Leitsatz (amtlich)
§ 21 Abs. 1 Nr. 1 BHG vom 19. August 1964 (BGBl I, 674, BStBl I 1964, 509) ist mit dem Grundgesetz vereinbar.
Normenkette
GG Art. 3 Abs. 1; BHG 1964 § 21 Abs. 1 Nr. 1
Tatbestand
Streitig ist, ob die Voraussetzungen für die Ermäßigung der Einkommensteuer nach § 21 des Berlinhilfegesetzes vom 19. August 1964 (BGBl I, 674, BStBl I 1964, 500) – BHG 1964 – vorgelegen haben.
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) wohnte bis zum Juli 1969 (Streitjahr) in Berlin (West): sie war dort freiberuflich als praktische Ärztin tätig. Im Juli 1969 verlegte sie ihren Wohnsitz und ihre berufliche Tätigkeit nach München. Von ihren im Streitjahr erzielten Einkünften aus selbständiger Arbeit (insgesamt 53 947 DM) entfielen 50 125 DM auf die bis zum Juli 1969 in Berlin (West) ausgeübte Tätigkeit.
Bei der Veranlagung der Klägerin zur Einkommensteuer 1969 gewährte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt – FA –) die von der Klägerin begehrte Ermäßigung nach § 21 BHG 1964 nicht.
Einspruch und Klage hatten in diesem Punkt keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) führte aus, die Klägerin erfülle die Voraussetzungen des § 21 Abs. 1 Nr. 1 BHG 1964 nicht. Nach dieser Vorschrift seien nur die Personen begünstigt, die am Jahresende und während der vorhergehenden vier Monate ihren ausschließlichen Wohnsitz in Berlin (West) gehabt hätten. Der Umstand, daß die Wohnsitzvoraussetzungen für veranlagte Einkommensteuerpflichtige und nicht veranlagte Lohnsteuerpflichtige verschieden geregelt seien, verstoße nicht gegen den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes – GG –). Die unterschiedliche Behandlung sei vielmehr durch die Besonderheiten des Lohnsteuerabzugsverfahrens sachlich gerechtfertigt.
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin, daß die unterschiedlichen Voraussetzungen für die Vergünstigung im Einkommensteuer-Veranlagungsverfahren nach § 21 BHG 1964 und im Lohnsteuerabzugsverfahren eine Verletzung des Gleichheitssatzes enthielten. Die unterschiedliche Behandlung sei sachlich nicht hinreichend gerechtferfigt.
Die Klägerin beantragt sinngemäß, ihr die Vergünstigung zu gewähren, hilfsweise, die Streitfrage dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) vorzulegen.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist unbegründet. Das FG hat zu Recht entschieden, daß die Klägerin nach der im Streitjahr geltenden gesetzlichen. Regelung keinen Anspruch auf die Gewährung der begehrten Tarifermäßigung hatte; es trifft ferner zu, daß diese Regelung keinen Verstoß gegen den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) enthält.
1. Dem FG ist zunächst darin beizupflichten, daß auf den Streitfall das Berlinhilfegesetz 1964 in der Fassung anzuwenden ist, die vor dem Inkrafttreten des Steueränderungsgesetzes 1968 vom 20. Februar 1969 – StÄndG 1968 – (BGBl I, 141, BStBl I 1969, 116) gegolten hat. Hiernach sollte bei natürlichen Personen, die seit mindestens vier Monaten vor dem Ende des Veranlagungszeitraums ihren ausschließlichen Wohnsitz in Berlin (West) hatten, eine Ermäßigung der veranlagten Einkommensteuer um 30 v. H. eintreten, soweit sie auf Einkünfte i. S. des § 23 BHG entfiel (§ 21 Abs. 1 Nr. 1 BHG). Die Beschränkung der Tarifermäßigung auf Personen, die mindestens während der letzten vier Monate vor dem Ende des Veranlagungszeitraums ihren Wohnsitz in Berlin (West) hatten, war vom Gesetzgeber für erforderlich gehalten worden, weil grundsätzlich nur Personen begünstigt werden sollten, deren wirtschaftliche Belange und Lebensinteressen mit Berlin (West) verbunden waren und von denen angenommen werden konnte, daß sie auch weiterhin in Berlin (West) bleiben würden (Urteil des Bundesfinanzhofs –BFH– vom 21. April 1966 VI 262/65, BFHE 86, 137, BStBl III 1966, 396, zu der gleichlautenden Vorschrift des § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes über Steuererleichterungen und Arbeitnehmervergünstigungen in Berlin (West) i.d.F. des Gesetzes vom 26. Juli 1962, BGBl I, 501, BStBl I 1962, 1007).
