiedene Tatsachen fest, die mit den Steuererklärungen und den Veranlagungen nicht übereinstimmten. Es handelte sich um abweichende Erlöse bei Schweine- und Rindviehverkäufen, die Mitarbeit einer Tochter im Betrieb, um höhere Sonderausgaben und um das Fehlen der Voraussetzungen für die Gewährung eines Hausgehilfinnenfreibetrages nach § 33a EStG. Das FA führte daraufhin für jedes Wirtschaftsjahr einen gesonderten Vermögensvergleich durch, dem es die zum Teil geschätzten Privatentnahmen hinzurechnete, und ermittelte auf diese Weise einen höheren Gewinn aus Landund Forstwirtschaft, als er bei den ursprünglichen Veranlagungen aufgrund einer Schätzung in Anlehnung an die VOL zugrunde gelegt worden war. Dementsprechend berichtigte es gemäß § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO die Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre.
Nach erfolglosem Vorverfahren beantragten die Kläger mit der Klage die ersatzlose Aufhebung der Berichtigungsveranlagungen, da sie wegen Fehlens der Voraussetzungen des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO unzulässig gewesen seien. Das FG hielt die Klage im wesentlichen für begründet und führte im einzelnen aus:
Dem FA seien zwar für beide Streitjahre durch die Betriebsprüfung neue Tatsachen bekanntgeworden. Sie rechtfertigten jedoch nur für das Streitjahr 1964 eine Berichtigungsveranlagung nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO. Denn eine Berichtigungsveranlagung sei nur zulässig, wenn die neuen Tatsachen von einigem Gewicht seien und zu einer nicht unerheblichen Mehrsteuer, d. h. einer Mehrsteuer von mindestens 100 DM im Veranlagungszeitraum führen würden. Beruhe die ursprüngliche Veranlagung - wie im Streitfall - auf einer Schätzung in Anlehnung an die VOL, so müsse sich die erforderliche Mehrsteuer bei Anwendung dieser bisherigen Schätzungsmethode ergeben. Gehe man davon aus, so habe die Betriebsprüfung für das Wirtschaftsjahr 1962/63 einen Mehrgewinn von 815 DM ergeben, von dem auf das Streitjahr 1963 ein Drittel, das seien 272 DM, entfielen.
Für das Wirtschaftsjahr 1963/64 habe die Betriebsprüfung als einzige neue Tatsache zuungunsten der Kläger die Mitarbeit der Tochter L. im Betrieb festgestellt. Die Gewinnerhöhung von 250 DM entfalle mit 2/3, das seien 167 DM, auf das Streitjahr 1963 und mit 1/3, das seien 83 DM, auf das Streitjahr 1964. Wären diese Tatsachen bereits bei der ersten Veranlagung bekanntgewesen, so hätte sich für 1963 einschließlich des Mehrgewinns aus dem Wirtschaftsjahr 1962/63 von 272 DM eine Mehrsteuer von 84 DM ergeben. Diese Mehrsteuer sei aber nicht gewichtig genug, um eine Berichtigung zuungunsten der Kläger zu rechtfertigen.
Für das Wirtschaftsjahr 1964/65 habe die Betriebsprüfung als einzige neue Tatsache den Erlös aus Schweineverkäufen von 17 830 DM festgestellt, den die Kläger in ihrer Einkommensteuererklärung 1964 nicht angegeben hätten und den das FA deshalb bei der ursprünglichen Schätzung unberücksichtigt gelassen habe. Bei einer Schätzung in Anlehnung an die VOL sei aus dem Erlös ein Gewinn von 2 500 DM zu errechnen, der wegen des vom Kalenderjahr abweichenden Wirtschaftsjahres bei der Veranlagung 1964 mit 8/10, das seien 2 000 DM, anzusetzen sei.
Wäre die neue Tatsache des höheren Schweineverkaufs dem FA bereits bei der ersten Veranlagung bekanntgewesen, so hätte sich 1964 unter Berücksichtigung des Mehrgewinns aus dem Wirtschaftsjahr 1963/64 von 83 DM und des Mehrgewinns aus dem Wirtschaftsjahr 1964/65 von 2 000 DM eine Mehrsteuer von 432 DM ergeben. Diese Mehrsteuer von 432 DM sei gewichtig genug, um eine Berichtigungsveranlagung zuungunsten der Kläger zu rechtfertigen.
