Entscheidungsstichwort (Thema)
Zum Umfang der Sachaufklärungspflicht des FG
Leitsatz (NV)
- Zwar ist auch die Gewichtung entscheidungserheblicher Tatsachen in erster Linie Sache der Tatsacheninstanz; doch müssen die tatsächlichen Feststellungen des FG erforderlichenfalls, z.B. wenn es bei der Abgrenzung steuerbaren Verhaltens von Liebhaberei um die Beurteilung der Einkünfteerzielungsabsicht geht, den BFH in die Lage versetzen, die Gesamtwürdigung aller entscheidungserheblichen Umstände revisionsrechtlich zu prüfen und sich insoweit ein eigenes Bild von der tatrichterlichen Entscheidung zu machen.
- Dies erfordert, soweit die steuerrechtliche Entscheidung von der Beurteilung verschiedener sachlich miteinander zusammenhängender Verträge abhängt (hier: Vereinbarungen zur Leistung einer Rente gegen Einmalzahlung, jeweils in ausländischer Währung, sowie zur Finanzierung der Beitragsleistung), eine vollständige, anhand der einschlägigen Vertragstexte nachprüfbare, tatrichterliche Würdigung aller für die Zuordnung wesentlichen vertraglichen Vereinbarungen (u.U. außerdem ihrer tatsächlichen Handhabung).
- Ist diesen Anforderungen ‐ der Begründung des angefochtenen Urteils zufolge ‐ nicht genügt, hat sich die Revisionsentscheidung grundsätzlich auf die Prüfung und Darlegung der die Verletzung der Sachaufklärungspflicht begründenden Mängel zu beschränken.
Normenkette
EStG § 2 Abs. 1 S. 1, § 9 Abs. 1 S. 3 Nr. 1, § 22 Nr. 1 S. 3 Buchst. a; FGO § 76 Abs. 1 S. 1, § 96 Abs. 1 S. 1, § 126 Abs. 3 Nr. 2, § 155; ZPO § 295
Verfahrensgang
FG Düsseldorf (EFG 1998, 310) |
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger), geboren am 15. Juli 1940, erwarb nach den Feststellungen des Finanzgerichts (FG) im November 1990 von der X ein Rentenstammrecht zum Kaufpreis von 222 222 DM. Die auf Grund des Vertrages ab sofort bis zum Tod des Klägers zu zahlende Rente beträgt 9 437 engl. Pfund im Jahr. Der Wechselkurs betrug bei Vertragsabschluss 2,90 DM. Den Kaufpreis finanzierte der Kläger über einen Kredit mit einer Laufzeit von 15 Jahren. Der Zinssatz war für die ersten 10 Jahre auf 7,68 % festgelegt. Das Disagio in Höhe von 10 % wurde zwischenfinanziert. Die Zinsen hierfür beliefen sich auf 4 056 DM.
In seiner Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 1990 machte der Kläger aus der Rente unter Berufung auf § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a des Einkommensteuergesetzes (EStG) einen Verlust in Höhe von 22 222 DM geltend. Dessen Berücksichtigung lehnte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt ―FA―) mit der Begründung ab, es könne keine Einkunftserzielungsabsicht des Klägers festgestellt werden.
