Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensfehler bei der Beweiswürdigung
Leitsatz (NV)
1. Will ein FG von einem eher atypischen Geschehensablauf ausgehen, so kann es dies nur, nachdem es zuvor alle Beweise erhoben hat, die den an sich näherliegenden und deshalb zu erwartenden Geschehensablauf auszuschließen geeignet sind. Verstößt ein FG gegen diesen Grundsatz, so liegt ein Verfahrensfehler vor.
2. Bezeichnet ein FG das Ergebnis einer Beweisaufnahme i. S. eines bestimmten Geschehensablaufs als eindeutig, obwohl die Beweisaufnahme deutliche Anhaltspunkte für einen anderen Geschehens ablauf gegeben hat, so liegt eine Verletzung allgemeiner Beweiswürdigungsregeln (= Ver fahrensfehler) vor.
3. Verpflichtet ein FG das FA zum Erlaß von ESt-Bescheiden "nach den Regeln der unbeschränkten Steuerpflicht", so muß es dann, wenn die Adressaten Eheleute sind, klarstellen, ob eine Einzel- oder eine Zusammenveranlagung zu verstehen ist.
Normenkette
FGO § 115
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Rechtsstreit befindet sich im zweiten Rechtszug. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) betrieb in den Streitjahren eine Arztpraxis im Erdgeschoß des Hauses X, A-Straße 1. Diese Anschrift gaben er und seine Ehefrau auch als ihre Wohnanschrift in den Steuererklärungen an. Sie machten gegenüber dem Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt -- FA --) geltend, unbeschränkt steuerpflichtig zu sein. Sie erklärten Einkünfte aus freiberuflicher Tätigkeit des Klägers, aus Vermietung und Verpachtung, aus Kapitalvermögen sowie für 1975 einen Verlust aus Gewerbebetrieb.
Bei einer für die Streitjahre 1973 bis 1975 durchgeführten Betriebsprüfung wurde folgendes festgestellt: Der Kläger und seine Ehefrau erwarben in N-Belgien ein Grundstück, das sie mit einem Einfamilienhaus bebauten. Beide kündigten im Jahre 1971 den Mietvertrag über eine Etagenwohnung in X, A-Straße 1 und verbrachten ihre Möbel in das neu errichtete Einfamilienhaus in Belgien. Der Kläger besaß zusätzlich im Erdgeschoß des Hauses X, A-Straße 1, einen freiberuflich nicht genutzten Raum. Darin befanden sich bei der Besichtigung durch die Betriebsprüferin ein Schrank, ein Couchtisch, ein kleiner Schreibtisch mit Stuhl, ein Polstersofa mit wulstigen Arm- und Rückenlehnen, drei Sessel, ein Garderobeschränkchen mit Spiegel und zwei Bücherregale aus unbearbeiteten Spanplatten, in denen Fachbücher des Sohnes der Kläger standen. In einem durch einen Vorhang abgetrennten Teil des Behandlungszimmers befanden sich ein alter Elektroherd und ein oder zwei kleine Schränkchen. Außerdem war eine Toilette vorhanden, die auch von den Patienten benutzt wurde.
Das FA ging dem Bericht der Betriebsprüferin folgend davon aus, daß der Kläger im Inland weder Wohnsitz noch seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Es erließ auf § 222 Abs. 1 Nr. 1 der Reichsabgabenordnung (AO) gestützte Berichtigungsbescheide zur Einkommensteuer 1973 und 1974 und jeweils Erstbescheide zur Einkommensteuer 1975 und zur Vermögensteuer 1. Januar 1973. In diesen Bescheiden wurden die Veranlagungen nach den Vorschriften für beschränkt Steuerpflichtige durchgeführt. Die Einsprüche gegen die Bescheide blieben erfolglos.
