Leitsatz (amtlich)
Der Erwerb eines Grundstücks durch eine Samtgemeinde niedersächsischen Rechts zur Errichtung einer Abwässerbeseitigungsanlage ist gemäß § 1 WWVO 1922 von der Grunderwerbsteuer befreit.
Normenkette
WWVO 1922 (Zentralblatt für das Deutsche Reich 1922 S. 475) § 1
Tatbestand
Die Klägerin, eine Samtgemeinde niedersächsischen Rechts, erwarb ein Grundstück, um darauf eine Kläranlage für ihre vier Mitgliedsgemeinden zu errichten.
Nach dem auf § 1 der Verordnung über Erlaß von Grunderwerbsteuer auf dem Gebiete der Wasserwirtschaft vom 22. August 1922 - WWVO 1922 - (Zentralblatt für das Deutsche Reich S. 475, RStBl S. 347) gestützten, aber erfolglosen Einspruch gegen die Grunderwerbsteuerfestsetzung hob das FG Steuerbescheid und Einspruchsentscheidung durch Urteil III 164/68 vom 27. Oktober 1970 (EFG 1971, 41) auf.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die Revision des Beklagten ist nicht begründet.
Die WWVO 1922 ist noch in Kraft. Wegen der Gründe wird auf das Urteil des Senats II 7/65 vom 28. April 1970 (BFH 99, 400, BStBl II 1970, 669) zu II 1 Bezug genommen.
Die Steuerbefreiung gemäß § 1 WWVO 1922 setzt voraus, daß der Grundstückserwerb "der einheitlichen Erfüllung von wasserwirtschaftlichen Aufgaben in bestimmten Gebieten des Reichs" dient, und zwar "durch die hierzu berufenen Körperschaften des öffentlichen Rechts".
Auch der Beklagte hält - zutreffend - die erste Voraussetzung für erfüllt. Daß eine Kläranlage zur Abwasserreinigung und -beseitigung wasserwirtschaftliche Aufgaben erfüllt, bedarf keiner Begründung. Der Aufgabenkreis der Samtgemeinde niedersächsischen Rechts (§§ 71 ff. der Niedersächsischen Gemeindeordnung i. d. F. vom 29. September 1967 - NGO -, GVBl, 383; Niedersächsische Samtgemeindeverordnung vom 27. Juni 1963, GVBl, 306) erstreckt sich auf das Gebiet mehrerer Mitgliedsgemeinden. Diese Aufgabe wird "einheitlich in bestimmten Gebieten" wahrgenommen (vgl. für einen Zweckverband mit sechs Gemeinden das oben angegebene Urteil, BFH 99, 400).
Der Beklagte hält die weitere Voraussetzung nicht für gegeben, weil die Samtgemeinde keine zur Erfüllung wasserwirtschaftlicher Aufgaben - so die Revisionsbegründung - "besonders" berufene Körperschaft sei. Er meint, der Senat habe auch in dem oben genannten Urteil II 7/65 vom 28. April 1970 (BFH 99, 400) an dem sich aus dem früheren Urteil II 100/58 U vom 30. September 1959 (BFH 69, 595, BStBl III 1959, 483) ergebenden Grundsatz festgehalten, daß die Befreiung - so wiederum die Revisionsbegründung - "nur für besonders zur Erfüllung wasserwirtschaftlicher Zwecke gegründete Körperschaften in Betracht" komme. Das trifft nicht zu. In dem Urteil II 7/65 ist vielmehr bereits hervorgehoben, daß der in erster Linie maßgebende Wortlaut des § 1 WWVO 1922 Einschränkungen, wie sie dem Erlaß des ehemaligen RdF vom 11. November 1922 (Deutsche Verkehrsteuer-Rundschau 1923 S. 26) zugrunde gelegen haben mögen, nicht erkennen läßt und somit auch nicht gestattet. Im Falle des Urteils II 7/65 war zwar Grundstückserwerber der "eigens zu wasserwirtschaftlichen Aufgaben gegründete" Zweckverband (BFH 99, 401), so daß nicht diese, sondern die Frage der regionalen Ausdehnung dieser öffentlichrechtlichen Körperschaft Streitpunkt war. Die andere Frage aber, ob die Befreiung überhaupt nur eingreife, wenn eine solche Körperschaft nur - im Sinne von ausschließlich - der Erfüllung wasserwirtschaftlicher Aufgaben dient, war im Urteil II 7/65 nicht zu entscheiden und ist dort auch nicht entschieden worden.
Der Wortlaut, daß wasserwirtschaftliche Aufgaben durch eine "hierzu berufene" Körperschaft erfüllt werden müssen, läßt eine solche einengende Auslegung der Befreiungsvorschrift zu Lasten der betroffenen öffentlichrechtlichen Körperschaften nicht zu. "Hierzu berufen" - selbst "besonders dazu bestimmt" bzw. "auf Grund besonderer Gesetze gebildete Körperschaft" (BFH 69, 597) - ist nicht (nur) gleich "ausschließlich bestimmt"; jedenfalls können die maßgeblichen Worte "hierzu berufen" nach allgemeinem Sprachgebrauch durchaus auch in dem Sinne von "hierzu nach den Umständen und der Aufgabenstellung einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft im besonderen Maße vorgesehen oder geeignet" verstanden werden. Diese Auslegung verstößt nicht gegen den Wortlaut der WWVO 1922 - wie der Beklagte vielleicht meint -, sondern hält sich im Rahmen des möglichen Wortsinnes, so daß ihr - zumal angesichts des 50 Jahre nach ihrem Erlaß nur dringlicher gewordenen Umweltschutzes (vgl. § 1 Abs. 2 StAnpG) - auch vom Gesetzeszweck her der Vorzug zu geben ist (Entscheidung des BFH II 56/65 vom 28. April 1970, BFH 99, 255, BStBl II 1970, 597), ohne daß hierdurch gegen das Gebot des Art. 20 Abs. 3 GG verstoßen würde, wonach die Finanzverwaltungsbehörden und die Gerichte der Finanzgerichtsbarkeit nicht befugt sind, einen vom Gesetzgeber nicht vorgesehenen Befreiungstatbestand von sich aus zu schaffen oder einen gesetzlich genau umrissenen Befreiungstatbestand auf Grund eigener Wertvorstellungen auszuweiten (Entscheidung des BFH II R 45/66 vom 16. Juni 1971, BFH 103, 361, BStBl II 1972, 65).