Das FA hätte aber bei der Berichtigungsveranlagung keine andere Schätzungsmethode anwenden dürfen als bei der ursprünglichen Veranlagung. Die Aufdeckung neuer Tatsachen von einigem Gewicht zuungunsten des Steuerpflichtigen führe zwar zur Wiederaufrollung der gesamten Veranlagung. Dabei könnten sämtliche Fehler des FA richtiggestellt werden, unabhängig davon, ob es sich um die Berücksichtigung von Tatsachen handele oder ob eine in der Zwischenzeit als unrichtig erkannte Rechtsauffassung dabei geändert werde. Die Berichtigungsmöglichkeit erstrecke sich jedoch nur auf Fehler des FA, das heißt auf solche Umstände, die sich bei Kenntnis bereits bei der ersten ursprünglichen Veranlagung steuerlich ausgewirkt hätten. Eine Berichtigungsveranlagung aufgrund neuer Tatsachen zuungunsten des Steuerpflichtigen könne nur insoweit Bestand haben, als sie mit einer ursprünglichen Veranlagung übereinstimme, die in Kenntnis aller tatsächlichen und rechtlichen Umstände erfolgt wäre. Der Übergang zu einer anderen Schätzungsmethode komme nur in Betracht, wenn die aufgedeckten neuen Tatsachen dies erforderlich machten, wenn also die neuen Tatsachen im Rahmen der bisherigen Methode nicht berücksichtigt werden könnten und das FA deshalb bei ihrer Kenntnis von Anfang an die neue Schätzungsmethode angewandt hätte.
Entscheidungsgründe
Die Revision des FA führt hinsichtlich der Einkommensteuer 1963 und 1964 zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.
Die Vorentscheidung beruht auf der Annahme, daß bei einem sogenannten rechtmäßigen Schätzungslandwirt, dessen Gewinn bei der ursprünglichen Veranlagung in Anlehnung an die VOL geschätzt worden ist, nach dem Urteil des erkennenden Senats vom 4. Oktober 1968 IV 91/65 (BFHE 93, 463, BStBl II 1968, 823) eine Berichtigungsveranlagung nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO nur durchgeführt werden könne, wenn sich bei Beibehaltung der bisherigen Schätzungsmethode neue Tatsachen von einigem Gewicht ergäben, die zur Wiederaufrollung der Veranlagung berechtigten. Ein derartiger Grundsatz läßt sich aus dem angeführten Urteil nicht entnehmen. Der erkennende Senat hat vielmehr in diesem Urteil die Auffassung vertreten, bei einem rechtmäßigen Schätzungslandwirt dürfe die ursprüngliche Schätzung des Gewinns in Anlehnung an die VOL nur dann nicht aufgrund späterer Feststellung eines durch den ursprünglich festgestellten Gewinn nicht gedeckten Vermögenszuwachses oder nicht gedeckter Privatentnahmen nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO berichtigt werden, wenn dieser nicht gedeckte Vermögenszuwachs oder die nicht gedeckten Privatentnahmen im wesentlichen auf Gewinnen beruhten, die wegen der niedrigen Zuschläge für die Mitarbeit von Familienangehörigen bei der ursprünglichen Schätzung in Anlehnung an die VOL steuerlich unerfaßt geblieben sind. Liegen aber diese besonderen Umstände nicht vor, so stellt ein später aufgrund eines Vermögensvergleichs (Vermögenszuwachs + Privatentnahmen) gegenüber der ursprünglichen Schätzung in Anlehnung an die VOL festgestellter erheblicher Mehrgewinn nach der ständigen Rechtsprechung des Senats schon für sich eine neue Tatsache dar, die zur Wiederaufrollung der rechtskräftigen Veranlagung nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO berechtigt. Der Senat hat dies im Urteil vom 22. September 1960 IV 249/59 U (BFHE 71, 716, BStBl III 1960, 516) im einzelnen dargelegt. Auch die rechtmäßigen Schätzungslandwirte, deren Gewinnermittlung nicht auf der VOL selbst beruhte, sondern diese nur als Schätzungsmethode benutzen durften, konnten nicht darauf vertrauen, daß ihre Gewinne nur in Anlehnung an die VOL geschätzt wurden. Mit gewissen Einschränkungen galt auch für sie das oberste Gebot einer jeden Gewinnschätzung, dem tatsächlich erzielten Gewinn möglichst nahe zu kommen. Diesem Ziel diente auch die Überprüfung der ursprünglichen