Das Finanzgericht (FG) hat im ersten Rechtszug den Kläger eidlich vernommen. Dieser erklärte, er habe in den Streitjahren an den Arbeitstagen stets in dem Wohnraum in der Praxis übernachtet. An den Wochenenden sei das auch dann der Fall gewesen, wenn er Bereitschaftsdienst gehabt habe, den er öfter für Kollegen übernommen habe. Im Wohnraum habe eine Doppelschlafcouch gestanden. Zur Zeit der Betriebsprüfung sei sie für einige Tage in den Nebenraum gestellt worden, weil der Sohn des Klägers einige Möbel in dem Wohnraum abgestellt habe. Der Kläger habe das Einfamilienhaus in Belgien, das voll eingerichtet gewesen sei, in den Streitjahren so gut wie nicht benutzt. Es sei als Altersruhesitz angeschafft worden. Versuche, das Haus zu vermieten, seien erfolglos geblieben. Er habe das Haus unter großen Schwierigkeiten wieder verkauft. Er habe anschließend zunächst wieder in X gewohnt. Die Bemühungen, das Haus in Belgien zu vermieten oder zu verkaufen, habe er aufgenommen, als sich die steuerlichen Schwierigkeiten durch die Betriebsprüfung angedeutet hätten.
Das FG gab den Klagen im ersten Rechtszug statt. Es ging aufgrund der Aussage des Klägers davon aus, daß dieser seinen gewöhnlichen Aufenthalt in den Streitjahren im Inland hatte. Auf die Revision des FA hat der Bundesfinanzhof (BFH) im ersten Rechtszug die FG-Urteile aufgehoben und die Sachen an das FG zurückverwiesen (Urteile vom 25. Mai 1988 I R 225 u. 226/82, BFHE 154, 7, BStBl II 1988, 944). In den BFH-Urteilen ist ausgeführt: Die angefochtenen Urteile beruhten auf der Erwägung, dem Kläger sei nicht zu widerlegen, daß das von der Betriebsprüfung als unzulängliche Schlafgelegenheit erwähnte Polstersofa dem Sohn des Klägers gehört habe und dort nur kurzzeitig abgestellt gewesen sei. Dem Kläger und seiner Ehefrau habe in den Streitjahren eine eigene Schlafcouch zur Verfügung gestanden. Die vom FG zum Ausdruck gebrachte tatrichterliche Überzeugung weiche jedoch von dem üblichen und zu erwartenden Verhalten ab. Wer sich ein Einfamilienhaus baue, dorthin seine Wohnungseinrichtung bringe und seine bisherige Wohnung aufgebe, von dem erwarte man, daß er fortan in dem neuen Haus mit seiner Familie lebe. Das FG habe sich deshalb nicht allein auf die Sachdarstellung des Klägers verlassen dürfen. Gegen ihre Richtigkeit spreche, daß der Kläger im vorgerückten Alter stehe, in dem möblierten Praxisraum kein Familienleben führen konnte und dergleichen auch nicht behauptet habe und daß unklar sei, wie der Kläger und seine Ehefrau sich angesichts der beengten Verhältnisse in dem Raum mit frischer Wäsche versorgt hätten und wie eine nur geringfügige Vorratshaltung an Lebensmitteln zur Vorbereitung der erforderlichen Speisen möglich gewesen sein sollte. Sollten der Kläger und seine Ehefrau Wäsche täglich aus einer Wäscherei und Lebensmittel täglich aus Lebensmittelgeschäften bezogen haben, hätte dies anhand geeigneter Beweismittel -- etwa durch Vernehmung der Lieferanten oder anhand von Rechnungen -- festgestellt werden müssen.
Das FG hat im zweiten Rechtszug die Zeugen Z, A (Ehefrau), B (Sohn), C (Arzthelferin- Auszubildende), Eheleute D (Mitbewohner des Hauses A-Straße 1) und F (Betriebsprüferin) vernommen. Es hat ferner schriftliche Äußerungen von G und H (Deutsche, die von dem Kläger und dessen Ehefrau in 1981 deren Haus in Belgien erwarben) darüber entgegengenommen, in welchem Umfang der Kläger sein Haus in Belgien nutzte. Die Personen haben schriftlich darauf hingewiesen, die Frage nicht beantworten zu können, weil sie das Haus 1981 leer übernommen hätten. Außerdem wurde das vom Kläger in einer mündlichen Verhandlung vom 10. Ja nuar 1991 überreichte rote Notizbuch zum Gegenstand des Verfahrens gemacht. Das FG hat ferner das FA aufgefordert, im Wege der internationalen Amtshilfe in Belgien ermitteln zu lassen, ob auf den Kläger oder seine Ehefrau in Belgien ein Pkw zugelassen gewesen sei. Das FA hat das entsprechende Ersuchen am 5. Februar 1991 abgesandt. Es wurde jedoch bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung nicht beantwortet.
