Entscheidungsstichwort (Thema)

Aufhebung von Steuerbescheiden wegen rechtsstaatswidriger Besteuerung in der DDR

 

Leitsatz (NV)

Ein Verwaltungsakt ist unvereinbar mit rechtsstaatlichen Grundsätzen, wenn konkrete Umstände des Einzelfalls die Annahme einer politisch-sachwidrigen Motivation der DDR-Behörden, mithin einen Mißbrauch des Steuerrechts zu sachwidrigen Zwecken, nahelegen (Anschluß an BFH-Urteil vom 25. Januar 1995 X R 146/93). Die "einfache" Rechtswidrigkeit genügt nicht.

 

Normenkette

EinigVtr Art. 19 S. 2

 

Verfahrensgang

FG Mecklenburg-Vorpommern

 

Tatbestand

Der Kläger, Revisionskläger und Revisionsbeklagte (Kläger) war in der ehemaligen DDR wissenschaftlicher Mitarbeiter, zunächst in X und ab 1980 in Y. Im September 1984 leitete der Rat des Bezirks Z -- Abt. Finanzen/Steuerfahndung -- gegen den Kläger ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Verkürzung von Steuern und Abgaben ein. Er stehe im Verdacht, "sich durch den spekulativen Handel mit Briefmarken erheblich persönlich zu bereichern und vorsätzlich keine Steuern an den Staatshaushalt abzuführen". Dieser Verdacht wurde auf eine Vielzahl von Anzeigen zum An- und Verkauf von Briefmarken in Tageszeitungen gestützt.

Der Kläger war seit frühester Jugend Briefmarkensammler. Im Laufe der Zeit brachte er es zu einer Sammlung von beachtlichem Wert. Ein Gutachten bezifferte diesen Wert auf der Basis von Einzelhandelsverkaufspreisen im Jahr 1984 auf ... Mark. Hiergegen erhob der Kläger seinerzeit ausdrücklich keine Einwendungen. Der Gutachter gab an, die Bewertung der Briefmarken im Beisein des Klägers vorgenommen zu haben. Bei einigen Schätzungen seien die Handelspreise mit ihm abgestimmt worden.

In der Zeit von 1975 bis 1978 war der Kläger ohne festes Anstellungsverhältnis für den VEB ... tätig. Dieser Betrieb -- nach Angaben des Klägers der einzige Großhandelsbetrieb dieser Art in der früheren DDR (vgl. auch §§ 1, 2 der Anordnung über den Handel mit Sammlerbriefmarken, philatelistischem Material und Zubehör vom 1. März 1978, Gesetzblatt -- GBl -- DDR I 1978, S. 105) -- bot Briefmarken zum Ankauf in der Fachpresse an; er verkaufte auf DM-Basis auch in die Bundesrepublik Deutschland. Nach Angaben des Klägers betrug der Umsatz mit dem VEB in diesen Jahren ca. ... M. Die Gewinne habe er wieder für den Ankauf von Briefmarken verwendet. Den Gewinn gab er mit etwa 20 % des Umsatzes an. Für den VEB habe er immer nur auf Anfrage geliefert. Ihm sei es möglich erschienen, Steuern zahlen zu müssen. Doch habe er sich mit der Auskunft des Direktors des VEB A zufrieden gegeben, der ihm auf seine Frage versichert habe, daß seine Tätigkeit steuerfrei sei. A äußerte dazu, er sei zunächst davon ausgegangen, daß die Marken dem Kläger gehört hätten. Über eine Steuerpflicht beim Handel mit Briefmarken sei nicht gesprochen worden. Nachdem er erfahren habe, daß der Kläger Briefmarken in Zeitungsannoncen zu überhöhten Preisen angeboten habe, habe er die Ankäufe einstellt und die Geschäftsbeziehungen abgebrochen.

