Entscheidungsstichwort (Thema)
Voraussetzungen für Abstandnahme von Zollnacherhebung
Leitsatz (NV)
1. Zu den Voraussetzungen für ein Absehen von der Zollnacherhebung (insbesondere sog. aktiver Irrtum der Zollbehörde, hier im Zusammenhang mit der Tarifierung).
2. Für die Entscheidung, ob der Irrtum für den Zollbeteiligten nicht erkennbar war - u. a. Voraussetzung für die Abstandnahme von der Nacherhebung (1.) -, bedarf es einer konkreten Beurteilung aller Umstände des Einzelfalls (EuGH), die der Tatrichter vorzunehmen hat.
Normenkette
EWGV 1697/79 Art. 5 Abs. 2; ZG § 17 Abs. 2, § 12 Abs. 1 Sätze 1, 3
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsbeklagte führte in den Jahren . . . laufend Saiten für Tennis- und Badmintonschläger ein. Die Waren wurden bei der Zollabfertigung entsprechend den Anmeldungen als ,,Gimpen" der Tarifnr. 58.07 B des Gemeinsamen Zolltarifs eingereiht. Mit Bescheid . . . forderte das beklagte und revisionsklagende Hauptzollamt (HZA) den sich aus der - richtigen - Tarifierung als Waren aus Kunststoffen (Tarifnr. 39.07) ergebenden Zoll nach, den die Klägerin entrichtet hat. Über ihre Klage im Hauptsacheverfahren ist noch nicht entschieden.
Die Klage wegen der (vom HZA und von der Beschwerdebehörde abgelehnten) Aufhebung der Vollziehung des Nachforderungsbescheides hatte teilweise Erfolg. Das Finanzgericht (FG) hielt insoweit die Voraussetzungen für ein Absehen von der Nacherhebung gemäß Art. 5 Abs. 2 der (Nacherhebungs-)Verordnung (EWG) Nr. 1697/79 (VO - EWG - Nr. 1697/79) des Rates vom 24. Juli 1979 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften - AblEG - L 197/1) für gegeben. Es liege ein ,,aktiver" Irrtum der Abfertigungszollstellen vor, des HZA (für Abfertigungen ab . . .), weil ihm die auf seine Veranlassung durch den Betriebsprüfungsdienst geprüfte und bestätigte unrichtige Tarifierung zuzurechnen sei, des Zollamtes X, weil dieses seit . . . nach damals in einem Erstattungsfall erfolgter amtlicher Prüfung von derselben Tarifauffassung ausgegangen sei. Die übrigen Voraussetzungen für ein Absehen von der Nacherhebung - insbesondere Nichterkennbarkeit des Irrtums für den Beteiligten - seien mangels Kenntnis gegenteiliger Gesichtspunkte im Zweifel zugunsten der Klägerin als gegeben anzusehen. Für die Klägerin hätte nach dem Ergebnis der amtlichen Prüfung im Jahre . . . kein Anlaß bestanden, eine verbindliche Zolltarifauskunft (vZTA) zu beantragen.
Mit der Revision wendet das HZA sich gegen die Annahme eines (aktiven) Irrtums der Abfertigungszollstellen. Es sei stets ohne Zollbeschau und ohne Bezug auf Prüfungsergebnisse der Jahre . . . bzw. . . . aufgrund der ungeprüft übernommenen Zollanmeldungen abgefertigt worden. Damit greife die Beschaffenheitsvermutung nach § 17 Abs. 2 des Zollgesetzes (ZG) ein; für die Anwendung von Art. 5 Abs. 2 VO (EWG) Nr. 1697/79 sei kein Raum. Das FG habe keine Feststellungen zur Warenbeschaffenheit im Jahre . . . getroffen und sich nicht mit der damals geltenden Tariflage befaßt. Zu Unrecht habe das FG auch angenommen, daß ein (für die Nichterhebung ursächlicher) Irrtum von der Klägerin nicht habe erkannt werden können. Diese hätte sich über die maßgebenden zolltariflichen Vorschriften unterrichten können. Da sie ständig Waren eingeführt habe, hätte dazu auch Anlaß bestanden.