Das FG hat der Klage des Klägers auch im zweiten Rechtszug entsprochen. Es hat die erlassenen Einkommensteuerbescheide 1973 bis 1975 und den Vermögensteuerbescheid auf den 1. Januar 1973 aufgehoben und das FA verpflichtet, Einkommensteuerbescheide nach den Regeln der unbeschränkten Steuerpflicht zu erlassen.
Mit seiner vom BFH auf eine entsprechende Beschwerde hin zugelassenen Revision rügt das FA ausschließlich die Verletzung des § 76 der Finanzgerichtsordnung (FGO).
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).
1. Die Vorentscheidung leidet an Verfahrensfehlern. Das FG ist seiner Verpflichtung nicht ausreichend nachgekommen, den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären. Es hat außerdem allgemeine Regeln der Beweiswürdigung nicht beachtet. Die Verfahrensfehler führen im Ergebnis dazu, daß die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen ist, ohne daß der erkennende Senat zu der Anwendung des materiellen Rechts Stellung nehmen kann oder muß.
2. Das FG ist in der Vorentscheidung (vgl. Urteil Seite 9 unten) davon ausgegangen, daß der vom Kläger behauptete und vom FG letztlich angenommene Geschehensablauf eher atypisch ist. Dies entspricht der Auffassung des erkennenden Senats in der das Urteil des ersten Rechtszuges aufhebenden Entscheidung in BFHE 154, 7, BStBl II 1988, 944. Dort ist ausgeführt, daß die damalige Überzeugung des FG über den gewöhnlichen Aufenthalt des Klägers von einem üblichen und zu erwartenden Verhalten abweiche. Wer sich ein Einfamilienhaus baue, dorthin seine Wohnungseinrichtung bringe und seine bisherige Wohnung aufgebe, von dem erwarte man, daß er fortan mit seiner Familie in dem neuen Haus lebe. Dies gilt insbesondere dann, wenn das neue Haus in einer Entfernung von nur ca. 10 km vom Mittelpunkt der beruflichen Tätigkeit entfernt liegt und wenn an dem Mittelpunkt keine Räumlichkeiten vorhanden sind, die zum gewöhnlichen Aufenthalt "einladen". Bei einer solchen Ausgangslage darf das FG seiner Entscheidung nur dann einen von dem erwarteten Geschehensablauf abweichenden und deshalb atypischen Sachverhalt zugrunde legen, nachdem es zuvor alle Beweise erhoben hat, die den an sich näherliegenden und deshalb zu erwartenden Geschehensablauf auszuschließen geeignet sind. Dazu gehörte im Streitfall die vom FA in der letzten mündlichen Verhandlung beantragte Ermittlung und Vernehmung des Eigentümers bzw. der Bewohner des Hauses A-Straße 1. Das FG durfte die entsprechende Vernehmung nicht schon deshalb ablehnen, weil seine eigene Anfrage beim Einwohnermeldeamt der Stadt X unbeantwortet blieb. Es hätte erneut beim Einwohnermeldeamt anfragen bzw. den Kläger befragen bzw. die Mieter ggf. durch Rückfrage bei dem vom FA benannten Vermieter ermitteln müssen. Die entsprechenden Ermittlungen hätten sich dem FG aufdrängen müssen, weil der Beweis des ersten Anscheins für die Annahme eines gewöhnlichen Aufenthaltes des Klägers in Belgien spricht. Diese Regeln durfte das FG nur dann außer Betracht lassen, wenn es den Beweis des ersten Anscheins in jeder Hinsicht als widerlegt ansehen konnte. Dazu mußte jedoch der beantragte Beweis zunächst erhoben werden, weil nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, daß die Mieter genauere Aussagen über den Aufenthalt des Klägers in dessen Praxis machen können. Das FG hätte aber die Klage abweisen müssen, wenn die Mieter das Vorbringen des FA als richtig bestätigt hätten.