Für die Zeit von 1979 bis 1981 gab der Kläger zu Protokoll, daß er sich auf seine Promotion habe konzentrieren müssen. Bis November 1982 habe er keine Verkaufsanzeigen mehr aufgegeben. Seit dieser Zeit habe er nur noch Dubletten verkauft, um seine Sammlung vervollständigen zu können. In den Jahren 1981 und 1982 habe er jährliche Erlöse von etwa ... M erzielt. Eine Handelstätigkeit habe ihm ferngelegen; er sei stets darauf aus gewesen, seine Sammlung zu vervollständigen und zu erweitern.

Nach dem abschließenden Ermittlungsbericht des Steuerfahndungsdienstes vom 19. Dezember 1984 sollen nach den eigenen Angaben des Klägers die Einnahmen in der Zeit von 1979 bis 1984 mindestens ... M betragen haben. Seit 1982 habe die Intensität der Verkäufe zugenommen. Die Steuerfahndung erstellte eine Vermögenszuwachsrechnung, aus der sich bei einem Briefmarkenbestand zum 19. September 1984 im Werte von ... M (Großhandelsankaufspreis; 52 % des Einzelhandelsverkaufspreises) ein ungeklärter Vermögenszuwachs in dem Zeitraum von 1974 bis 1984 in Höhe von ... M ergab. Den Vermögenszuwachs setzte die Behörde mit dem Gewinn gleich und verteilte den Gewinn auf die Jahre 1975 bis 1984 in Beträgen zwischen ... M und ... M.

Unter dem 20. Dezember 1984 erging ein zusammengefaßter Steuerbescheid. Mit Urteil des Kreisgerichts Y vom 16. Mai 1985 wurde der Kläger wegen vorsätzlicher Steuerhinterziehung zu einer Geldstrafe von ... M verurteilt. Insgesamt hatte der Kläger nach Abschluß aller Verfahren (einschließlich Verzugszuschläge und Auslagen) einen Betrag von ca. ... M zu zahlen. Im Oktober 1985 war noch ein Betrag von ca. ... M offen, von dem die Eltern des Klägers einen Betrag von ... M übernahmen. Der Kläger selbst zahlte ... M. Den Restbetrag in Höhe von ca. ... M brachte der Kläger durch die Überlassung von Briefmarken auf.

Mit Beschluß vom 18. Dezember 1990 hob das Bezirksgericht B das gegen den Kläger ergangene Strafurteil auf. Die festgesetzten Steuern seien offensichtlich falsch berechnet worden, da von willkürlichen Gewinnen ausgegangen worden sei. Auch sei sich der Kläger einer Handelstätigkeit nicht bewußt gewesen.

Im Anschluß daran beantragte der Kläger, den zusammengefaßten Steuerbescheid gemäß Art. 19 Satz 2 des Einigungsvertrags (EinigVtr) aufzuheben. Den staatlichen Stellen sei es nur darum gegangen, seine Sammlung in die Hand zu bekommen und gegen Devisen zu veräußern. Er sei gezwungen gewesen, seine Sammlung zu 52 % des im Gutachten genannten Wertes abzugeben. Der Antrag wurde zurückgewiesen, der Einspruch hatte keinen Erfolg. Die Steuerfestsetzungen seien nach den Steuergesetzen der ehemaligen DDR ohne Gesetzesverstoß durchgeführt worden.

Das Finanzgericht (FG) gab der Klage teilweise statt; das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1995, 322 veröffentlicht. Beide Prozeßbeteiligte haben Revision eingelegt.

Mit seiner Revision rügt der Beklagte, Revisionskläger und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) sinngemäß Verletzung des Art. 19 Satz 2 EinigVtr.

1. Das FG habe übersehen, daß nach der Anordnung über die Einbeziehung der Kommissionshandelsbetriebe sowie der übrigen privaten Betriebe und der selbständig tätigen Bürger in das einheitliche System von Rechnungslegung und Statistik vom 14. Oktober 1970 (GBl DDR 1970 Sonderdruck Nr. 685) die §§ 4 bis 7 des Einkommensteuergesetzes (EStG) nicht mehr anzuwenden gewesen seien. Die Anordnung gelte auch für private Handelsbetriebe. Bestandsveränderungen seien danach in der Weise zu berücksichtigen gewesen, daß zum ermittelten Überschuß der Erlöse über die Kosten die am Jahresende vorhandenen Bestände zu addieren und die am Anfang des betreffenden Jahres vorhandenen Gesamtbestände abzuziehen gewesen seien.

