Leitsatz (amtlich)
Macht ein Steuerpflichtiger in seiner Einkommensteuererklärung oder den dieser beigefügten Unterlagen keine Angaben über die Veräußerung seines Unternehmens, so liegt darin eine erhebliche Verletzung seiner Erklärungspflicht.
Wird das Veräußerungsgeschäft nachträglich bekannt, steht Treu und Glauben wegen der Schwere der Erklärungspflichtverletzung der Änderung des Steuerbescheids auch dann nicht entgegen, wenn das FA den Veräußerungsvorgang vor dem Erlaß des geänderten Bescheids hätte ermitteln können.
Orientierungssatz
Der Grundsatz von Treu und Glauben verbietet dem FA, unter Berufung auf das nachträgliche Bekanntwerden einer Tatsache einen Änderungsbescheid nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 zu erlassen, wenn dem FA die Tatsache vor dem Erlaß des zu ändernden Bescheids infolge Verletzung der ihm obliegenden Ermittlungspflicht (zunächst) unbekannt geblieben ist und der Steuerpflichtige die ihn treffende Mitwirkungspflicht in zumutbarem Umfang erfüllt hat. Liegt sowohl eine Verletzung der Ermittlungspflicht durch das FA als auch eine Verletzung der Mitwirkungspflicht durch den Steuerpflichtigen vor, so sind die beiderseitigen Pflichtverletzungen grundsätzlich gegeneinander abzuwägen (vgl. FG-Rechtsprechung und BFH-Rechtsprechung).
Normenkette
AO 1977 § 90 Abs. 1, § 173 Abs. 1 Nr. 1
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) betrieb in eigenen Räumen auf ihm gehörenden Grund und Boden eine Druckerei. Im Jahre 1977 veräußerte er die Druckerei für 45 000 DM. Nicht mitveräußert wurde der Grund und Boden und das Gebäude, die Geschäftsanteile an einer Bank, der Kassenbestand, Bank- und Kundenforderungen sowie das Kfz. Die Verbindlichkeiten wurden von den Käufern ebenfalls nicht übernommen. Den für die Druckerei genutzten Grundstücksanteil vermietete der Kläger an die Käufer.
In der Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 1977 gaben der Kläger und seine Ehefrau einen laufenden Gewinn aus Gewerbebetrieb an. Er entsprach dem beigefügten Jahresabschluß, der zum 31.Dezember 1977 erstellt war, also auch die Zeit nach dem Übergang des Betriebs umfaßte. Unter den Erlösen war ein "Erlös ... OHG" mit 45 000 DM ausgewiesen. Erkennbar war außerdem, daß zum Bilanzstichtag Waren und die veräußerten Wirtschaftsgüter des Anlagevermögens nicht mehr erfaßt waren. Einen Veräußerungsgewinn erklärte der Kläger jedoch nicht. Er wies auch nicht ausdrücklich auf die Veräußerung hin und legte auch den Unternehmenskaufvertrag nicht vor.
Schon vor der Abgabe der Steuererklärung hatte der steuerliche Berater des Klägers in einem Schreiben vom 1.Juni 1979, in dem er für den Kläger und andere Mandanten die Verlängerung der Abgabefrist für die Steuererklärungen 1977 beantragt hatte, dem Finanzamt (FA) mitgeteilt, daß bei dem Kläger ein spezielles Problem, nämlich die "Veräußerung des Druckereibetriebes" dazu geführt habe, daß er, der steuerliche Berater, den vorher gesetzten Abgabetermin nicht habe einhalten können. Eine Kopie dieses Schreibens ist in der Einkommensteuerakte vor der Einkommensteuererklärung abgeheftet.
Der Beklagte und Revisionskläger (das FA) veranlagte den Kläger und seine Ehefrau mit Bescheid vom 7.September 1979 zusammen zur Einkommensteuer für das Streitjahr. Dabei setzte das FA den Gewinn aus Gewerbebetrieb wie vom Kläger erklärt an. Der Bescheid wurde bestandskräftig.
Im Jahre 1983 fand bei dem Kläger eine Außenprüfung statt, die auch auf das Streitjahr erstreckt wurde. Der Prüfer gelangte zu der Auffassung, der Kläger habe seinen Betrieb zum 30.September 1977 aufgegeben. Auf dieser Grundlage ermittelte er einen niedrigeren laufenden Gewinn aus Gewerbebetrieb, aber zusätzlich einen hohen Veräußerungsgewinn durch die Überführung von Vermögensgegenständen, insbesondere des vormals gewerblich genutzten Grundstücksteils in das Privatvermögen. Veräußerungsgewinn und laufender Gewinn zusammen beliefen sich danach auf 510 115 DM. Diesen Gewinn legte das FA einer geänderten Einkommensteuerfestsetzung für 1977 zugrunde.