3. Dem FG ist ein weiterer Verfahrensfehler unterlaufen. Es hat in der Vorentscheidung die Auffassung vertreten, aus der gesamten Beweisaufnahme lasse sich nur der Schluß ziehen, daß der Kläger sich in den Streitjahren wochentags und auch an einem Großteil der Wochenenden ganz überwiegend in X aufgehalten und dort auch übernachtet habe. Es hat das Ergebnis der Beweisaufnahme als eindeutig bezeichnet. Eine solche Beurteilung verletzt all gemeine Beweiswürdigungsregeln. Die Beweisaufnahme hat sehr wohl deutliche Anhaltspunkte dafür ergeben, daß der Kläger nicht seinen gewöhnlichen Aufenthalt in den Streitjahren im Inland hatte. So haben die Eheleute D, die Mitbewohner im Hause A-Straße 1 waren, ausgesagt, sie hätten nicht bemerkt, daß der Kläger seine Praxisräume zu Übernachtungszwecken benutzt habe. Die Ehefrau D hat nachts in den Praxisräumen weder Licht bemerkt noch Geräusche gehört. Sie hat zusätzlich bekundet, daß die Ehefrau des Klägers diesen morgens mit dem Pkw in die Praxis gefahren habe. Die Arzthelferin C hat von Übernachtungen des Klägers in dessen Praxisräumen nichts bemerkt. Die vom FG vorgenommene Beweiswürdigung verletzt auch aus anderen Gründen die Denkgesetze. So besagt das Versenden von Steuerbescheiden durch das Steueramt K nur etwas darüber, wo der Kläger derartige Bescheide empfangen wollte, jedoch nichts über dessen gewöhnlichen Aufenthalt. Die Eintragungen des Klägers in dessen roten Kalender betreffen das Jahr 1977. Sie besagen über das Streitjahr nichts. Der Aussage des Z läßt sich nur entnehmen, daß der Kläger abends lange arbeitete. Dies schließt aber nicht aus, daß er anschließend noch zu seinem Einfamilienhaus fuhr. Um die Übernahme von Notdiensten beweiswürdigungsmäßig berücksichtigen zu können, hätte das FG deren Häufigkeit exakt feststellen müssen. Auf der Grundlage der durchgeführten Beweisaufnahme sprechen deshalb nur die Aussagen der Ehefrau und des Sohnes des Klägers für dessen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland. Das FG hätte diese Aussagen unter Berücksichtigung des persönlichen Interesses der Zeugen an dem Ausgang des Rechtsstreits gegen die übrigen Anhaltspunkte abwägen müssen, die gegen den gewöhnlichen Aufenthalt des Klägers im Inland sprechen. Dabei hätte es den Grundsatz des Beweises des ersten Anscheins in seine Beweiswürdigung miteinbeziehen müssen. Entsprechend ist die durchgeführte Beweiswürdigung fehlerhaft.
4. Vorsorglich weist der Senat darauf hin, daß dem FG auch insoweit ein Fehler unterlaufen ist, als es das FA zum Erlaß von Einkommensteuerbescheiden "nach den Regeln der unbeschränkten Steuerpflicht" verpflichtet hat, ohne klarzustellen, ob darunter eine Zusammenveranlagung oder eine Einzelveranlagung zu verstehen ist. Da der Kläger in seinem Klageantrag auf die abgegebenen Steuererklärungen Bezug genommen hatte, hätte das FG den Klageantrag im Sinne einer Zusammenveranlagung (§ 26 b des Einkommensteuergesetzes) auslegen müssen. Die Verpflichtung zum Erlaß entsprechender Einkommensteuerbescheide setzt aber in tatsächlicher Hinsicht Feststellungen über die unbeschränkte Einkommensteuerpflicht der Ehefrau des Klägers voraus. Diese fehlen. Entsprechendes gilt für die Aufhebung des Vermögensteuerbescheides zum 1. Januar 1973.
Fundstellen
Haufe-Index 420249 |
BFH/NV 1995, 606 |