Die Klägerin führt im wesentlichen aus, die Tarifierung der - kompliziert aufgebauten - Tennissaiten sei nicht zweifelsfrei aus Rechtsvorschriften zu erkennen gewesen. Im Zusammenhang mit Art. 5 Abs. 2 VO (EWG) Nr. 1697/79 bestehe keine allgemeine Nachforschungspflicht des Beteiligten.
Entscheidungsgründe
Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Die bisherigen Feststellungen rechtfertigen nicht die Entscheidung, an der Rechtmäßigkeit der Zollnachforderung beständen ernstliche Zweifel (vgl. § 361 Abs. 2 Satz 2 der Abgabenordnung).
1. Für eine Abstandnahme von der Nacherhebung müssen drei Voraussetzungen erfüllt sein (Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften - EuGH -, Urteile vom 22. Oktober 1987 Rs 314/85, EuGHE 1987, 4225, 4232 f., und vom 12. Juli 1989 Rs 161/88, EuGHE 1989, 2433, 2437; Senat, N. V. Urteil vom 2. Mai 1991 VII R 117/89): Nichterhebung der Abgaben infolge eines Irrtums der zuständigen Behörden; Gutgläubigkeit des Abgabenschuldners in der Weise, daß er den behördlichen Irrtum nicht erkennen konnte; Beachtung der geltenden Bestimmungen betreffend die Zollerklärung.
Zwischen den Beteiligten ist umstritten, ob die ersten beiden Voraussetzungen erfüllt sind. Die Anmeldung einer nicht zutreffenden Tarifposition bedeutet - für sich allein - nicht, daß der Beteiligte die Vorschriften über die Zollanmeldung nicht beachtet und damit der dritten Voraussetzung nicht genügt hätte (vgl. Bail / Schädel / Hutter, Zollrecht, F IX 5/5 Rz. 15; unentschieden bisher Senat, Urteil vom 5. April 1990 VII R 50/88, BFH/NV 1991, 204, 207).
2. Keinen Bedenken begegnet die Vorentscheidung, soweit das FG die erste Voraussetzung - einen für die teilweise Nichterhebung ursächlichen zollbehördlichen Irrtum über die Tarifierung - für gegeben erachtet hat. Grundsätzlich ist die rechtlich unzutreffende Würdigung angemeldeter tatsächlicher Angaben ohne weiteres als ,,aktiver" (Rechts-)Irrtum der Verwaltung anzusehen (EuGHE 1987, 4225, 4233; Bail / Schädel / Hutter, a. a. O., Rz. 12 b). Bei der zolltariflichen Einreihung im Zusammenhang mit der Zollbehandlung sind jedoch Besonderheiten zu beachten. Der Zollbeteiligte ist verpflichtet, in der Zollanmeldung auch die einschlägige Zolltarifstelle anzumelden (§ 12 Abs. 1 Satz 1 ZG in der Fassung des 14. Gesetzes zur Änderung des ZG vom 3. August 1973, BStBl I 1973, 933, Bundeszollblatt 1973, 814); ihn trifft - auch nach Gemeinschaftsrecht (Art. 2 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 82/87/EWG der Kommission vom 17. Dezember 1981, ABlEG 1982 L 28/38) - Mitverantwortung bei der der Zollstelle obliegenden Zollrechtsfindung (Tarifierung). Die Vermutung gemäß § 17 Abs. 2 ZG erstreckt sich zwar nur auf die angemeldete Menge und Beschaffenheit der Ware, nicht, wie das HZA möglicherweise meint, (auch) auf die Tarifangabe. Die Zollstelle kann jedoch bei befundgerechter Zollanmeldung - zunächst - von einer dazu passend erscheinenden Tarifangabe ausgehen. Geschieht - nur - dies und erweist die angemeldete Tarifstelle sich später als unzutreffend, so liegt ein (,,aktiver") Irrtum der Behörde i. S. von Art. 5 Abs. 2 VO (EWG) Nr. 1697/79 nicht vor. Er ist hingegen gegeben, wenn die Fehltarifierung durch die Zollstelle erfolgt oder ihr zuzurechnen ist, wie etwa im Falle zollamtlicher Tarifierungshilfe - § 12 Abs. 1 Satz 3 ZG - in Verbindung mit weiteren Umständen (Senat in VII R 117/89).