Mit der nach erfolglosem Einspruch erhobenen Klage machte der Kläger geltend, das FA sei nicht befugt gewesen, den ursprünglichen Einkommensteuerbescheid zu ändern; denn ihm sei die Tatsache, daß er sein Druckereigeschäft veräußert habe, nicht erst durch die Prüfung bekanntgeworden, sondern schon vor Erlaß des ursprünglichen Einkommensteuerbescheids bekannt gewesen.
Die Klage hatte Erfolg. Das Finanzgericht (FG) hob den Änderungsbescheid und die Einspruchsentscheidung auf. Zur Begründung seiner Entscheidung führte es aus: Dem FA seien keine zu einer höheren Steuerfestsetzung führenden Tatsachen nachträglich bekanntgeworden, wie dies § 173 Abs.1 Nr.1 der Abgabenordnung (AO 1977) für eine höhere Steuerfestsetzung voraussetze. Das Schreiben des steuerlichen Beraters des Klägers vom 1.Juni 1979, mit dem Verlängerung der Abgabefrist für die Steuererklärung 1977 beantragt worden sei, enthalte einen Hinweis auf die Veräußerung des Druckereibetriebs. Der Hinweis kennzeichne den Vorgang auch "deutlich" als einen solchen des Jahres 1977. Denn er werde als ein Problem bezeichnet, das die Erstellung der Steuererklärung für 1977 verzögert habe. Das sei auf den Inhalt der Erklärung bezogen zu verstehen. - "Das Finanzamt" habe von der Veräußerung Kenntnis erlangt, weil das Schreiben vom 1.Juni 1979 an die zuständige Stelle im FA gelangt sei. Zuständig sei im Streitfall Oberregierungsrat A gewesen. Er sei Vertreter des Vorstehers und nach der vom FA geschilderten organisatorischen Regelung habe es zu seinen Aufgaben gehört, Anträge, die die Abgabefristen für Steuererklärungen betrafen, zu bearbeiten. Diese Tätigkeit gehöre materiell zu den Aufgaben des Veranlagungsbezirks. Im übrigen müsse davon ausgegangen werden, daß der Sachbearbeiter im Veranlagungsbezirk das Schreiben vom 1.Juni 1979 bei der Bearbeitung der Steuererklärung des Klägers für 1977 gekannt habe. Denn das Schreiben sei in den Akten vor der Steuererklärung abgeheftet und daher als bekannt anzusehen. Hinzu kämen die Angaben im Jahresabschluß für 1977 --kein Warenbestand mehr, Abgang der Geschäftseinrichtung--, die der Sachbearbeiter des Veranlagungsbezirks auch zur Kenntnis genommen habe. Auch daraus ergebe sich die Kenntnis des FA von der Veräußerung der Druckerei.
Mit seiner Revision rügt das FA Verletzung des § 173 Abs.1 Nr.1 AO 1977.
Das FA beantragt, die Einkommensteuerschuld 1977 auf 124 233 DM festzusetzen und die Klage im übrigen abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Das FG-Urteil sei zutreffend. Der Sachbearbeiter der Veranlagungsstelle habe von den Angaben im Jahresabschluß 1977 (kein Warenbestand, Abgang der Geschäftseinrichtung) Kenntnis genommen. Dieses Wissen sei dem FA zuzurechnen, so daß die Voraussetzungen des § 173 Abs.1 Nr.1 AO 1977 nicht erfüllt seien. Auch durch die Kenntnis des Oberregierungsrats A von dem Schreiben vom 1.Juni 1979 als des für die Fristverlängerungen zuständigen Beamten sei dem FA die Veräußerung der Druckerei bekannt geworden; denn Oberregierungsrat A sei der Vertreter des Vorstehers. Die Mitteilung in dem Fristverlängerungsantrag sei auch keine "verdeckte Mitteilung" in einem "anderen Zusammenhang"; der vom FG Bremen vom 10.Januar 1967 I 92-98/64 (Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 1967, 425) entschiedene Fall sei insofern nicht vergleichbar, als dort die fragliche Tatsache in einer Mitteilung über die Vergütung eines Dritten enthalten gewesen sei.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG. Das FA ist im Ergebnis zutreffend von einer nachträglich bekannt gewordenen Tatsache ausgegangen, die es zum Erlaß des angefochtenen Änderungsbescheids berechtigte.
1. Nach § 173 Abs.1 Nr.1 AO 1977 sind Steuerbescheide zu ändern, soweit Tatsachen nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen.
