Leitsatz (amtlich)
1. Die Zustellung nach § 219 Abs. 1 Satz 2 AO setzt voraus, daß die Gesellschafter "dem Finanzamt" einen Vertreter benannt haben, der ermächtigt ist, für sämtliche Gesellschafter Bescheide, Verfügungen und Mitteilungen der Verwaltungsbehörden in Empfang zu nehmen. Die Ermächtigung darf im Zeitpunkt der Zustellung nicht widerrufen sein.
2. Bei der Zustellung nach § 219 Abs. 1 Satz 3 AO hat das FA nach pflichtgemäßem Ermessen zu prüfen (§ 2 Abs. 2 StAnpG), ob die vereinfachte Zustellung nicht den Grundsatz des Rechtsschutzes des Steuerpflichtigen außer Kraft setzt.
Normenkette
AO § 219 Abs. 1
Tatbestand
Im Jahre 1919 ist der Gründer des X-Sanatoriums, einer Privatkrankenanstalt in Y, gestorben. Ihn beerbten seine Witwe, die 1940 starb, und seine drei Kinder, nämlich die Klägerin, Dr. med. A (gestorben 1951) und Dr. jur. B (gestorben 1960). An die Stelle des Dr. med. A traten seine Witwe C und die Kinder Dr. med. D, E und F. Dr. jur. B beerbten seine Witwe G und zwei Kinder.
Die Erbengemeinschaften haben sich mit Ausnahme des dem X-Sanatorium gewidmeten Nachlaßvermögens bis 1952 auseinandergesetzt. Die Klägerin und die Erbengemeinschaft nach Dr. B betrieben aber seit 1960 auch die Auseinandersetzung der Erbengemeinschaft bezüglich des X-Sanatoriums. Bei den Akten befindet sich eine nicht beglaubigte Abschrift, wonach die Klägerin eine Vereinbarung der Miterben vom 30. August 1961 unterschrieben hat, in der zum Zweck der endgültigen Auseinandersetzung Dr. D und Frau G zur Abwicklung bestellt werden.
Der Krankenhausbetrieb ist mit dem 15. Oktober 1961 eingestellt worden.
Die bisher tätig gewesene Steuerbevollmächtigte, Frau H, wies sowohl in einem Fristverlängerungsantrag im November 1961 als auch bei Abgabe der Erklärung zur Feststellung des Gewinns für 1960 im März 1962 auf die mangelnde Einigkeit der Erben über die Gewinnverteilung 1960 hin.
Der Ehemann der Klägerin schrieb dem FA am 4. Mai 1962:
"Zur Einkommensteuerveranlagung der früheren Eigentümer des X-Sanatoriums widerspreche ich namens und in Vollmacht meiner Frau der beantragten einheitlichen Feststellung des gewerblichen Gewinns zum 31.12.1960.
Meine Frau und Frau G sind durch Kündigung zum 30.6.1960 aus der Betriebsgesellschaft ausgeschieden und haben erklärt, daß sie den Betrieb unter keinen Umständen fortsetzen wollen. Die Gesellschaft trat damit in Liquidation.
Es wurde zunächst über eine Übernahme des Betriebes durch die Familie C verhandelt. Die Verhandlungen scheiterten. Dr. D setzte den Betrieb gleichwohl gegen den Widerspruch der ausgeschiedenen Beteiligten für eigene Rechnung fort. Die ausgeschiedenen Gesellschafter verlangten und erhielten für die gegen ihren Willen erfolgte Benutzung des Hauses und der Einrichtung je Drittel-Erbteil einen Schadensersatz von 7 800 DM halbjährlich ab 1.7.1960.
Die von der Steuerhelferin Fräulein H vorgelegte Bilanz zum 31.12.1960 entspricht nicht diesen ihr bekannten tatsächlichen Vereinbarungen. Eine einheitliche Feststellung des Gewerbegewinns kann letztmalig nur zum 30.6.1960 erfolgen."