Die Voraussetzungen für die Erlangung der Tarifermäßigung nach § 21 BHG 1964 sind durch Art. 2 Nr. 2 StÄndG 1968 geändert worden. Nach der neuen Fassung des § 21 Abs. 1 Nr. 1 BHG ist nur noch erforderlich, daß die „zur Einkommensteuer veranlagten Personen” ihren ausschließlichen Wohnsitz in Berlin (West) zu Beginn des Veranlagungszeitraums haben oder ihn im Laufe des Veranlagungszeitraums begründen”. Die neue Fassung des Gesetzes ist erstmals für den Veranlagungszeitraum 1970 anzuwenden (§ 31 Abs. 5 BHG i. d. F. des Steueränderungsgesetzes 1968); eine Rückwirkung dieser Vorschrift auf vorausgegangene Veranlagungszeiträume, insbesondere auf das Streitjahr, ist deshalb ausgeschlossen.
2. Die hiernach für das Streitjahr maßgebende Fassung des § 21 Abs. 1 Nr. 1 BHG verstößt nicht gegen das Grundgesetz.
a) Der Klägerin ist zwar darin beizupflichten, daß die Voraussetzungen für die Gewährung der von ihr begehrten Vergünstigung nach der im Streitjahr geltenden Regelung für die zur Einkommensteuer veranlagten Personen einerseits und für die (nicht veranlagten) Lohnsteuerpflichtigen andererseits verschieden waren. Bei Arbeitnehmern ermäßigte sich die Lohnsteuer, die auf Einkünfte aus Berlin (West) i. S. des § 23 Nr. 4 BHG entfiel, um 30 v. H., wenn sie u. a. „ihren ausschließlichen Wohnsitz in Berlin (West)” hatten (§ 26 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a BHG in der für das Streitjahr geltenden Fassung). Für die nicht veranlagten Arbeitnehmer genügte es also zur Erlangung der Vergünstigung, daß sie zu Beginn des Kalenderjahres ihren ausschließlichen Wohnsitz in Berlin (West) hatten oder ihn dort im Laufe des Jahres begründeten (George, Berliner Steuerpräferenzen, 5. Aufl., § 26 II 2, S. 321). Ein nicht veranlagter Arbeitnehmer, der z. B. in der Zeit zwischen dem 1. Januar 1969 und dem 1. Juli 1969 Lohneinkünfte aus einer Tätigkeit in Berlin (West) bezogen hatte, wäre hiernach in den Genuß der Tarifvergünstigung gekommen.
b) Die unterschiedliche Behandlung der zur Einkommensteuer veranlagten Steuerpflichtigen und der nicht veranlagten Lohnsteuerpflichtigen reicht indessen nicht aus, um den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) als verletzt anzusehen.
Zwar ist bei der verfassungsrechtlichen Prüfung davon auszugehen, daß die Lohnsteuer keine selbständige Steuerart ist, sondern lediglich eine Erhebungsform der Einkommensteuer darstellt, Deshalb müssen veranlagte Steuerpflichtige und nicht veranlagte Lohnsteuerpflichtige bei der Besteuerung von Einkünften grundsätzlich als „gleich” angesehen werden. Eine unterschiedliche Behandlung von veranlagten Einkommensteuerpflichtigen und nicht veranlagten Lohnsteuerpflichtigen ist jedoch dann verfassungsrechtlich zulässig, wenn hierfür hinreichende Gründe vorliegen (vgl. BVerfG-Beschluß vom 13. Dezember 1967 1 BvR 679/64, BVerfGE 23, 1, BStBl II 1968, 70). Für die nach damals geltendem Recht (§ 21 Abs. 1 Nr. 1 und § 26 BHG) bei der Gewährung der Tarifermäßigung sich ergebenden Ungleichheiten lagen nach Ansicht des Senats solche Gründe vor.
Die Gewährung von Steuervorteilen an die in Berlin (West) wohnenden Personen ist Teil einer rechtlichen Regelung, die aus wirtschaftspolitischen Gründen – nämlich zur Erhaltung der Lebensfähigkeit von Berlin (West) – getroffen wurde. Bei derartigen im Bereich der gewährenden Staatstätigkeit liegenden gesetzgeberischen Maßnahmen gebührt dem Gesetzgeber ein besonders hohes Maß an Ermessensfreiheit (Schmid-Bleibtreu-Klein, Kommentar zum Grundgesetz, 4. Aufl., Art. 3 Anm. 17 mit weiteren Nachweisen). Das gilt insbesondere, wenn es um die Abgrenzung des begünstigten Personenkreises geht. Die Abgrenzung ist nicht zu beanstanden, wenn vernünftige Gründe dafür bestehen und der Gesetzgeber willkürliche Privilegierungen und Diskriminierungen vermeidet (ständige Rechtsprechung des BVerfG; vgl. BVerfG-Beschluß vom 8. Dezember 1970 1 BvR 104/70, BVerfGE 29, 337 (339) mit weiteren Nachweisen).