2. Die Briefmarken hätten insgesamt zum Betriebsvermögen gehört. Eine Trennung der Briefmarken, die nur zur Sammlung gehört hätten, von solchen, die nur zum Verkauf bestimmt gewesen seien, habe der Kläger nicht darlegen können.

3. Die Annahme des Klägers, daß (nur) kalkulierte Umsatzsteuer auszuweisen gewesen sei, lasse die Tatsache außer acht, daß bei der DDR-Preisfestsetzung im Einzelhandelsverkaufspreis nur die Handelsspanne für alle Zuschläge (Umsatzsteuer, Gewerbesteuer usw.) gebräuchlich gewesen sei (§ 4 der Anordnung vom 1. März 1978, a. a. O.). Eine Gewerbesteuerbefreiung sei ausdrücklich in § 2 der Verordnung zur Ergänzung von Rechtsvorschriften über die Besteuerung privater Handwerker und Gewerbetreibender vom 5. April 1976 (GBl DDR 1976 Teil I, S. 193) festgelegt worden.

Das FA beantragt, das angefochtene Urteil teilweise aufzuheben und die Klage abzuweisen sowie die Revision des Klägers zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil teilweise aufzuheben und das FA zu verpflichten, den Bescheid hinsichtlich Einkommensteuer 1975 bis 1981, Umsatzsteuer 1975 bis 1984 und Vermögensteuer 1977 bis 1981 ersatzlos aufzuheben und hinsichtlich der Einkommensteuer 1982 bis 1984 den Kläger erneut zu bescheiden sowie die Revision des FA zurückzuweisen.

Das angefochtene Urteil verletze Art. 19 Satz 2 EinigVtr, §§ 76, 96, 102 der Finanzgerichtsordnung (FGO) sowie §§ 5, 88 Abs. 1 und 2 der Abgabenordnung (AO 1977).

1. Er, der Kläger sei privater Briefmarkensammler und nicht gewerblicher Händler gewesen. Umsatzsteuer habe auch deshalb nicht festgesetzt werden dürfen, weil ein privater Handelsbetrieb keine Umsatzsteuer zu entrichten gehabt habe, sofern in den Preisen, die den Umsätzen zugrunde gelegen hätten, keine Umsatzsteuer kalkuliert sei. Das sei bei dem Kläger der Fall gewesen. Zur Gewerbesteuer sei er aus diesem Grund ebenfalls nicht veranlagt worden. Die Tatsache, daß Dritte sich um die steuerlichen Belange des Klägers gekümmert hätten, mache es verständlich und entschuldbar, daß der Kläger es unterlassen habe, seine im Laufe der Zeit an Wert zunehmende private Briefmarkensammlung als einen Vermögensgegenstand anzusehen, für den er Vermögensteuer habe entrichten müssen.

2. Mangels Steuerhinterziehung seien die Steueransprüche 1975 bis 1981 verjährt gewesen. Gemäß § 144 der Reichsabgabenordnung DDR (RAO-DDR) habe die Verjährungsfrist für die hier in Betracht kommenden Steuern und Verzugszuschläge zwei Jahre, im Falle einer Steuerhinterziehung zehn Jahre betragen. Die Verjährung sei gemäß § 147 RAO-DDR dadurch unterbrochen worden, daß die Behörden der DDR am 17. September 1984 gegen den Kläger Ermittlungen eingeleitet hätten. Unter Berücksichtigung von § 97 a Abs. 5 RAO-DDR seien bei Beginn der steuerlichen Ermittlungen die Ansprüche auf Einkommen- und Vermögensteuern sowie Verzugszuschläge bis einschließlich des Kalenderjahres 1981 verjährt gewesen, denn eine Steuerhinterziehung habe nicht vorgelegen.