Daraufhin belehrte das FA die Klägerin, daß ein Rechtsmittel gegen eine Steuererklärung nicht gegeben sei, stellte aber anheim, das Rechtsmittel gegebenenfalls gegen den Feststellungsbescheid einzulegen. Des weiteren bat das FA, zwecks Prüfung der Gesellschaftsverhältnisse bzw. der Kündigung zum 30. Juni 1960 um Einreichung der Kaufverträge bzw. der Kündigung. Die Antwort der Klägerin vom 19. Mai 1962 lautete:
"Auf Ihren Bescheid vom 17.5.1962 kann ich nur wiederholen, daß Frau H nicht ermächtigt ist, namens meiner Frau eine einheitliche Gewinnfeststellung aus Gewerbebetrieb für den 31.12.1960 zu beantragen. Es ist Frau H mitgeteilt worden, daß meine Frau und Frau G den Geschäftsbetrieb nicht über den 30.6.1960 fortzusetzen wünschen und das bisher bestehende Gesellschaftsverhältnis gekündigt haben. Dementsprechend hat Frau H eine Schlußbilanz zum 30.6.1960 aufgestellt. Die einheitliche Gewinnfeststellung könnte daher nur zu diesem Zeitpunkt erfolgen. Die zum 31.12.1960 aufgestellte Bilanz entspricht nicht den tatsächlichen Verhältnissen, sondern ignoriert die ausgesprochenen Kündigungen. Dementsprechend gebe ich hier in Z die Steuererklärung für meine Frau ab. Mit dem Finanzamt in Y habe ich nichts zu tun und lehne auch die Einreichung irgendwelcher Urkunden ab. Ich habe Ihnen lediglich Tatsachen mitgeteilt, die Sie zur ordnungsmäßigen Behandlung des Antrages der Frau H kennen müssen."
Im Juli 1962 fand eine Betriebsprüfung bei der Privatkrankenanstalt "X-Sanatorium" statt. Der Betriebsprüfungsbericht enthält zu den Betriebsverhältnissen folgende Angaben: Die Klägerin vertrete zwar die Auffassung, sie sei zum 30. Juni 1960 durch Kündigung ausgeschieden. Darüber bestünden aber Meinungsverschiedenheiten zwischen den Erben, die bis zum Abschluß der Betriebsprüfung nicht zu bereinigen gewesen seien. Der Besteuerung müsse daher bis auf weiteres die vorläufige Bilanz zum 31. Dezember 1960 zugrunde gelegt werden, zumal die Klägerin eine Auseinandersetzungsbilanz zum 30. Juni 1960 nicht eingereicht habe.
Das FA stellte dem Betriebsprüfungsbericht folgend den Gewinn für 1960 unter Zugrundelegung des 31. Dezember 1960 einheitlich und gesondert fest. Den Feststellungsbescheid sandte es am 25. Oktober 1962 an Frau G und an Dr. D.
Am 13. Dezember 1962 ging beim FA ein Antrag der Klägerin auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ein. Zugleich legte die Klägerin Einspruch gegen die einheitliche Gewinnfeststellung zum 31. Dezember 1960 ein, weil sie am Gewinn und Verlust nicht mehr beteiligt gewesen sei. Das FA verwarf den Einspruch als unzulässig, weil er nicht fristgerecht eingelegt worden sei. Die Frist für die Einlegung des Rechtsmittels sei am 28. November 1962 abgelaufen, denn die Klägerin müsse die Bekanntgabe des Feststellungsbescheides an Frau G und Dr. D gegen sich gelten lassen.
Das FG wies die Klage der Klägerin als unbegründet zurück.
Mit der Revision rügt die Klägerin die Verletzung der §§ 215, 219 und 239 AO und die Versagung rechtlichen Gehörs. Das FA beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen, weil sie nicht innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des Urteils begründet worden sei.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die Revision ist zulässig, sie ist fristgerecht eingelegt und, wie aus den Akten ersichtlich, auch fristgerecht begründet worden. Sie hat auch Erfolg.