Nach erfolglosem Einspruchsverfahren errechnete der Kläger zur Begründung seiner Klage den seiner Meinung nach angestrebten Totalüberschuss wie folgt:
Rente 9 437,29 x Kurswert 2,567 DM x 39 % x 26 Jahre |
= |
245 652 DM |
Zinsen 7,68 % x 222 222 DM x 10 Jahre |
./. |
170 666 DM |
Disagio |
./. |
22 222 DM |
Zwischenkreditzinsen |
./. |
4 056 DM |
Überschuss |
|
48 708 DM |
Nachdem der Kläger mit einem Antrag auf Aussetzung der Vollziehung beim FG erfolglos geblieben war, änderte er sein Vorbringen mit der Begründung, zum Zeitpunkt der Investition im Oktober 1990 sei ein Verfall der englischen Währung nicht vorhersehbar gewesen. Auf der Basis eines Wechselkurses von 2,90 DM aber ergebe sich folgende Ergebnisrechnung:
Rente 9 437,29 x 2,90 DM x 41 % x 26 Jahre |
= |
291 486 DM |
Zinsen 7,68 % x 222 222 DM x 15 Jahre |
./. |
256 005 DM |
Disagio |
./. |
22 222 DM |
Überschuss |
|
13 259 DM |
Die Zwischenfinanzierung für das Disagio sei zunächst nur für ein Jahr, also in Höhe von 2 222 DM vorgesehen gewesen. Erst Ende 1991 habe er entschieden, den Zwischenfinanzierungskredit in Anspruch zu nehmen, so dass er letztendlich 4 056 DM habe zahlen müssen. Nachdem im September 1992 Großbritannien unerwartet aus dem Europäischen Währungssystem (EWS) ausgeschieden und das Pfund im Wert gesunken sei, habe er sofort mit der Vorsorge für den Tag der ―vertraglich vorbehaltenen― vorzeitigen Kreditkündigung nach zehn Jahren begonnen, indem er aus seinem Einkommen (aus selbständiger Arbeit, Gewerbebetrieb, Kapitalvermögen sowie Vermietung und Verpachtung) Rücklagen angesammelt habe; das geschehe auch weiterhin. Auch könne er Immobilien verkaufen, um das Darlehen vorzeitig abzulösen. Zudem sei in der Rentenversicherung ―entgegen der Ansicht des FA― kein Risikoanteil enthalten. Hinsichtlich der Kursentwicklung berief sich der Kläger auf eine Auskunft der Deutschen Bundesbank vom 9. November 1994, auf die Bezug genommen wird.
Das FG gab der Klage mit der Begründung statt, es stehe nach dem überzeugenden Vortrag des Klägers in der mündlichen Verhandlung fest, dass er das Rentenstammrecht in der Absicht erworben habe, "auf die lebenslange Dauer gesehen Überschüsse zu erzielen". Nach den zum Investitionszeitpunkt erkennbaren Umständen sei die Erzielung eines Totalüberschusses durchaus möglich gewesen. Wegen der Einzelheiten der weiteren Begründung wird auf die Veröffentlichung in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1998, 310 verwiesen.
Mit der Revision rügt das FA Verletzung formellen und materiellen Rechts. Es sei der Sachverhalt nicht ausreichend aufgeklärt und der Akteninhalt nicht hinreichend gewürdigt worden. Schon im Klageverfahren (mit Schriftsatz vom 26. Juli 1995 habe es die Vorlage der vollständigen Vertragsunterlagen in deutscher Übersetzung erbeten. Dem hätte das FG ―zumindest vor einer der Klage stattgebenden Entscheidung― folgen müssen. Darin, dass dies nicht geschehen sei, liege ein Verstoß gegen § 184 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) sowie gegen § 76 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Nicht vollständig gewürdigt sei der Akteninhalt außerdem insofern, als das FG bei seiner Totalüberschussberechnung einen Aufwand in Höhe von 7 751 DM nicht berücksichtigt habe. Hierbei handele es sich um Kreditvermittlungskosten, die ―wegen gleichzeitiger Finanzierung eines Darlehens zur Berlinförderung― nur anteilig anzusetzen seien. All dies sei dem FG aus den Akten des FA bekannt gewesen. Darüber hinaus wendet sich das FA gegen die in materiell-rechtlicher Hinsicht vom FG vertretene Auffassung.
Das FA beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt unter Berufung auf das FG-Urteil, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Einen den Streitpunkt nicht berührenden Änderungsbescheid vom 23. August 1999 hat der Kläger zum Gegenstand des Verfahrens gemacht.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Sie führt gemäß § 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG, weil diesem ein Verfahrensfehler unterlaufen ist, den das FA ordnungsgemäß gerügt hat.