Das FA sei nicht darauf eingegangen, daß der Beschluß des Bezirksgerichts B es als geradezu abwegig bezeichnet habe, auch nur von bedingtem Vorsatz zu sprechen. Dadurch habe das FA sein Ermessen unterschritten.

Das FG führe in seinem Urteil aus, es sei vertretbar gewesen, daß die DDR-Behörden in den Steuerbescheiden das Verhalten des Klägers als vorsätzlich angesehen hätten. Bei diesem Gedanken hätte das FG nicht stehen bleiben dürfen. Es hätte sich fragen müssen, wie sich die Aufhebung des Strafurteils ausgewirkt habe, da den Steuer bescheiden der DDR-Behörden eine wesentliche Grundlage entzogen worden sei. Das FG sei verpflichtet gewesen, seinerseits die Frage vorsätzlichen Verhaltens des Klägers zu prüfen, nachdem der Kläger ausdrücklich auf den Kassationsbeschluß hingewiesen gehabt habe. Dabei hätte das Gericht berücksichtigen müssen, daß das FA auch im Rahmen seiner Ermessensentscheidung die objektive Beweislast für die strafrechtlichen Tatbestandsmerkmale einer Steuerhinterziehung trage.

Es sei mit rechtsstaatlichen Grundsätzen i. S. des Art. 19 Satz 2 EinigVtr schlichtweg unvereinbar, wenn Steuern festgesetzt würden, obwohl die Steueransprüche von vornherein nicht bestanden hätten oder verjährt gewesen seien. Aus diesen Gründen hätte das FG das FA verpflichten müssen, die Bescheide der Behörden der ehemaligen DDR ersatzlos aufzuheben.

3. Es sei ferner mit rechtsstaatlichen Grundsätzen i. S. von Art. 19 EinigVtr unvereinbar, im Wege willkürlicher Subsumtion die Sammlertätigkeit des Klägers in den Jahren 1982 bis 1984 als gewerblich einzuordnen. Zwar gehe auch das FG davon aus, daß der Kläger in diesem Zeitraum, in dem er nicht mehr Briefmarken an den VEB verkauft habe, lediglich tätig gewesen sei, um seine eigene Sammlung zu vervollständigen und zu vergrößern. Das FG meine aber, der Kläger habe die "üblichen Sammleraktivitäten" überschritten. Folglich sei grundsätzlich nichts dagegen einzuwenden, daß die DDR-Behörden bei dem Kläger eine Händlertätigkeit angenommen hätten. FA und FG hätten nicht beachtet, daß nur das von den DDR-Behörden verfolgte Ziel die Tätigkeit des Klägers als gewerblich habe erscheinen lassen, nämlich ihn mit einer schweren Geldstrafe und einer hohen Steuerforderung zu belasten, um ihn zu zwingen, seine Briefmarkensammlung an staatliche Stellen zu verkaufen. Demgegenüber lägen die vom Bundesfinanzhof (BFH) für eine Händlertätigkeit verlangten Kriterien gerade nicht vor. Bei der Tätigkeit des Klägers habe es sich immer um eine private Sammlertätigkeit gehandelt. Die DDR-Behörden hätten den Kläger mutwillig mit Strafe und Steuer belegt. Den DDR-Behörden sei es darum gegangen, sich unter dem Vorwand einer Steuerzahlungspflicht dessen Briefmarkensammlung zu bemächtigen.

4. Die Revision des FA sei zurückzuweisen, da das FG zu Recht die Erfassung bloßer Wertsteigerungen als schweren Verstoß gegen die DDR-Steuergesetze beurteilt habe. Auch unter dem Recht der ehemaligen DDR sei eindeutig zwischen Privat- und Betriebsvermögen getrennt worden. Eine Besteuerung des Privatvermögens unter dem Gesichtspunkt des Vermögenszuwachses sei mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar. Vorhandene Briefmarken eines Sammlers, die zum Kauf und Tausch angeboten worden seien, gehörten nicht zum Betriebsvermögen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des FA ist begründet. Sie führt gemäß § 126 Abs. 3 Nr. 1 FGO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils, soweit es die Einkommensteuerfestsetzungen 1975 bis 1984 und die darauf entfallenden Verzugszuschläge betrifft, und zur Abweisung der Klage. Die Revision des Klägers wird gemäß § 126 Abs. 2 FGO als unbegründet zurückgewiesen. Entgegen der Auffassung des FG kommt eine Änderung des angefochtenen Bescheides gemäß Art. 19 Satz 2 EinigVtr nicht in Betracht.

