Rückwirkendes Ereignis beim Realsplitting
Hintergrund: Zahlung aus Anlass der Scheidung
Die Entscheidung ist zum Realsplitting nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 EStG 2007 ergangen. Sie betrifft ebenso die aktuelle Rechtslage. Denn durch das ZollkodexAnpG aus 2014 wurde die Regelung ab 2015 ohne inhaltliche Änderung in § 10 Abs. 1a Nr. 1 EStG n.F. eingefügt.
Streitig war, ob der ESt-Bescheid 2007 der F (frühere Ehefrau des E) wegen eines rückwirkenden Ereignisses noch geändert werden konnte.
Anlässlich der Scheidung in 2007 hatte sich E verpflichtet, an F einen Abgeltungsbetrag (10.000 EUR) zu zahlen. F wurde in 2008 bestandskräftig veranlagt. Empfangene Unterhaltsleistungen hatte sie nicht angegeben.
E reichte in 2010 die Anlage U zur ESt-Erklärung ein, die die Zustimmung der F zum Antrag auf Abzug von Unterhaltsleistungen als Sonderausgaben enthielt. Da zunächst strittig war, ob der Abgeltungsbetrag bei ihm als Sonderausgaben zu berücksichtigen sei, erkannte das FA die Zahlung erst in 2015 bei E als abziehbare Unterhaltsleistung an.
Anschließend – in 2015 – erhöhte das FA die ESt 2015 und berücksichtigte die Zahlung als steuerpflichtige Unterhaltsleistung nach § 22 Nr. 1a EStG.
F wandte Festsetzungsverjährung ein. Nicht erst die Anerkennung des Sonderausgabenabzugs bei E in 2015, sondern bereits dessen Antrag, die Unterhaltsleistungen bei ihm (E) abzuziehen, sei das rückwirkende Ereignis i.S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO. Damit sei der Änderungsbescheid außerhalb der Festsetzungsfrist ergangen. Das FG folgte dem nicht und wies die Klage ab.
Entscheidung: Eingang der Anlage U als rückwirkendes Ereignis
Der BFH widerspricht dem FG. Bereits der Eingang der Anlage U zur ESt-Erklärung des E in 2010 nebst Zustimmungserklärung der F hat steuerliche Rückwirkung für 2007. Damit hatte die Revision in der Sache Erfolg. Der gegenüber F ergangene Änderungsbescheid wurde aufgehoben.
Die Antragstellung mit Zustimmungserklärung als rückwirkendes Ereignis
Eine Rückwirkung i.S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO liegt vor, wenn der geänderte anstelle des zuvor verwirklichten Sachverhalts der Besteuerung zugrunde zu legen ist. Das entscheidet sich nach dem im Einzelfall anzuwendenden materiellen Steuergesetz (BFH v. 19.7.1993, GrS 2/92, BStBl II 1993, 897). Steuerlich rückwirkend für den Ansatz von Unterhaltsleistungen als sonstige Einkünfte nach § 22 Nr. 1a EStG ist die Einreichung der Anlage U nebst Zustimmungserklärung des Empfängers beim FA des Gebers. Schon der Antrag des Gebers und die Zustimmung des Empfängers sind rechtsgestaltend. Sie überführen die Unterhaltsleistungen in den steuerrechtlich relevanten Bereich und ändern so ihren Rechtscharakter (BFH v. 14.4.2005, XI R 33/03, BStBl II 2005, 825). Die Unterhaltsleistungen werden durch den Antrag zu Sonderausgaben.
Doppelfunktion des Antrags
Damit hat der Antrag eine Doppelfunktion: Er ist nicht nur Verfahrensvoraussetzung für die steuerliche Berücksichtigung der Unterhaltsleistungen, sondern gleichzeitig materiell-rechtliche Voraussetzung für die Abzugsmöglichkeit dem Grunde nach (BFH v. 12.7.1989, X R 8/84, BStBl II 1989, 957). Die Steuerpflicht dieser Leistungen beim Empfänger hängt somit nicht davon ab, ob und inwieweit der Sonderausgabenabzug beim Geber tatsächlich zu einer Steuerminderung geführt hat. § 22 Nr. 1a EStG ist nicht einschränkend auszulegen (BFH v. 9.12.2009, X R 49/07, BFH/NV 2010, 1790). Bereits mit der Einreichung der ESt-Erklärung des E samt Anlage U und Zustimmung der F in 2010 ist das Ereignis eingetreten, welches zur Steuerbarkeit der Unterhaltsleistungen bei F als Unterhaltsberechtigte nach § 22 Nr. 1a EStG führte.
Festsetzungsverjährung eingetreten
Die vierjährige reguläre Festsetzungsfrist endete bereits mit Ablauf des Jahres 2012, da F ihre ESt-Erklärung in 2008 abgegeben hatte. Nach § 175 Abs. 1 Satz 2 AO begann die vierjährige Festsetzungsfrist des § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO aufgrund des in 2010 eingetretenen rückwirkenden Ereignisses mit Ablauf des Jahres 2010 zu laufen und endete damit mit Ablauf des Jahres 2014. Der erst in 2015 erlassene Änderungsbescheid der F ist infolgedessen außerhalb dieser Festsetzungsfrist ergangen.
Hinweis: Die Festsetzungsverjährung führt nicht zur Nichtigkeit
Der in 2015 – nach Ablauf der Festsetzungsfrist – ergangene Änderungsbescheid ist nicht nichtig. Ein nach Ablauf der Festsetzungsfrist ergangener Steuerbescheid ist zwar anfechtbar, aber nicht nichtig. Denn der Fehler ist bei verständiger Würdigung nicht offenkundig (BFH v. 3.3.2011, III R 45/08, BStBl II 2011, 673). Hinsichtlich der von F (auch) beantragten Nichtigkeitsfeststellung war die Revision daher unbegründet.
Gesetzeswortlaut
Zwar könnte der Wortlaut von § 22 Nr. 1a EStG ("abgezogen werden können") darauf hinweisen, die Steuerpflicht beim Empfänger sei an die tatsächliche Abzugsmöglichkeit beim Geber - und nicht an dessen Antrag – geknüpft. Der BFH weist dies zurück. Denn die Unterhaltsleistungen werden gerade durch den Antrag zu Sonderausgaben.
Unterscheidung von Auseinandersetzungs- und Unterhaltskosten
Da der Änderungsbescheid bereits wegen Festsetzungsverjährung aufzuheben war, konnte offen bleiben, ob es sich bei der Zahlung von 10.000 EUR überhaupt um "Unterhaltsleistungen" i.S. des § 22 Nr. 1a EStG handelte oder ob eine einkommensteuerlich nicht relevante Abfindung für einen geltend gemachten Zugewinnausgleichsanspruch vorlag.
BFH Urteil vom 28.07.2021 - X R 15/19 (veröffentlicht am 17.02.2022)
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