Im Streitfall hat das FG einen rechtserheblichen zollbehördlichen Irrtum darin gesehen, daß von den Zollstellen veranlaßte zollamtliche Überprüfungen der Tarifierung stattgefunden hatten, jeweils mit einem die (unzutreffende) zolltarifliche Einreihung bestätigenden Ergebnis. Diese Würdigung des FG ist rechtlich nicht zu beanstanden. Insoweit ist die Zollverwaltung selbst tätig geworden (der Betriebsprüfungsdienst für das HZA). Da die Überprüfung der Einfuhren der Klägerin auch in zolltariflicher Hinsicht auf Veranlassung des HZA (,,gezielt") erfolgt war, konnte rechtsfehlerfrei auch die Ursächlichkeit des Irrtums der Verwaltung für die nachfolgenden Zollbehandlungen angenommen werden. Einer ausdrücklichen Bezugnahme auf das Prüfungsergebnis bedurfte es nicht. Entsprechendes gilt hinsichtlich der Einfuhren über das Zollamt X. Insoweit durfte das FG auch das Jahre zurückliegende amtliche Prüfungsergebnis berücksichtigen, weil nicht dargetan worden ist, daß dieses infolge von Tarifänderungen oder Änderung der Beschaffenheit der Einfuhrwaren gegenstandslos geworden sei. Die hiergegen erhobene Verfahrensrüge des HZA ist, weil nicht näher ausgeführt, unbegründet.
3. Aufzuheben ist die Vorentscheidung, weil das FG keine Feststellungen getroffen hat, die die Entscheidung rechtfertigen, daß der behördliche Irrtum für die Klägerin nicht erkennbar gewesen sei. Die Erwägung, mangels Kenntnis gegenteiliger Gesichtspunkte müsse hiervon zugunsten der Klägerin ausgegangen werden, ist - selbst im Rahmen eines summarischen Verfahrens - nicht ausreichend. Wie der EuGH erkannt hat (Urteil vom 26. Juni 1990 Rs 64/89, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung - HFR - 1990, 711), bedarf es für die Entscheidung, ob der Irrtum für den Beteiligten erkennbar war, einer konkreten Beurteilung aller Umstände des Einzelfalls, wobei die Art des Irrtums, die Erfahrung und die Sorgfalt des Beteiligten zu berücksichtigen sind. Der Senat kann mangels der hierzu erforderlichen tatsächlichen Feststellungen nicht abschließend entscheiden. Das FG wird die nötigen Feststellungen nachzuholen und auf ihrer Grundlage erneut darüber zu befinden haben, ob der Irrtum für die Klägerin erkennbar war. Dabei wird auch zu prüfen sein, ob unterschiedliche Tarifierungen von Tennissaiten vorgekommen sind und der Branche, der das Unternehmen der Klägerin angehört, bekannt waren (dazu Senat, N. V. Urteil vom 20. August 1991 VII R 123/89). Die Frage, ob Anlaß zur Einholung einer vZTA bestanden hat, kann sich im Zusammenhang mit der Sorgfaltspflicht des Beteiligten stellen (vgl. HFR 1990, 711, Abs. 22 der Urteilsgründe).
Fundstellen
Haufe-Index 418059 |
BFH/NV 1992, 496 |