1. Gemäß Art. 19 Satz 2 EinigVtr können vor dem Wirksamwerden des Beitritts ergangene Verwaltungsakte der DDR aufgehoben werden, wenn sie mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar sind. Der X. Senat des BFH hat sich -- zeitlich nach dem Ergehen der Vorentscheidung des vorliegenden Verfahrens -- in einer grundlegenden Entscheidung mit der Auslegung des Art. 19 Satz 2 EinigVtr befaßt. Nach diesem Urteil (vom 25. Januar 1995 X R 146/93, BFHE 177, 317, BStBl II 1995, 686) ist ein von DDR-Behörden erlassener Steuerbescheid mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar, wenn er sich bei einer Würdigung seines Inhalts und der seinen Erlaß begleitenden Gesamtumstände nach dem nicht widerlegten äußeren Anschein als mutmaßlich politisch motivierte Willkürmaßnahme darstellt. Dort heißt es weiter: Nach Auffassung des erkennenden Senats bedarf Art. 19 EinigVtr einer Auslegung, die zum einen dem in Satz 1 zum Ausdruck kommenden Ziel Rechnung trägt, "vor- rechtsstaatliche" Entscheidungen der öffentlichen Verwaltung grundsätzlich wirksam bleiben zu lassen. Zum anderen ist es erforderlich, die Generalklausel des Art. 19 Satz 2 EinigVtr in ein Gesamtsystem einer Bewältigung des vielfältigen und vielgestaltigen DDR-Unrechts ... einzuordnen und darüber hinaus zur besseren Handhabbarkeit rechtstechnisch zu präzisieren. ... "Unvereinbar mit rechtsstaatlichen Grundsätzen" sind hiernach jedenfalls Verwaltungsakte, die einen Bezug zu einer alltäglichen sozialistischen "Gesetzlichkeit" nicht mehr erkennen lassen, weil sie ... das Willkürverbot verletzen und/oder gegen das Gebot der Verhältnismäßigkeit verstoßen. Solches ist vor allem dann anzunehmen, wenn ein Verwaltungsakt an schwerwiegenden Rechtsfehlern leidet und konkrete Umstände des Einzelfalls die Annahme einer politisch-sachwidrigen Motivation der DDR- Behörden, mithin einen Mißbrauch des Steuerrechts zu sachwidrigen Zwecken, nahelegen. Unter dieser Voraussetzung kann es nicht dem Steuerpflichtigen obliegen nachzuweisen, daß eine vor allem politisch motivierte Willkür tatsächlich ursächlich für eine gesetzwidrige Besteuerung war. ... Auf der Grundlage des EinigVtr ist eine Reihe von Gesetzen zur Aufarbeitung einer "vor-rechtsstaatlichen Vergangenheit" geschaffen worden. Das Recht der Rehabilitierung bietet Anhaltspunkte dafür, daß Maßnahmen insbesondere der politisch motivierten Willkür und die Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nicht hingenommen werden. ... Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über die Aufhebung rechtsstaatswidriger Verwaltungsentscheidungen im Beitrittsgebiet und die daran anknüpfenden Folgeansprüche (Verwaltungsrechtliches Rehabilitierungsgesetz -- VwRehaG -- vom 23. Juni 1994, BGBl I 1994, 1311) sind bestimmte Maßnahmen von Behörden der ehemaligen DDR auf Antrag aufzuheben, "soweit sie mit tragenden Grundsätzen eines Rechtsstaats schlechthin unvereinbar (sind) und ihre Folgen noch unmittelbar schwer und unzumutbar fortwirken". Mit den tragenden Grundsätzen eines Rechtsstaates unvereinbar sind "Maßnahmen, die in schwerwiegender Weise gegen die Prinzipien der Gerechtigkeit, der Rechtssicherheit oder der Verhältnismäßigkeit verstoßen und die der politischen Verfolgung gedient oder Willkürakte im Einzelfall dargestellt haben" (§ 1 Abs. 2 VwRehaG). ... Zu den rechtsstaatlichen Grundsätzen, die eine Aufhebung rechtfertigen, rechnet die Begründung zum Regierungsentwurf die Elemente des formellen Rechtsstaatsbegriffs und die materiellen Elemente Gerechtigkeit, Rechssicherheit und Verhältnismäßigkeit. Nur Verstöße erheblicher Intensität vermögen diesen Kernbestand zu verletzen. Ein besonderes Indiz für einen solchen Verstoß sind Maßnahmen der politischen Verfolgung oder Willkürakte im Einzelfall. ... Das VwRehaG findet keine Anwendung u. a. auf Verwaltungsentscheidungen in Steuersachen (§ 1 Abs. 1 Satz 2 VwRehaG). Die Begründung zum Regierungsentwurf (BTDrucks 12/4994, S. 22) führt hierzu aus, für den Bereich der Steuerverwaltung habe der Bundesminister der Finanzen im Schreiben vom 8. August 1991 (BStBl I 1991, 793) die Voraussetzungen für die Anwendung des Art. 19 EinigVtr festgelegt. Die dort aufgestellten Grundsätze für ein Wiederaufgreifen abgeschlossener Verfahren entsprächen "weitgehend den Regelungen des VwRehaG".

