Leitsatz (amtlich)
Nachsichtgewährung bei Verzögerungen im Postverkehr.
Normenkette
AO i.d.F. vor Änderung durch FGO § 86; AO i.d.F. vor Änderung durch FGO § 87 Abs. 5
Tatbestand
In dem Verfahren ist die Zulässigkeit der Berufung streitig. Das FG sah die am 8. September 1959 beim FA (Revisionsbeklagten) eingegangene Berufungsschrift der Steuerpflichtigen (Revisionsklägerin) als um einen Tag verspätet eingelegt an und verwarf die Berufung. Die Vorinstanz führte in ihrem in EFG 1964, 454 veröffentlichten Urteil aus: Es könne dahingestellt bleiben, ob die Darstellung der Steuerpflichtigen richtig sei, die am Sonnabend, dem 5. September 1959, bei einem Postamt in Nürnberg aufgegebene Einschreibsendung sei am 7. September 1959 zunächst dem FG zugestellt, von diesem jedoch ungeöffnet der Post zur Weiterleitung an das FA zurückgegeben worden. Jedenfalls sei das Rechtsmittel durch die versehentliche Zuleitung an das FG nicht im Sinne von § 249 Abs. 3 AO a. F. beim FG angebracht worden. Der versehentlichen Zuleitung könne nicht die Bedeutung eines Rechtsmitteleingangs beigemessen werden. Das Schriftstück sei nach dem Willen der Steuerpflichtigen für das FA bestimmt gewesen und habe erst von dort aus an das FG übersandt werden sollen. Es sei an das "Finanzgericht Nürnberg über das Finanzamt ..." adressiert worden. Die Straßenbezeichnung habe der des FA und nicht der des in einem anderen Stadtteil liegenden FG entsprochen. Die Gewährung von Nachsicht wegen Überschreitens der Rechtsmittelfrist komme nicht in Betracht. Einen entsprechenden Antrag habe die Steuerpflichtige nicht gestellt. Außerdem sei die Jahresfrist des § 87 Abs. 5 AO a. F. verstrichen, nach deren Ablauf Nachsicht nicht mehr begehrt oder ohne Antrag bewilligt werden könne.
Mit der nach dem Inkrafttreten der FGO als Revision zu behandelnden Rb. macht die Steuerpflichtige geltend, die Voraussetzungen für eine Nachsichtgewährung lägen vor.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die Revision ist begründet.
Die Steuerpflichtige hat einen Rechtsanspruch auf Gewährung von Nachsicht gemäß der hier noch anzuwendenden Vorschrift des § 86 AO a. F., deren Voraussetzungen gegeben sind. Der um einen Tag verspätete Eingang des Rechtsmittels beim FA war weder durch die Steuerpflichtige noch durch ihren Bevollmächtigten (vgl. § 86 Satz 2 AO a. F.) verschuldet. Die Steuerpflichtige konnte darauf vertrauen, die in einer Zeit regelmäßigen Postverkehrs am frühen Vormittag des Sonnabends bei der Post aufgegebene Berufungsschrift werde im Laufe des nächstfolgenden Montags bei dem in derselben Großstadt gelegenen FA eingehen (vgl. auch das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts IV C 86/63 vom 25. September 1963, Steuern und Finanzen 1964 S. 17). Sie brauchte trotz der Erwähnung des FG Nürnberg im Anschriftenfeld des Briefumschlags nicht damit zu rechnen, daß das Schriftstück zunächst dem FG zugeleitet würde und dadurch eine Verzögerung eintrete. Aus dem vollständigen Text der Adressierung, insbesondere aus der Straßenangabe, ging das FA als Empfänger der Sendung klar hervor. Die Auffassung der Vorinstanz, Verzögerungen von einigen Tagen müßten im Postverkehr in Rechnung gestellt werden, teilt der Senat in dieser Allgemeinheit nicht. Ebensowenig kann generell eine Verpflichtung des Rechtsmittelführers anerkannt werden, sich nach dem rechtzeitigen Eingang eines Rechtsmittels zu erkundigen.
Auf Grund des vorbezeichneten Sachverhalts hätte das FG der Steuerpflichtigen auf ihren Antrag Nachsicht gewähren müssen. Der Antrag ist rechtzeitig vor Ablauf der Jahresfrist des § 87 Abs. 5 AO a. F. gestellt worden. In dem beim FA bereits am 19. September 1959 eingegangenen Schreiben der Steuerpflichtigen ist ein Antrag auf Nachsichtgewährung zu sehen.
Da die Vorinstanz sonach zu Unrecht eine Nachsichtgewährung abgelehnt hat, war die Vorentscheidung aufzuheben. Die Sache ist nicht spruchreif, weil das FG zu der sachlichen Streitfrage keine Feststellungen getroffen hat. Die Streitsache wird daher gemäß § 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen. Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens nach § 143 Abs. 2 FGO übertragen.
Fundstellen
BStBl II 1968, 325 |
BFHE 1968, 298 |