Entscheidungsstichwort (Thema)
Ablaufhemmung der Festsetzungsfrist durch - von einem nicht Postulationsfähigen - eingelegte Revision; Rechtskraft eines - unter Missachtung des Vertretungszwangs - angefochtenen Urteils tritt erst mit der Rechtskraft der Verwerfungsentscheidung ein
Normenkette
AO 1977 § 171 Abs. 3 Sätze 1-2; EStG § 10d Abs. 1 S. 3; BFHEntlG Art. 1 Nr. 1; ZPO § 705
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) wurde aufgrund der 1988 abgegebenen Einkommensteuererklärung zusammen mit seiner Ehefrau zur Einkommensteuer 1986 veranlagt. Durch Änderungsbescheid vom 10. März 1992 wurde 1986 nach § 10d des Einkommensteuergesetzes 1987 i.d.F. des Steuerreformgesetzes 1990 vom 25. Juli 1988 (EStG) ein Verlust aus dem Veranlagungszeitraum 1988 in Höhe von 2 204 DM berücksichtigt.
Der Steuerbescheid für 1988 wurde am 23. März 1994 geändert; es ergab sich kein rücktragsfähiger Verlust mehr. Die Klage hiergegen hatte keinen Erfolg; die Revision ließ das Finanzgericht (FG) nicht zu. Gegen das Urteil legte der Kläger persönlich Revision beim Bundesfinanzhof (BFH) ein, die mit Beschluss vom 23. April 1996 als unzulässig verworfen wurde. Es fehle an der nach Art. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs (BFHEntlG) gebotenen ordnungsgemäßen Vertretung vor dem BFH, die Revisionseinlegung sei daher unwirksam.
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt ―FA―) änderte am 25. März 1996 die Einkommensteuer für das Streitjahr 1986 nach § 10d EStG und berücksichtigte keinen Verlustrücktrag mehr.
Gegen den Änderungsbescheid für 1986 erhob der Kläger nach erfolglosem Einspruch Klage. Der Bescheid sei unzulässig, da die Festsetzungsverjährung für das maßgebliche Jahr 1988 mit Ablauf der Revisionsfrist am 12. Februar 1996 eingetreten sei. Die von ihm eingelegte Revision sei dem BFH-Beschluss zufolge mangels ordnungsgemäßer Vertretung unwirksam, es verhalte sich so, als habe es die Revision nie gegeben.
Die Klage hatte Erfolg. Nach § 10d Abs. 1 Satz 3 EStG ende die Verjährungsfirst im Streitfall für 1986 nicht bevor die Verjährungsfrist für 1988 abgelaufen sei. Das Urteil des FG sei mit Ablauf der Revisionsfrist am 12. Februar 1996 rechtskräftig geworden. Eine weitergehende Ablaufhemmung aufgrund der persönlich eingelegten Revision sei nicht eingetreten, da es an der für die Wirksamkeit der Einlegung einer Revision erforderlichen ordnungsgemäßen Vertretung gemangelt habe. Das Handeln einer nicht postulationsfähigen Person könne nach dem BFH-Zwischenurteil vom 16. August 1979 I R 95/76 (BFHE 129, 1, BStBl II 1980, 47) nicht anders behandelt werden als ein Nichthandeln.
Das FA stützt seine Revision auf die Verletzung materiellen Rechts und beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger verweist auf die Vorentscheidung und beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des Urteils des FG und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―). Zu Unrecht ist das FG davon ausgegangen, dass die Festsetzungsfrist für den Änderungsbescheid betreffend Einkommensteuer 1986 abgelaufen war.
1.a) Nach § 10d Abs. 1 Satz 2 EStG sind bereits ergangene Steuerbescheide vorangegangener Veranlagungszeiträume insoweit zu ändern, als der Verlustabzug zu gewähren oder zu berichtigen ist. Das gilt auch dann, wenn die Steuerbescheide unanfechtbar geworden sind; die Verjährungsfristen enden insoweit nicht, bevor die Verjährungsfrist für den Veranlagungszeitraum abgelaufen ist, in dem die Verluste nicht ausgeglichen werden (§ 10d Abs. 1 Satz 3 EStG).
b) Die Verjährungsfrist für das Verlustentstehungsjahr 1988, die nach § 10d Abs. 1 Satz 3 EStG für das streitige Verlustrücktragsjahr 1986 maßgeblich ist, lief erst mit Rechtskraft des Verwerfungsbeschlusses vom 23. April 1996 und damit nach Erlass des Änderungsbescheides 1986 ab.
Der Ablauf der Festsetzungsfrist für das Verlustentstehungsjahr 1988 war durch die Anfechtung des Einkommensteuerbescheides 1988 nach § 171 Abs. 3 Satz 1 und Satz 2 der Abgabenordnung (AO 1977) gehemmt. Danach läuft die Festsetzungsfrist insoweit nicht ab, bevor über die Anfechtung des Steuerbescheides unanfechtbar entschieden worden ist. Letzteres ist erst dann der Fall, wenn die Entscheidung über die Anfechtung weder im außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren noch im Klageverfahren vor dem FG oder BFH weiter angefochten werden kann (Hartmann/ Beermann, Steuerliches Verfahrensrecht, § 171 AO Anm. 22, 27), d.h. das Urteil im Instanzenzug unabänderbar, also formell rechtskräftig geworden ist (BFH-Beschluss vom 14. Juli 1971 I R 127, 154/70, BFHE 103, 36, BStBl II 1971, 805). Erst mit dem Verwerfungsbeschluss vom 23. April 1996 wurde über die Einkommensteuersache 1988 abschließend entschieden; gegen den Verwerfungsbeschluss ist kein weiteres Rechtsmittel statthaft.
Nach dem Beschluss des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes (GmS-OGB) vom 24. Oktober 1983 GmS-OGB 1/83 (Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung ―HFR― 1984, 591) tritt bei der Verwerfung eines an sich statthaften und rechtzeitig eingelegten Rechtsmittels die Rechtskraft des Urteils i.S. des § 705 der Zivilprozeßordnung (ZPO) ―erst― mit der Rechtskraft der Verwerfungsentscheidung ein.
Das FA konnte deshalb bis zur Rechtskraft des Beschlusses vom 23. April 1996 den angefochtenen Bescheid 1988 nach den Grundsätzen über die Änderung nicht bestandskräftiger Verwaltungsakte (vgl. BFH-Beschluss vom 11. Februar 1991 X R 149/90, BFHE 163, 307, BStBl II 1991, 462) und den Steuerbescheid 1986 nach § 10d Abs. 1 Satz 2 EStG ändern. Der nach § 169 Abs. 2 i.V.m. § 170 Abs. 2 Nr. 1 AO 1977 zum 31. Dezember 1992 eingetretene Ablauf der Festsetzungsfrist war insoweit durch die Spezialvorschrift des § 10d Abs. 1 Satz 3 EStG gehemmt.
2. Der hemmenden Wirkung der den Steuerbescheid 1988 betreffenden Revision steht nicht entgegen, dass sie von dem nicht postulationsfähigen Kläger persönlich eingelegt wurde und deshalb unwirksam war; die Revision war statthaft i.S. des Beschlusses des GmS-OGB (in HFR 1984, 591). Der Senat verweist im Übrigen zur Vermeidung von Wiederholungen auf seine zwischen den gleichen Beteiligten ergangene Entscheidung XI R 75/97 vom heutigen Tage.
3. Der Senat erkennt gemäß §§ 90a, 121 FGO durch Gerichtsbescheid.
Fundstellen