Nach § 219 Abs. 1 Satz 1 AO richtet sich ein einheitlicher Feststellungsbescheid, der nach § 215 AO erlassen wird, weil mehrere an einem Gegenstand beteiligt sind, gegen alle Personen, die an dem Betrieb beteiligt sind. Um diesen gegenüber wirksam zu werden, muß er ihnen bekanntgegeben werden. Dazu genügt aber das folgende Verfahren: Gesellschafter haben dem FA einen Vertreter zu benennen, der ermächtigt ist, für die sämtlichen Gesellschafter die im § 215 AO vorgesehenen Feststellungsbescheide in Empfang zu nehmen (§ 219 Abs. 1 Satz 2 AO). Solange die Gesellschafter einen solchen Vertreter dem FA nicht benannt haben, ist das FA berechtigt, den Feststellungsbescheid mit Wirkung für und gegen alle einem Gesellschafter zugehen zu lassen (§ 219 Abs. 1 Satz 3 AO).
Auch im Streitfall war das dargestellte Verfahren dem Grundsatz nach anwendbar. Da die genannten Vorschriften entsprechend für Gemeinschaften gelten (§ 219 Abs. 1 Satz 4 AO), kann es dahingestellt bleiben, ob das X-Sanatorium noch von der Erbengemeinschaft als einer Gemeinschaft betrieben worden ist oder ob diese in eine Gesellschaft des bürgerlichen Rechts zum Betrieb eines Gewerbes umgewandelt worden ist.
Es ist zwar geltend gemacht worden, § 219 Abs. 1 Sätze 2 bis 4 AO seien mit Art. 103, Art. 19 Abs. 4 GG nicht vereinbar. Der BFH hat sich im Urteil III 244/64 vom 27. November 1968 (BFH 94, 517, BStBl II 1969, 250) mit dieser Auffassung auseinandergesetzt und die Verfassungsmäßigkeit des § 219 Abs. 1 Sätze 2 bis 4 AO bejaht. Die gegen diese Entscheidung erhobene Verfassungsbeschwerde wurde vom Dreierausschuß des BVerfG nicht zur Entscheidung angenommen (Beschluß 2 BvR 216/69 vom 7. Juli 1969). Damit hat das BVerfG die Verfassungsmäßigkeit des § 219 Abs. 1 AO nicht in Zweifel gezogen.
Dennoch konnte das FA im vorliegenden Fall die Zustellung des einheitlichen Gewinnfeststellungsbescheides 1960 nicht nach § 219 AO bewirken, weil die Voraussetzungen des Abs. 1 Sätze 2 und 3 nicht gegeben waren. Das ergibt sich aus folgenden Gründen:
Einen Vertreter, der ermächtigt ist, für die sämtlichen Gesellschafter bzw. Gemeinschafter die in § 215 AO vorgesehenen Bescheide in Empfang zu nehmen, hatten die Gesellschafter oder Gemeinschafter dem FA im Zeitpunkt der Zustellung des Gewinnfeststellungsbescheides am 25. Oktober 1962 nicht benannt. Soweit die Klägerin früher ihren Bruder Dr. B ermächtigt hatte, war die Vollmacht mit dessen Tode im Jahre 1960 erloschen. Eine Bevollmächtigung der Steuerbevollmächtigten, Frau H, hat die Klägerin mit ihren an das FA gerichteten Schreiben vom 4. und 19. Mai 1962 ausdrücklich verneint. Zu Unrecht meinen das FA und das FG, mit der Vereinbarung vom 30. August 1961 habe die Klägerin Frau G und Dr. D zu Zustellungsbevollmächtigten ernannt. Selbst wenn in dieser Vereinbarung eine solche Bevollmächtigung läge, so wäre sie mit den an das FA gerichteten Erklärungen der Klägerin vom 4. und 19. Mai 1962 in bezug auf die einheitliche Gewinnfeststellung 1960 widerrufen und somit hinfällig. Die Vereinbarung vom 30. August 1961 ist zudem nur eine interne Abrede; sie ist in einer nicht beglaubigten Abschrift ohne die Unterschrift der Klägerin bei den Akten und somit keine Vertreterbestellung "dem Finanzamt" gegenüber, wie § 219 Abs. 1 Satz 2 AO sie vorsieht.