2. Der zusammengefaßte Steuerbescheid vom 20. Dezember 1984 ist nicht mit in diesem Sinne definierten rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar.

a) Der An- und Verkauf von Briefmarken ist zu Recht als gewerbliche Tätigkeit beurteilt worden. Der Kläger war selbständig und nachhaltig tätig; er beteiligte sich am allgemeinen wirtschaftlichen Verkehr. Seine Tätigkeit überschritt die Grenze privater Vermögensverwaltung. Daß die Gewinnerzielungsabsicht möglicherweise nur ein Nebenzweck war, steht dieser Beurteilung nicht entgegen. Zur privaten Vermögensverwaltung gehört zwar auch eine gelegentliche Vermögensumschichtung. Steht jedoch -- wie im Streitfall insbesondere im Hinblick auf die Belieferung des VEB -- die Ausnutzung substantieller Vermögenswerte durch Umschichtung in einer Weise im Vordergrund, wie es bei einer Handelstätigkeit der Fall ist, so ist die Tätigkeit ein Gewerbebetrieb (vgl. BFH-Urteil vom 7. Februar 1990 I R 173/85, BFH/NV 1991, 685; Schmidt, Einkommensteuergesetz, 14. Aufl., 1995, § 15 Rz. 50).

b) Der Bescheid mag nach dem damals geltenden Recht der DDR rechtswidrig gewesen sein.