1. Unbeantwortet bleiben kann die in der Revisionsbegründung angesprochene Frage, inwieweit die maßgeblichen Vertragsunterlagen in die deutsche Sprache hätten übersetzt werden müssen (§ 52 Abs. 1 FGO i.V.m. § 184 GVG; s. dazu: Beschlüsse des Bundesverwaltungsgerichts ―BVerwG― vom 9. Februar 1996 9 B 418/95, Neue Juristische Wochenschrift ―NJW― 1996, 1553, und des Bundesverfassungsgerichts ―BVerfG― vom 25. September 1985 2 BvR 881/85, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht ―NVwZ― 1987, 785; Zöller, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 21. Aufl., 1999, § 184 GVG Rz. 4; Baumbach/Lauterbach/Albers/ Hartmann, Zivilprozeßordnung, 57. Aufl. 1999, § 184 GVG Rz. 3 f.). Denn eine Verletzung des § 76 Abs. 1 Satz 1 sowie des § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO liegt jedenfalls darin, dass die Vertragsunterlagen (einschließlich Angebot mit Beispielsrechnung etc.) nicht nur nicht bei den Akten sind, sondern detaillierte Feststellungen hierzu im FG-Urteil fehlen. Das gilt vor allem auch für die wichtige Frage der Kündigungsmöglichkeit des zu beurteilenden Vertrages. Desgleichen fehlen zur Frage der Finanzierung vollständige Unterlagen bzw. ausreichende Feststellungen (Darlehensvertrag etc.). Dem Senat ist es auf diese Weise nicht möglich, die zur Entscheidung des Streitfalls erforderliche Gesamtwürdigung des FG in der in solchen Fällen gebotenen Weise revisionsrechtlich zu prüfen (vgl. z.B. Urteil des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 25. Mai 1988 I R 107/84, BFHE 154, 12, BStBl II 1989, 43, m.w.N.) und sich insoweit ein eigenes Bild zu machen (s. Gräber, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl., 1997, § 76 Rz. 19, § 118 Rz. 31). Ob auch dem FA eine Verletzung seiner Sachaufklärungspflicht im Vorverfahren anzulasten ist, kann dahinstehen. Im Klageverfahren ist es Sache des FG, den Sachverhalt unter Ausnutzung aller verfügbaren Beweismittel so vollständig wie möglich aufzuklären (BFH-Urteil vom 19. Juni 1997 V R 54/96, BFH/NV 1998, 174; zur Vollständigkeit der Akten: BFH-Urteile vom 26. Juni 1996 X R 53/95, BFH/NV 1997, 293, 294, und vom 15. Dezember 1998 VIII R 52/97, BFH/NV 1999, 943, 944). Ein (stillschweigender) Rügeverzicht kann schon deshalb nicht angenommen werden, weil das FA nach dem klageabweisenden Gerichtsbescheid, der zunächst ergangen war, mit einer Entscheidungserheblichkeit der Mängel, die sich im Wesentlichen erst aus der Urteilsbegründung ergeben, nicht rechnen musste.
2. In der Sache begnügt sich der Senat im Hinblick auf die einschlägige Rechtsprechung zu § 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO (BFH-Urteile vom 17. Oktober 1990 I R 118/88, BFHE 162, 534, BStBl II 1991, 242 unter 5., und vom 25. Februar 1999 III R 28/98, BFH/NV 1999, 1116, 1117) mit einem Hinweis auf sein heute ergangenes Urteil in der Sache X R 23/95.
3. Dem Senat erschien es zweckmäßig, durch Gerichtsbescheid zu entscheiden (§ 90a FGO).
Fundstellen
Haufe-Index 425663 |
BFH/NV 2000, 1097 |