Leitsatz (amtlich)
1. Nach § 145 Abs. 3 Nr. 1 Buchst. a AO in der Fassung, die vor dem Inkrafttreten des AOÄG vom 15. September 1965 (BGBl I 1965, 1356, BStBl I 1965, 643) galt, begann der Lauf der Verjährungsfrist für Erbschaftsteueransprüche bei einer Schenkung nicht schon mit dem auf den Todestag des Schenkers folgenden Tag, sondern (auch) erst mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Schenker gestorben war.
2. Steueransprüche können durch Schweigen oder Untätigkeit des Finanzamts nur verwirkt werden, wenn einem solchen Verhalten des Finanzamts entnommen werden kann, daß ein Steueranspruch nicht mehr geltend gemacht werden soll.
Normenkette
AO § 145 Abs. 3 Nr. 1 Buchst. a
Tatbestand
Die Klägerin hatte von ihrer Mutter aufgrund notariell beurkundeten Schenkungsangebotes vom 14. Dezember 1962 und dessen notariell beurkundeter Annahme vom 22. Januar 1963 Geschäftsanteile an einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) geschenkt erhalten. Die Mutter der Klägerin hatte sich den lebenslänglichen Nießbrauch an diesen Geschäftsanteilen vorbehalten; sie war am 23. April 1969 gestorben.
Von dieser Schenkung hatte das FA (Beklagter und Revisionskläger) im Dezember 1967 im Zusammenhang mit einer weiteren, späteren Schenkung erfahren. Es hatte daraufhin die Klägerin mit Schreiben vom 20. Juni 1968 zur Abgabe einer Schenkungsteuererklärung aufgefordert. Der Erklärungsvordruck war am 2. August 1968, von der Klägerin ausgefüllt, bei dem FA eingegangen. Darin war der Kurs der Geschäftsanteile am Stichtag angegeben, die Nießbrauchsbelastung gemäß § 17 a Abs. 1 BewG 1963 ermittelt und der Wert der Schenkung verzeichnet.
Das FA hatte mit Schreiben vom 28. August 1968 bei dem Betriebsfinanzamt wegen des Werts der Anteile für je 100 DM Stammkapital der GmbH angefragt und war von diesem am 25. September 1968 benachrichtigt worden, die Akten der GmbH befänden sich zur Zeit bei der zuständigen Großbetriebsprüfungsstelle; nach Rückgabe der Akten werde das Schreiben beantwortet werden. Der Bericht über die Betriebsprüfung bei der GmbH, die sich u. a. auch auf die Einheitswertfeststellungen vom 1. Januar 1962 bis 1. Januar 1968 sowie auf die Gewinne für die Jahre 1962 bis 1967 erstreckt hatte, war 1969 ausgewertet worden, ohne daß das FA über den Wert der Geschäftsanteile unterrichtet worden war.
In einem Schreiben an die Klägerin vom 10. September 1974 hatte das FA den Erlaß eines gemäß § 100 Abs. 1 AO vorläufigen Steuerbescheides angekündigt und die "Verzögerung in der Bearbeitung des ... Schenkungsfalles" hauptsächlich mit "der großen Arbeitsüberlastung und dem Personalmangel bei den Finanzämtern" entschuldigt. In dem vorläufigen Steuerbescheid vom 19. September 1974 - abschließend gezeichnet am 11. September 1974 - hatte das FA die Schenkungsteuer festgesetzt und dabei die Werte aus der Steuererklärung der Klägerin übernommen. Am 11. September 1974 hatte das FA erneut bei dem Betriebsfinanzamt die Mitteilung des gemeinen Werts der GmbH-Anteile auf den 31. Dezember 1962 erbeten.
Der Einspruch der Klägerin, mit dem Verjährung des Steueranspruchs geltend gemacht worden war, hatte zum Teil Erfolg. Das FA hatte die Schenkungsteuer herabgesetzt, weil der Wert der Anteile an der GmbH für je 100 DM Stammkapital zum 31. Dezember 1962 auf 159 DM festgestellt worden war.
Auf die Klage hob das FG den angefochtenen Steuerbescheid und die Einspruchsentscheidung des FA ersatzlos auf. Es sah den Schenkungsteueranspruch gemäß Art. 5 Abs. 2 des Gesetzes zur Änderung der Reichsabgabenordnung und anderer Gesetze (AOÄG) vom 15. September 1965 (BGBl I 1965, 1356, BStBl I 1965, 643) i. V. m. §§ 143 bis 149 AO in der bis zum 31. Dezember 1965 geltenden Fassung (AO 1965) als verjährt an. Dabei ging es davon aus, daß die Verjährungsfrist mit dem Tode des Schenkers (24. April 1969) begonnen hatte und deren Beginn weder gemäß § 225 Satz 3 AO 1965 hinausgeschoben noch deren Ablauf gemäß § 146 a Abs. 3 AO i. d. F. des AOÄG gehemmt worden war.
Mit der vom FG zugelassenen Revision rügt das FA die Verletzung des § 145 Abs. 3 Nr. 1 Buchst. a AO 1965, § 225 i. V. m. § 100 Abs. 1 AO 1965 sowie § 146 a Abs. 3 AO.
Entscheidungsgründe
Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 FGO). Die Entscheidung des FG kann keinen Bestand haben; sie beruht auf Rechtsirrtum.
1. 1) ...
2. Das FA war nach dem auch im Steuerrecht geltenden Grundsatz von Treu und Glauben nicht gehindert, den Erbschaftsteueranspruch gegen die Klägerin geltend zu machen: Der Steueranspruch war im Zeitpunkt der Steuerfestsetzung (noch) nicht verwirkt.