aa) In der Vermögenszuwachsrechnung setzte die Behörde nicht den durch einen Gutachter ermittelten Wert von ... M an, sondern bewertete den Briefmarkenbestand nur (zugunsten des Klägers) mit dem Großhandelskaufpreis, der 52 % dieses Wertes betrug. Die Behörde hat damit aber offenbar die (aktuellen) Ankaufspreise des VEB angesetzt, die möglicherweise nicht den Anschaffungskosten des Klägers entsprachen. Nach § 18 Abs. 1 der Anordnung vom 14. Oktober 1970 über die Einbeziehung der Kommissionshandelsbetriebe sowie der übrigen privaten Betriebe und der selbständig tätigen Bürger in das einheitliche System von Rechnungsführung und Statistik (GBl DDR 1970, Sonderdruck Nr. 685) in der Neufassung auf Grund der Anordnung Nr. 2 vom 29. Dezember 1972 über die Einbeziehung der Kommissionshändler sowie der übrigen privaten Betriebe in das einheitliche System von Rechnungsführung und Statistik (GBl DDR 1973 I S. 60) waren Materialbestände zu Einkaufspreisen zu bewerten. Nach der vom Zentralen Arbeitskreis für Rechnungslegung und Statistik dazu herausgegebenen Erläuterung durften Handelsbetriebe bei der Bewertung von Handelswaren von den Verkaufspreisen ausgehen und daraus, unter Anwendung der durchschnittlichen Handelsspanne des laufenden Jahres, den Wertansatz für diesen Bestand ermitteln. Dieses Verfahren entspricht in gewisser Weise dem sog. Verkaufswertverfahren, das eine sog. retrograde Ermittlung der Anschaffungskosten zuläßt. Da die Ermittlung des effektiven Wareneinstandspreises, insbesondere bei großen Warenlagern, schwierig sein kann, können die Anschaffungskosten in diesen Fällen durch Rückrechnung (ausgezeichneter Verkaufspreis ./. Rohgewinn = errechneter Wareneinstandspreis) ermittelt werden (vgl. BFH-Urteile vom 27. Oktober 1983 IV R 143/80, BFHE 139, 282, BStBl II 1984, 35, und vom 5. Juni 1985 I R 65/82, BFH/NV 1986, 204). Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, daß die Behörde die Anschaffungskosten nur im Wege der Schätzung ermitteln konnte und daher gewisse Unsicherheiten zwangsläufig in Kauf zu nehmen waren.

bb) Für die Jahre 1979 bis 1983 nahm die Behörde höhere Gewinne als Umsätze an. Der Behörde ging es dabei jedoch offenbar weniger um die zutreffende Gewinnermittlung für das einzelne Jahr, als vielmehr darum, den für den Zeitraum 1974 bis 1984 ermittelten ungeklärten Vermögenszuwachs auf die einzelnen Jahre zu verteilen.

cc) Ob der Kläger einzelne Bestände in seinem Privatvermögen gehalten hat, ist eher zweifelhaft. Grundsätzlich gehören branchengleiche Wirtschaftsgüter, mit denen ein Kaufmann gewerbsmäßig handelt, zu seinem Betriebsvermögen (vgl. Entscheidungen des BFH vom 9. Mai 1963 V 165/60, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung -- HFR -- 1964, 61; vom 19. Januar 1977 I R 10/74, BFHE 121, 199, BStBl II 1977, 287; vom 18. März 1982 IV R 183/78, BFHE 136, 76, BStBl II 1982, 587; vom 28. Juli 1982 I S 9/82, nicht veröffentlicht). Das schließt es zwar nicht generell aus, in diesem Bereich auch Privatvermögen zu erwerben. Der Unternehmer muß jedoch anhand konkreter Umstände darlegen, daß er bestimmte Wirtschaftsgüter eindeutig von seinem betrieblichen Bereich getrennt hat. Im Streitfall deutet der vom FG festgestellte Sachverhalt nicht darauf hin, daß der Kläger eine Trennung vorgenommen hat.

dd) Es ist nicht eindeutig, ob der Kläger den Tatbestand der Steuerhinterziehung vorsätzlich verwirklicht hat und die Behörde aufgrund dessen von einer entsprechend längeren Verjährungsfrist ausgehen durfte. Immerhin ist es dem Kläger nach den Feststellungen des FG selbst als möglich erschienen, Steuern zahlen zu müssen.

ee) Die Umsatzsteuerfestsetzung stützt sich auf das Umsatzsteuergesetz (UStG DDR) i. d. F. vom 18. September 1970 (GBl DDR 1970, Sonderdruck Nr. 673). Nach § 1 Nr. 1 UStG DDR unterliegen der Umsatzsteuer die Lieferungen und sonstigen Leistungen, die ein Unternehmer in der DDR gegen Entgelt im Rahmen seines Unternehmens ausführt. Nach einer Fußnote zu dieser Regelung haben die Betriebe mit staatlicher Beteiligung sowie private Industrie-, Bau-, Verkehrs- und Handelsbetriebe, private Handwerker Umsatzsteuer nicht zu entrichten, wenn in den Preisen, die den Umsätzen zugrunde liegen, keine Umsatzsteuer kalkuliert ist. Es ist nicht klar, welche Rechtsqualität dieser Fußnote beizumessen ist. Ebenso ist unklar, ob der Inhalt der Fußnote generell gelten sollte oder nur in den Fällen, in denen die Verkaufspreise wie vorgeschrieben festgesetzt wurden, wie z. B. der Einzelhandelsverkaufspreis für Sammlerbriefmarken durch das Ministerium für Handel und Versorgung festgesetzt wurde (vgl. § 4 Abs. 4 der Anordnung vom 1. März 1978, a. a. O.).