Geht man hiervon bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung der aus dem Berlinhilfegesetz a. F. sich ergebenden Ungleichheiten zwischen veranlagten Einkommensteuerpflichtigen und nicht veranlagten Lohnsteuerpflichtigen aus, so ergibt sich folgendes: Es war zunächst nicht sachfremd, die Tarifermäßigung für veranlagte Steuerpflichtige davon abhängig zu machen, daß sie mindestens in den letzten vier Monaten eines Jahres in Berlin (West) ihren Wohnsitz hatten; auf diese Weise sollten gerade diejenigen Personen begünstigt werden, die voraussichtlich auch weiterhin in Berlin (West) bleiben würden. Die Voraussetzungen für die Gewährung dieser Vergünstigung (mindestens viermonatiger Wohnsitz in Berlin (West) vor dem Ende des Jahres) konnte aber nur in einem Erhebungsverfahren festgestellt werden, das es erlaubt, die Verhältnisse des Veranlagungszeitraumes rückschauend zu würdigen. Im Gegensatz dazu besteht im Lohnsteuerabzugsverfahren die Möglichkeit einer solchen rückschauenden Würdigung von Besteuerungsmerkmalen nicht. Grundlage für den Lohnsteuerabzug ist die Lohnsteuerkarte, die die für die Besteuerung des Arbeitnehmers maßgeblichen Merkmale enthält. Da der Lohnsteuerabzug schon vom Beginn des Jahres an bei jeder Lohnzahlung vorzunehmen ist, muß bei der Berechnung der Lohnsteuer regelmäßig von den Verhältnissen ausgegangen werden, die am 1. Januar des Jahres bestanden (BVerfG-Beschluß 1 BvR 679/64). Dieses Stichtagsprinzip zwingt dazu, bei der Gewährung der Tarifermäßigung nach § 23 Nr. 4 BHG im Lohnsteuerverfahren auf die Wohnsitzverhältnisse zu Beginn des Jahres abzustellen.
Es entspricht zwar der Gleichmäßigkeit der Besteuerung in weit höherem Maße, wenn für die Gewährung der Tarifermäßigung bei allen Steuerpflichtigen darauf abgestellt wird, daß sie zu Beginn des Veranlagungszeitraums ihren Wohnsitz in Berlin (West) haben oder ihn dort im Laufe des Jahres begründen (so die nunmehr ab 1970 geltende Fassung des Berlinhilfegesetzes). Der Senat ist jedoch der Auffassung, daß auch die bis 1969 geltende Regelung nicht auf sachfremden Erwägungen beruht und jedenfalls willkürliche Privilegierungen und Diskriminierungen vermeidet.
Es darf bei der Entscheidung nicht außer Betracht bleiben, daß die Maßstäbe für die Übereinstimmung einer Regelung mit dem Gleichheitssatz nicht immer die gleichen sind. Sie sind ganz allgemein an den Kriterien der Steuergerechtigkeit orientiert, wenn es ausschließlich um Besteuerungsmerkmale geht, die die persönliche Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen betreffen (vgl. BVerfG-Beschluß vom 23. November 1976 1 BvR 150/75, BVerfGE 43, 108 [120]). Derartige Maßstäbe sind z. B. anzulegen, wenn es um die Gewährung von Kinderfreibeträgen geht (vgl. hierzu die BVerfG-Beschlüsse 1 BvR 679/64 und vom 25. April 1972 1 BvL 38/69 25/70 und 20/71, BVerfGE 33, 90, und 1 BvL 30/70, BVerfGE 33, 106). Soweit das Steuerrecht dagegen aus Normen besteht, die außerfiskalisch motiviert sind (vgl. hierzu Tipke, Steuerrecht, 6. Aufl., S. 17 f.), sind bei der Bewertung dieser Normen unter dem Gesichtspunkt des Gleichheitssatzes andere Maßstäbe anzulegen (vgl. BVerfG-Beschluß vom 12. Februar 1964 1 BvL 12/62, BVerfGE 17, 210 (216), sowie Tipke, a.a.O., S. 17, 41). Deshalb kann auch dem Niedersächsischen FG nicht gefolgt werden, das in seinem – inzwischen außergerichtlich erledigten – Vorlagebeschluß vom 20. Juni 1973 IV 254/70 (Entscheidungen der Finanzgerichte 1974 S. 100) zu den unterschiedlichen Voraussetzungen bei der Gewährung der Tarifvergünstigung des Berlinhilfegesetzes auf die Grundsätze verwies, die das BVerfG seinem Beschluß 1 BvL 38/69 zur unterschiedlichen Gewährung von Kinderfreibeträgen zugrunde legte.
Da die der Entscheidung zugrunde zu legende Norm des § 21 Abs. 1 Nr. 1 BHG in der im Streitjahr geltenden Fassung keine Verfassungsverstöße erkennen läßt, erübrigt sich eine Vorlage an das BVerfG gemäß Art. 100 Abs. 1 GG. Nach dieser Vorschrift ist die Entscheidung des BVerfG lediglich dann einzuholen, wenn das Gericht ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig hält.
Fundstellen
Haufe-Index 510481 |
BFHE 1979, 445 |