Die Klägerin geht zutreffend von dem allgemeinen, auch in der Rechtsprechung des BFH anerkannten (BFH-Urteil vom 5. März 1970 IV 213/65, BFHE 100, 1, BStBl II 1970, 793, mit weiteren Nachweisen) Grundsatz aus, daß die Geltendmachung von Steueransprüchen nicht allein durch Zeitablauf verwirkt werden kann. Der bloße Zeitablauf hat für die Verwirkung keine selbständige Bedeutung. Es genügt in der Regel für die Verwirkung - im Gegensatz zur Verjährung - nicht, daß zwischen dem Entstehen des Steueranspruchs und dessen Geltendmachung ein längerer Zeitraum verstrichen ist. Zu dem Ablauf einer längeren Zeit muß vielmehr ein Verhalten des FA treten, aus dem der Verpflichtete Folgerungen ziehen konnte und mußte, die die (spätere) Geltendmachung des Steueranspruchs als eine Verletzung des Verbots der unzulässigen Rechtsausübung und als eine Verletzung des allgemeinen Rechtsempfindens erscheinen ließen. Ein solches Verhalten - von der Klägerin in Anlehnung an die bürgerlich-rechtlichen Grundsätze von Treu und Glauben "Umstandsmoment" genannt - kann auch in dem Untätigbleiben des FA liegen, wenn daraus entnommen werden kann, daß diese Untätigkeit endgültig sein und ein Steueranspruch nicht mehr geltend gemacht werden soll (vgl. Tipke-Kruse, a. a. O., 7. Aufl., § 2 AO A 44). Ob die Voraussetzungen der Verwirkung erfüllt sind, kann nicht nach allgemeinen Grundsätzen, sondern unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalles geprüft und entschieden werden.
Im Streitfall kann danach - entgegen der Auffassung der Klägerin - keine Verwirkung des Erbschaftsteueranspruchs angenommen werden. Es läßt sich aus den Feststellungen des FG nichts dafür entnehmen, daß das Finanzamt den Steueranspruch gegen die Klägerin nicht mehr geltend machen wollte. Der Zeitraum, der zwischen der Entstehung des Steueranspruchs (Ablauf des Kalenderjahres 1963) und der Unterrichtung des FA von der Ausführung der Schenkung (Dezember 1967) liegt, muß außer Betracht bleiben; während dieser Zeit scheidet ein Geltendmachen des Steueranspruchs schon wegen der von der Klägerin zu vertretenden (§ 26 ErbStG 1959 i. V. m. § 3 ErbStDV) Unkenntnis des FA von vornherein aus. Das Anfordern der Steuererklärung von der Klägerin am 20. Juni 1968 machte deutlich, daß das FA den Sachverhalt ermitteln und eine sich möglicherweise ergebende Steuer festsetzen wollte. Der steuerlich beratenen Klägerin mußte aufgrund ihrer Angaben in der Steuererklärung erkennbar sein, daß sie wegen ihres Erwerbs mit der Festsetzung einer Erbschaftsteuer rechnen mußte. Sie konnte einerseits zwar nicht erwarten, daß das FA die auf ihren Erwerb entfallende Steuer sofort festsetzen würde; daß das FA andererseits aber die Steuerfestsetzung - aus welchen Gründen auch immer - über sechs Jahre hinauszögerte, ist mit dessen Verpflichtung zur Ermittlung der tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse des Steuerfalles (§ 204 AO) und zur Steuerfestsetzung nach Abschluß der Ermittlungen (§ 210 Abs. 1 AO) kaum zu vereinbaren. Trotzdem läßt diese Untätigkeit für sich allein keine Verwirkung eintreten. Das FA hat durch sein Verhalten nicht zu erkennen gegeben, daß der Steueranspruch gegen die Klägerin nicht mehr geltend gemacht werden sollte. Anders als im Falle des FG Bremen (Urteil vom 16. März 1972 II 83/69, EFG 1972, 357), auf den sich die Klägerin beruft, bestand für das FA keine besondere Veranlassung, binnen einer angemessenen Frist auf die Steuererklärung der Klägerin besonders zu antworten. Für die Festsetzung der Erbschaftsteuer als einer sogenannten Einzelsteuer konnte es im Streitfall vielmehr die volle (Verjährungs-) Frist ausnutzen, ohne deshalb den Verlust des Steueranspruchs fürchten zu müssen. Die sich aus dem Gesetz (§ 145 Abs. 3 Nr. 1 AO 1965) ergebende besondere Verjährungsregelung bei Schenkungen (vgl. oben 1.) muß die Klägerin als bekannt gegen sich gelten lassen. Sie konnte vor Ablauf der Verjährungsfrist nicht davon ausgehen, das FA werde den Erbschaftsteueranspruch nicht mehr geltend machen. Im übrigen sind keine Umstände ersichtlich, die über eine bloße Untätigkeit des FA hinausgehen, oder die das FA zu einem bestimmten Verhalten innerhalb einer kürzeren Frist hätten veranlassen können oder müssen (vgl. dazu beispielsweise den Fall des BFH-Urteils IV 213/65, in dem bezüglich der Verwirkung eines Gewerbesteueranspruchs entscheidend auf den für ein späteres Veranlagungsjahr erlassenen Einkommensteuerbescheid abgestellt worden ist). Deshalb konnte die Klägerin auch mangels besonderer, neben dem Zeitablauf gegebener Umstände nicht darauf vertrauen, daß das Untätigbleiben des FA endgültig sei und die Erbschaftsteuer gegen sie nicht mehr festgesetzt werden sollte.
1) Von einem Abdruck der Gründe zu dem 1. Rechtssatz wird abgesehen, weil sie sich mit vor dem AOÄG 1965 geltenden Recht auseinandersetzen.
Fundstellen
Haufe-Index 72654 |
BStBl II 1978, 168 |
BFHE 1978, 299 |