Schätzungen durch die Betriebsprüfung (vgl. BFH-Urteil vom 5. November 1964 IV 11/64 S, BFHE 80, 356, 383, BStBl III 1964, 602 Abschn. X.2). Im Urteil vom 20. September 1973 IV R 236/69 (BFHE 110, 517, BStBl II 1974, 74) hat der Senat seinen Standpunkt nochmals verdeutlicht, in dem er folgenden Grundsatz ausgesprochen hat: "Wurde der Gewinn eines sogenannten rechtmäßigen Schätzungslandwirts in Anlehnung an die VOL geschätzt, so berechtigt ein bei einer Betriebsprüfung aufgrund der festgestellten Privatentnahmen ermittelter Mehrgewinn nur dann zu einer Berichtigungsveranlagung nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO, wenn die Gewinnschätzung in Anlehnung an die VOL auch bei richtiger Schätzungsmethode, vor allem also beim Ansatz von den Lohnverhältnissen der Streitjahre angepaßten Zuschlägen für den Wert der Arbeitsleistung des Betriebsinhabers und seiner ohne Arbeitslohn mitarbeitenden Familienangehörigen, nicht im Rahmen des von der Betriebsprüfung ermittelten Gewinns gelegen hätte." Stellt also der aufgrund eines Vermögensvergleiches festgestellte Mehrgewinn selbst die neue Tatsache dar, so macht schon diese Tatsache den Übergang von der Schätzungsmethode in Anlehnung an die VOL zu der Schätzungsmethode nach dem Vermögensvergleich erforderlich. Das ergibt sich gerade auch aus dem Urteil IV 515/56 U (BFHE 66, 132, BStBl III 1958, 52), das die Vorinstanz zur Begründung ihrer gegenteiligen Auffassung angeführt hat. Dem FA kann auch nicht entgegengehalten werden, es habe bei der ursprünglichen Schätzung in Anlehnung an die VOL bewußt darauf verzichtet, die tatsächlichen Gewinne zu ermitteln, es müsse daher die Tatsache des bei einer späteren Betriebsprüfung durch Vermögensvergleich ermittelten Mehrgewinns gegenüber dem ursprünglich geschätzten Gewinn gegen sich gelten lassen. Die Ermittlung der tatsächlichen Gewinne eines rechtmäßigen Schätzungslandwirts aufgrund eines Vermögensvergleiches unter Einschluß der Privatentnahmen ist dem FA im normalen Veranlagungsverfahren mangels jeglicher Unterlagen in der Regel nicht zuzumuten. Sie kann im allgemeinen nur im Zuge einer Betriebsprüfung durchgeführt werden (vgl. BFH-Urteil IV 249/59 U). Diesen Grundsatz haben auch die beiden BFH-Urteile IV 91/65 und IV R 236/69 nicht in Frage stellen wollen. Im letzteren Urteil hat zwar der Senat darauf hingewiesen, daß bei einer Gewinnschätzung in Anlehnung an die VOL der ermittelte Gewinn nur ein Durchschnittsgewinn ist, der mit dem richtigen Gewinn nicht übereinstimmen kann, da er auf keiner echten Ertragsberechnung beruht. Er hat daraus die Folgerung gezogen, daß dieses Inkaufnehmen des "in der Natur der Sache" liegenden Auseinanderklaffens zwischen veranlagtem Gewinn und wirklichem Gewinn zu einer Toleranzspanne nötigt, innerhalb deren eine Berichtigung einer solchen Veranlagung aufgrund der späteren Feststellungen durch eine Betriebsprüfung nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO nicht zulässig ist. Diese Toleranzspanne, die in der Regel bei 10 % des ursprünglich ermittelten Gewinns liegt, mindestens 1 000 DM betragen dürfte, soll aber nur die normalerweise vorhandenen Unterschiede zwischen den in Anlehnung an die VOL an sich fehlerfrei geschätzten Gewinnen und den später durch Vermögensvergleich genauer geschätzten Gewinnen unberücksichtigt lassen, und zwar auch deshalb, weil auch der durch Vermögensvergleich ermittelte Gewinn immerhin ein geschätzter Gewinn ist, der notwendigerweise mit Unsicherheitsfaktoren behaftet ist. Das kann aber dann nicht mehr gelten, wenn der später aufgrund einer genaueren Schätzungsmethode ermittelte Mehrgewinn so erheblich ist, daß er über die oben dargelegten nicht schädlichen Mehrgewinne hinausgeht und durch ihn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Nachweis für die offensichtliche Unrichtigkeit der ursprünglich geschätzten Betriebsergebnisse erbracht wird.