Das FG ist zu der Auffassung gelangt, dem FA sei die Veräußerung der Druckerei als Vorgang des Jahres 1977 bereits durch das Schreiben vom 1.Juni 1979 und durch die Bilanz auf den 31.Dezember 1977 bekannt geworden.
Dem vermag sich der Senat nicht anzuschließen. Zwar binden Tatsachenfeststellungen des FG, zu denen auch Schlußfolgerungen tatsächlicher Art gehören (vgl. Gräber, Finanzgerichtsordnung, § 118 Rdnr.8) grundsätzlich den Bundesfinanzhof (BFH) als Revisionsgericht (§ 118 Abs.2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Das gilt jedoch nicht, wenn die Feststellungen unter Verletzung der Denkgesetze oder von allgemeinen Erfahrungssätzen zustande gekommen sind (Gräber, a.a.O., Rdnr.10). Solche Verstöße sind Fehler bei der Rechtsanwendung, die das Revisionsgericht korrigieren kann.
Weder in dem Schreiben vom 1.Juni 1979 noch in der Bilanz auf den 31.Dezember 1977 wird ausdrücklich mitgeteilt, die Druckerei sei im Jahre 1977 veräußert worden. Das FG hat zu dem Schreiben vom 1.Juni 1979 ausgeführt, der "Hinweis" auf "die Veräußerung des Druckereibetriebs" kennzeichne den Vorgang deutlich als einen solchen des Jahres 1977, da er als Problem gekennzeichnet werde, das die Erstellung der Steuererklärung für 1977 verzögert habe. Diese an sich mögliche Würdigung des Schreibens vom 1.Juni 1979 zeigt, daß auch das FG eine unmittelbare Aussage über den Veräußerungszeitpunkt in dem Schreiben nicht gefunden hat. Das FA konnte nur durch eine Überlegung, wie sie das FG angestellt hat, auf den Zeitpunkt der Veräußerung rückschließen. Da auch die vom FA geltend gemachte Deutung des Schreibens, es handele sich um einen Vorgang des Jahres 1979, nicht abwegig erscheint, hätte sich das FA nur durch weitere Sachaufklärung über den Veräußerungszeitpunkt Gewißheit verschaffen können.
Rechtsfehlerhaft ist auch die Folgerung des FG, dem FA sei die Veräußerung als Vorgang des Jahres 1977 deshalb bekannt gewesen, weil in der Bilanz auf den 31.Dezember 1977 kein Warenbestand und keine Geschäftseinrichtung mehr angesetzt gewesen seien. Auch diese Umstände gestatten keinen sicheren Rückschluß auf die Ursachen für das ungewöhnliche Bilanzbild. Auch hier hätte sich das FA nur durch weitere Sachaufklärung Kenntnis von der Ursache dafür verschaffen können.
Ist die Veräußerung der Druckerei als Geschäftsvorfall des Jahres 1977 dem FA weder durch das Schreiben vom 1.Juni 1979 noch durch die Bilanz auf den 31.Dezember 1977 mitgeteilt worden, kann diese Tatsache ihm nach den Umständen des Streitfalles erst nach der Durchführung der erstmaligen Einkommensteuerveranlagung für 1977, also nachträglich bekanntgeworden sein.
2. Auch Treu und Glauben stehen dem Erlaß des angefochtenen Änderungsbescheids nicht entgegen.
Der auch im Steuerschuldrecht geltende Grundsatz von Treu und Glauben verbietet dem FA, unter Berufung auf das nachträgliche Bekanntwerden einer Tatsache einen Änderungsbescheid nach § 173 Abs.1 Nr.1 AO 1977 zu erlassen, wenn dem FA die Tatsache vor dem Erlaß des zu ändernden Bescheids in Folge Verletzung der ihm obliegenden Ermittlungspflicht (zunächst) unbekannt geblieben ist (vgl. BFH-Urteile vom 5.Dezember 1958 VI 296/57 S, BFHE 68, 223, BStBl III 1959, 86; vom 11.Juli 1978 VIII R 120/75, BFHE 125, 488, BStBl II 1979, 57; zu § 173 Abs.1 Nr.1 AO 1977: Niedersächsisches FG vom 23.August 1982 V 435/81, EFG 1983, 211; BFH-Urteil vom 13.November 1985 II R 208/82, BFHE 145, 487, BStBl II 1986, 241); diese Einschränkung der Änderungsbefugnis greift indes nur ein, wenn der Steuerpflichtige die ihn treffende Mitwirkungspflicht, insbesondere die Steuererklärungspflicht (§§ 90, 150 AO 1977) in zumutbarem Umfang erfüllt hat (vgl. BFHE 68, 223, BStBl III 1959, 86; BFH-Urteile vom 20.Januar 1959 I 155/57 U, BFHE 68, 581, BStBl III 1959, 221; vom 9.Juli 1964 IV 342/61 U, BFHE 80, 52, BStBl III 1964, 492; vom 14.Dezember 1967 IV 57/65, BFHE 91, 21, BStBl II 1968, 192). Liegt sowohl eine Verletzung der Ermittlungspflicht durch das FA als auch eine Verletzung der Mitwirkungspflicht durch den Steuerpflichtigen vor, so sind die beiderseitigen Pflichtverletzungen grundsätzlich gegeneinander abzuwägen (BFH-Urteil vom 19.Oktober 1971 VIII R 27/66, BFHE 103, 404, BStBl II 1972, 106; Niedersächsisches FG, EFG 1983, 211).