ff) Im Hinblick auf die Festsetzung der Vermögensteuer kann sich der Kläger nicht darauf berufen, daß er das Vermögensteuergesetz der DDR nicht gekannt habe. Diese Unkenntnis ist für die Steuerfestsetzung ohne Belang.

c) Die dargestellte (mögliche) Rechtswidrigkeit des zusammengefaßten Bescheides beruht jedoch "nur" auf (einfacher) fehlerhafter Rechtsanwendung. Sie ist nicht Ausdruck einer politisch motivierten Willkürmaßnahme und nicht mit tragenden Grundsätzen eines Rechtsstaats schlechthin unvereinbar. Das gilt auch für die Frage der Verjährung. Selbst die offensichtliche Unrichtigkeit eines Bescheides führt nicht zwangsläufig zu dessen Unvereinbarkeit i. S. des Art. 19 EinigVtr. Der Auffassung des Klägers, daß es den DDR-Behörden nur darum gegangen sei, sich in den Besitz seiner Briefmarkensammlung zu bringen, kann -- auf der Grundlage der vom FG getroffenen Feststellungen -- nicht gefolgt werden. Der Kläger hat selbst eingeräumt, in den Jahren 1975 bis 1978 Umsätze in Höhe von ca. ... M getätigt zu haben. In den Jahren 1981 und 1982 erzielte er nach seinen eigenen Angaben jährlich Erlöse von je ... M; die Erlöse der Jahre 1979 bis 1984 hätten mindestens ... M betragen. Nach den Feststellungen des FG war der Kläger nicht gezwungen, seine gesamte Briefmarkensammlung abzugeben. Vielmehr leistete er nur einen Restbetrag von ca. ... M durch die Überlassung von Briefmarken. Die ungefähre Übereinstimmung des Großhandelsverkaufspreises der Briefmarkensammlung mit den Beträgen, die der Kläger insgesamt zu entrichten hatte, ist daher zufällig und erlaubt keinen Rückschluß auf die Absicht, den Kläger willkürlich um seine Briefmarkensammlung zu bringen. Selbst wenn den Behörden der ehemaligen DDR bei Erlaß des zusammengefaßten Bescheides die dargestellten Fehler unterlaufen sein sollten, führt dies nicht zu dessen Unvereinbarkeit mit rechtsstaatlichen Grundsätzen. Die gegen den Kläger geltend gemachten Steueransprüche waren dem Grunde nach berechtigt; es kann nicht davon ausgegangen werden, daß die Behörden die Steuerforderungen willkürlich erhoben, um den Kläger zum Verkauf seiner Briefmarkensammlung zu zwingen.

d) Dieser Beurteilung steht nicht entgegen, daß das gegen den Kläger ergangene Strafurteil kassiert worden ist. Das Bezirksgericht B hat seine Entscheidung auf § 311 Abs. 2 Nr. 1 der Strafprozeßordnung DDR gestützt, der vorsah, daß eine Entscheidung aufgehoben werden kann, wenn sie auf einer schwerwiegenden Verletzung des Gesetzes beruht; demgegenüber stellt Art. 19 EinigVtr auf die Unvereinbarkeit mit rechtsstaatlichen Grundsätzen ab. Darüber hinaus ist das FA ohnehin nicht an die Beurteilung des Strafgerichts gebunden. Das FA war berechtigt, eine eigene Entscheidung zu treffen, die von der des Strafgerichts abweichen kann.

 

Fundstellen

Haufe-Index 421487

BFH/NV 1996, 874

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