Wie die Verhältnisse im Streitfall liegen, meint das FA auch zu Unrecht, es habe, solange ihm ein Vertreter nicht benannt worden sei, nach § 219 Abs. 1 Satz 3 AO vorgehen können und einem der Gesellschafter bzw. Gemeinschafter den Bescheid mit Wirkung für und gegen alle zugehen lassen können. Ob das FA auf die Wirkung der Zustellung für und gegen alle in dem Bescheid hingewiesen hat, wie § 219 Abs. 1 Satz 3 AO es ausdrücklich vorsieht, ist den Akten ohnehin nicht zu entnehmen; die Ausführung des FA in den Gründen der Einspruchsentscheidung, der Bescheid enthalte diesen Hinweis, ist nicht ausreichend für diese Annahme. Das FA hat aber die Grenzen seines Ermessens insofern überschritten, als es die Klägerin von der Zustellung des Gewinnfeststellungsbescheides aussparte. Das FA ist nicht verpflichtet, nach § 219 Abs. 1 Satz 3 AO zu verfahren, sondern hat nur die Möglichkeit, im einzelnen Fall nach pflichtgemäßem Ermessen, d. h. nach Recht und Billigkeit (§ 2 Abs. 2 StAnpG), zu prüfen, ob es den hier vorgesehenen oder den "normalen" Weg der Bekanntgabe seines Bescheides wählen will. Bei der Handhabung seines Ermessens hat es zu berücksichtigen, daß § 219 Abs. 1 Sätze 2 bis 4 AO zwar eine Vereinfachung des Verwaltungsverfahrens erreichen, den Grundsatz des Rechtsschutzes aber nicht außer Kraft setzen soll. Nach der ständigen Rechtsprechung des BFH darf in der Regel § 219 Abs. 1 Satz 3 AO nicht angewandt werden, wenn das Vorliegen der Gesellschaft oder Gemeinschaft zweifelhaft ist (vgl. die Urteile III 204/57 U vom 28. November 1958, BFH 68, 170, BStBl III 1959, 66, und IV 433/61 vom 17. Dezember 1964, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1965 S. 284). Im Streitfall war das FA sowohl von der bisherigen Steuerbevollmächtigten als auch von der Klägerin dahingehend informiert worden, daß Unstimmigkeiten in der Erbengemeinschaft z. B. auch bezüglich der Verteilung der Gewinnanteile 1960 herrschten; ihm war auch bekannt, daß die Klägerin eine Gewinnfeststellung nur bis zum 30. Juni 1960 für berechtigt hielt, unter diesen Umständen war es ermessensmißbräuchlich, wenn das FA nicht auch die Klägerin von der Gewinnfeststellung zum 31. Dezember 1960 durch Zustellung des Bescheides verständigte und ihr die Möglichkeit gab, im Rechtsmittelverfahren ihre materiell-rechtlichen Bedenken vorzubringen.
Schließlich ist auch die Ansicht des FG rechtsirrig, es reiche aus, daß die Steuerbevollmächtigte, Frau H, die Klägerin bzw. deren bevollmächtigten Ehemann rechtzeitig von dem Gewinnfeststellungsbescheid unterrichtet habe. Diese Unterrichtung ersetzt nicht eine vom FA zu bewirkende Zustellung.
Da mithin die Zustellung des Gewinnfeststellungsbescheides 1960 an Frau G und Herrn Dr. D eine wirksame Zustellung an die Klägerin nicht zur Folge hatte, ist eine Rechtsmittelfrist für die Klägerin nicht in Lauf gesetzt worden und der Einspruch der Klägerin beim FA nicht verspätet eingegangen.
Die Einspruchsentscheidung und das Urteil des FG waren danach aufzuheben. Im jetzt anhängigen Einspruchsverfahren, zu dem die übrigen Mitglieder der Erbengemeinschaft bzw. Gesellschafter zuzuziehen sind, können die Streitfragen hinsichtlich der Gewinnfeststellung 1960 geklärt werden.
Fundstellen
Haufe-Index 68865 |
BStBl II 1970, 169 |
BFHE 1970, 410 |