Erst wenn sich bei der Prüfung ergibt, daß eine Wiederaufrollung der Veranlagung aufgrund der Schätzungsmethode nach dem Vermögensvergleich nicht zulässig ist, weil sich die festgestellten Mehrgewinne schon bei der ursprünglichen Schätzung in Anlehnung an die VOL bei richtiger Durchführung der Schätzung, also bei Vornahme der notwendigen Korrekturen gegenüber der Gewinnermittlung nach der VOL ergeben hätten, oder weil die festgestellten Mehrgewinne nur geringfügig sind, muß geprüft werden, ob die Betriebsprüfung andere Tatsachen festgestellt hat, die auch bei Beibehaltung der Gewinnschätzung in Anlehnung an die VOL im Rahmen dieser Gewinnermittlung neue Tatsachen von einigem Gewicht darstellen, die zur Wiederaufrollung der Veranlagung berechtigen können.
So lag nämlich der Fall im Urteil des erkennenden Senats IV 91/65 hinsichtlich der Veranlagungszeiträume 1957 und 1958. Da der Senat eine neue Schätzung aufgrund eines Vermögensvergleiches aus den oben angeführten Gründen für unzulässig angesehen hat, war durch die Tatsacheninstanz zu prüfen, ob der festgestellte höhere Hackfruchtanteil so erheblich war, daß er eine neue Tatsache nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO innerhalb der Schätzung in Anlehnung an die VOL sein könnte.
Im vorliegenden Fall mußte also das FG nach den Grundsätzen der Urteile IV 91/65 und IV R 236/69 zuerst prüfen, ob das FA schon aufgrund der bei der Betriebsprüfung durch Vermögensvergleich (unter Hinzurechnung der Privatentnahmen) festgestellten Mehrgewinne berechtigt war, die bestandskräftigen Veranlagungen 1963 und 1964 nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO wiederaufzurollen; d. h. es mußte prüfen, ob diese Mehrgewinne dem Grunde und der Höhe nach zutreffend geschätzt wurden und nach den obigen Ausführungen so erheblich waren, daß sie für sich gesehen als neue Tatsache im Sinne des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO angesehen werden durften. Ist diese Frage zu bejahen - wie das FA mit der Revision behauptet -, so kommt es nicht mehr darauf an, ob die vom FG allein geprüften, von der Betriebsprüfung festgestellten anderen Tatsachen neue Tatsachen im Sinne von § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO waren, die zur Wiederaufrollung der Veranlagungen unter Beibehaltung der Gewinnermittlung in Anlehnung an die VOL berechtigten. Da das FG zu dieser Frage aufgrund seiner irrtümlichen Auslegung des BFH-Urteils IV 91/65 keine Feststellungen getroffen hat, ist die Sache nicht entscheidungsreif und muß deshalb zur erneuten Entscheidung an das FG zurückverwiesen werden.
Nur wenn das FG bei seiner erneuten Entscheidung die Zulässigkeit der Berichtigungsveranlagungen aufgrund der bei den neuen Schätzungen nach dem Vermögensvergleich ermittelten Mehrgewinne nach den dargelegten Grundsätzen verneinen sollte, wird es darauf ankommen, ob das FG von seinem Ausgangspunkt her für das Jahr 1963 zu Unrecht das Vorliegen neuer Tatsachen von einigem Gewicht verneint hat, wie das FA mit der Revision auch einwendet.
Fundstellen
Haufe-Index 70973 |
BStBl II 1974, 593 |
BFHE 1974, 228 |