Die Gemeinden in Niedersachsen sind in ihrem Gebiet die ausschließlichen Träger der gesamten öffentlichen Aufgaben, soweit die Gesetze nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmen; sie stellen (in den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit) die für ihre Einwohner erforderlichen sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen öffentlichen Einrichtungen bereit (§ 2 NGO). Nach dieser Zuständigkeitsvermutung zugunsten der Gemeinden (Lüersen/Neuffer, Niedersächsische Gemeindeordnung, Anm. zu § 2) gehört dazu - wie auch der zulässige Anschlußzwang für die der Volksgesundheit dienenden Einrichtungen zeigt (vgl. § 8 Nr. 2 NGO) - auch die Möglichkeit der Errichtung von Kläranlagen (vgl. Sieder/Zeitler, Wasserhaushaltsgesetz, § 34 Tz. 30; ferner § 123 Abs. 5, § 127 Abs. 4 Satz 2 BBauG; von Brauchitsch, Verwaltungsgesetze des Bundes und der Länder, Bd. V, 1. Halbband, Bundesbaurecht, vor § 123 Tz. 1-3, § 127 Tz. 1). Die niedersächsischen Gemeinden können zur Stärkung der Verwaltungskraft Samtgemeinden bilden (§ 71 Abs. 1 NGO), die als öffentlich-rechtliche Körperschaften Kommunalverbände sind (§ 71 Abs. 3 Satz 1 NGO). Die Mitgliedsgemeinden können der Samtgemeinde alle Aufgaben des eigenen Wirkungskreises, zu deren Erfüllung sie berechtigt oder verpflichtet sind, übertragen, soweit die gemeinsame Erfüllung nicht durch Gesetz ausgeschlossen ist (§ 72 Abs. 1 NGO; § 2 Abs. 1 SgVO). Die Entscheidung darüber, welche Aufgaben des eigenen Wirkungskreises der Mitgliedsgemeinden auf die Samtgemeinde übergehen, ist durch die Hauptsatzung zu treffen (§ 73 Abs. 4 Nr. 3 NGO). Das ist hinsichtlich der Abwässerbeseitigung als einer Selbstverwaltungsangelegenheit durch § 5 Abs. 2 der Hauptsatzung geschehen. Die Mitgliedsgemeinden haben somit von einer gesetzlichen Möglichkeit Gebrauch gemacht, wie sie (später) durch einen Runderlaß des Niedersächsischen Ministers des Innern vom 7. Mai 1969 (Niedersächsisches Ministerialblatt 1969 S. 487) "in Erkenntnis der Notwendigkeiten moderner Selbstverwaltung" gerade auch auf dem Gebiet "der zivilisatorischen Grundausstattung (Wasser- und Energieversorgung, Kanalisation, Müllbeseitigung) ausdrücklich durch die Aufsichtsbehörden gefördert werden soll (Tz. 2.3 a. a. O.). Daß die Samtgemeinde auf freiem Entschluß der Mitgliedsgemeinden beruht und daß die Mitgliedsgemeinden in der Entscheidung, welche Aufgaben ihres eigenen Wirkungskreises sie der Samtgemeinde übertragen, ebenfalls - von hier nicht interessierenden Vorbehalten des § 72 NGO abgesehen - frei sind (Lüersen/Neuffer, a. a. O., § 72 NGO, Anm. 1), ist angesichts der vorstehend dargelegten Rechtslage ebenso unerheblich wie der Umstand, daß es sich bei der Errichtung der Kläranlage zum Zwecke der Abwasserbeseitigung nur um eine Teilaufgabe (der Mitgliedsgemeinden bzw.) der Samtgemeinde handelt. Entscheidend ist, daß die Samtgemeinde als öffentlich-rechtliche Körperschaft kraft der auf der NGO beruhenden Hauptsatzung im obigen Sinne dazu "berufen" ist, überregional eine wasserwirtschaftliche Aufgabe zu erfüllen.
Das Urteil des Senats II 100/58 U vom 30. September 1959 (BFH 69, 595, BStBl III 1959, 483) und das Urteil des FG Münster IV d 17/65 vom 23. Oktober 1969 (EFG 1970, 187) betreffen andere Sachverhalte. Soweit in diesen Urteilen für Fälle der vorliegenden Art eine andere Rechtsauffassung zum Ausdruck gekommen ist, kann der Senat diese Auffassung nicht aufrechterhalten bzw. nicht teilen.
Fundstellen
Haufe-Index 413296 |
BStBl II 1972, 862 |
BFHE 1972, 562 |