Die FÄ dürfen grundsätzlich darauf vertrauen, daß die Angaben der Steuerpflichtigen in den Steuererklärungen und den diesen beigefügten Anlagen in tatsächlicher Hinsicht richtig und vollständig sind. Im Hinblick darauf bestehen erhebliche Bedenken gegen die Folgerung des FG, das FA habe im Streitfall seine Ermittlungspflicht verletzt, zumal das FG nicht hat feststellen können, ob dem zuständigen Veranlagungsbeamten das Schreiben vom 1.Juni 1979 bei den Veranlagungsarbeiten vorgelegen hat. Die Frage kann indes offenbleiben, da jedenfalls das Fehlverhalten des Steuerpflichtigen bzw. das ihm zuzurechnende Fehlverhalten seines steuerlichen Beraters deutlich schwerer wiegt als die Unterlassung möglicherweise gebotener Ermittlungshandlungen durch das FA, so daß Treu und Glauben dem Erlaß des Änderungsbescheids nicht entgegenstanden.
Der Kläger war zur Abgabe einer Steuererklärung unter Beifügung der Vermögensübersicht verpflichtet. Nach § 90 AO 1977 sind die Beteiligten zur Mitwirkung bei der Ermittlung des Sachverhalts, insbesondere zur Abgabe von Steuererklärungen verpflichtet (§§ 90, 149 ff. AO 1977). Sie kommen dabei ihrer Mitwirkungspflicht insbesondere dadurch nach, daß sie die für die Besteuerung erheblichen Tatsachen vollständig und wahrheitsgemäß offenlegen und die ihnen bekannten Beweismittel angeben. Der Umfang dieser Pflichten richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles (§ 90 Abs.1 Sätze 1 und 2 AO 1977). Im Streitfall hat der Kläger die "Veräußerung des Druckereibetriebes" in seiner Steuererklärung und in seiner Bilanz weder erläutert noch auch nur erwähnt. Er hätte das FA aber auf irgendeine geeignete Weise von dem Veräußerungsgeschäft als einem Geschäftsvorfall des Streitjahres unterrichten müssen. Dies hätte z.B. durch Vorlage des Veräußerungsvertrags geschehen können. Durch die Vorenthaltung der erforderlichen Informationen über den Veräußerungsvorgang hat er seine Verpflichtung zu vollständiger und wahrheitsgemäßer Offenlegung der für die Besteuerung maßgeblichen Tatsachen verletzt. Zu der Mitteilung des Inhalts des Veräußerungsvertrages bestand nach den Umständen des Streitfalles vor allem deshalb Anlaß, weil es nahelag, daß die Veräußerung steuerrechtlich als Betriebsveräußerung oder Betriebsaufgabe zu qualifizieren sei, während der Kläger von einem Fortbestehen seines Betriebes ausging. Da der Kläger nicht unzweideutig auf den Zeitpunkt der Veräußerung und den Inhalt des Geschäftes im Rahmen seiner Steuererklärung hingewiesen hat, kann er sich jetzt nicht darauf berufen, das FA hätte diese Umstände früher erkennen oder ermitteln können und müssen.
3. Die Sache ist nicht entscheidungsreif. Der Senat kann aufgrund der vom FG getroffenen Feststellungen nicht entscheiden, ob die dem angefochtenen Änderungsbescheid zugrunde liegende Beurteilung des Veräußerungsgeschäfts und des Miet- bzw. Pachtvertrages als Betriebsaufgabe zutreffend ist. Ferner hat das FA die Festsetzung einer niedrigeren als im Änderungsbescheid festgesetzten Einkommensteuer beantragt, ohne daß die Tatsachen festgestellt sind, die die Abweichung rechtfertigen könnten.
Fundstellen
Haufe-Index 61877 |
BStBl II 1988, 115 |
BFHE 151, 333 |
BFHE 1988, 333 |