Entscheidungsstichwort (Thema)
Erlaß von Säumniszuschlägen
Leitsatz (amtlich)
Das FA ist regelmäßig nicht verpflichtet, bei Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung des Steuerpflichtigen mehr als die Hälfte der verwirkten Säumniszuschläge zu erlassen.
Normenkette
AO 1977 §§ 227, 240
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) betrieb ein Unternehmen, das er im Jahre 1984 wegen Überschuldung aufgeben mußte. Ein Konkursverfahren wurde mangels einer die Kosten deckenden Masse abgelehnt. Am 14. Oktober 1986 gab der Kläger die eidesstattliche Versicherung ab. In der darauffolgenden Zeit bestritt er seinen Lebensunterhalt durch Zuwendungen von Verwandten. In den Jahren 1987 und 1988 durchgeführte Vollstreckungsmaßnahmen des Beklagten und Revisionsklägers (Finanzamt -‐FA -) blieben fruchtlos.
Von seiner im Mai 1989 verstorbenen Mutter erbte der Kläger ein Grundstück. Dieses veräußerte er im Oktober 1990 für 235 000 DM. Ab 1991 erzielte der Kläger außer Gewinnen aus Gewerbebetrieb noch Einkünfte aus Kapitalvermögen.
Mit Schreiben vom 16. Juni 1993 beantragte der Kläger den Erlaß der Säumniszuschläge zur Einkommensteuer 1983 und 1984 in Höhe von 479,80 DM bzw. 5 685,40 DM. Auf die gegen den ablehnenden Bescheid des FA erhobene Beschwerde entschied die Oberfinanzdirektion (OFD) am 24. Februar 1994, daß die Hälfte der nach Berechnung des FA in der Zeit bis zum 30. November 1990 verwirkten Säumniszuschläge zur Einkommensteuer 1983 und 1984 aus sachlichen Gründen wegen Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung zu erlassen sei. Den Erlaß der restlichen Säumniszuschläge lehnte die OFD ab; sonstige sachliche Billigkeitsgründe lägen nicht vor, für einen Erlaß aus persönlichen Billigkeitsgründen fehle es bereits an der Erlaßbedürftigkeit des Klägers.
Entsprechend der Beschwerdeentscheidung der OFD erließ das FA Säumniszuschläge zur Einkommensteuer 1983 von 150 DM und zur Einkommensteuer 1984 von 1 691 DM.
Die erneuten Anträge des Klägers auf Erlaß der Säumniszuschläge hatten keinen Erfolg. Die OFD wies die Beschwerde mit Entscheidung vom 4. Juli 1995 als unbegründet zurück. Zur Begründung verwies sie darauf, daß nach Tz. 5c des Anwendungserlasses zu § 240 der Abgabenordnung ‐ AO 1977 ‐ (AO-Kartei, § 240, Karte 1) im Falle der Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung eines Antragstellers regelmäßig die Hälfte der verwirkten Säumniszuschläge zu erlassen sei. Ein weitergehender Erlaß komme nicht in Betracht, da im Falle der Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung zwar der Druckmittelcharakter der Säumniszuschläge entfalle, die übrigen Zwecke der Säumniszuschläge ‐ Verzinsung und Ausgleich für den Verwaltungsaufwand ‐ jedoch weiterhin gegeben seien. Im übrigen werde auf die Entscheidung vom 24. Februar 1994 Bezug genommen.
Das Finanzgericht (FG) hat der Klage teilweise stattgegeben. Es hat das FA verpflichtet, die in der Zeit vom 22. Oktober 1986 bis 29. Mai 1989 verwirkten Säumniszuschläge in voller Höhe zu erlassen. Ferner sei der Antrag des Klägers auf Erlaß der Säumniszuschläge für den Verwirkungszeitraum 30. Mai 1989 bis 31. Dezember 1990 unter der Beachtung der Rechtsauffassung des FG neu zu bescheiden. Im übrigen hat das FG die Klage abgewiesen.
Das FA und die OFD hätten das ihnen in § 227 i.V.m. § 5 AO 1977 hinsichtlich der Frage des Erlasses der verwirkten Säumniszuschläge eingeräumte Ermessen fehlerhaft ausgeübt, soweit es nicht die ab dem 31. Dezember 1990 verwirkten Säumniszuschläge beträfe. Hinsichtlich der bis zum 29. Mai 1989 verwirkten Säumniszuschläge liege eine Ermessensreduzierung auf Null vor, so daß ein vollständiger Erlaß geboten sei.
Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung seien Säumniszuschläge wegen sachlicher Unbilligkeit zu erlassen, wenn dem Steuerpflichtigen im Säumniszeitraum die rechtzeitige Zahlung der Steuerschulden wegen Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit unmöglich gewesen sei. Denn ihre Funktion als Druckmittel, um die Zahlung der fälligen Steuerschulden zu erreichen, könnten Säumniszuschläge in diesem Fall nicht erfüllen. Mit Urteil vom 23. Mai 1985 V R 124/79 (BFHE 143, 512, BStBl II 1985, 489) habe der Bundesfinanzhof (BFH) darüber hinaus einen Erlaß von Säumniszuschlägen dann für möglich gehalten, wenn bei Steuerfälligkeit eine Erlaß- oder Stundungssituation hinsichtlich der Steuerforderung bestanden habe oder wenn dem Steuerschuldner Ratenzahlungen als Maßnahme i. S. des § 258 AO 1977 eingeräumt worden seien, um auf die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit für eine längere Zeitspanne Rücksicht zu nehmen. Für diese zuletzt genannten Fälle habe der BFH darüber hinaus entschieden, daß angesichts des zusätzlichen Zwecks der Säumniszuschläge als Gegenleistung für das Hinausschieben der Zahlung in der Regel lediglich ein hälftiger Erlaß der Säumniszuschläge geboten sei. Diese Einschränkung ‐ lediglich hälftiger Erlaß ‐ könne jedoch nicht auf den Fall der Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit übertragen werden. Denn durch den hälftigen Erlaß solle der Steuerpflichtige so gestellt werden, wie wenn Aussetzung der Vollziehung oder Stundung gewährt worden wäre. Dementsprechend habe der BFH in BFHE 143, 512, BStBl II 1985, 489 einen vollständigen Erlaß der Säumniszuschläge bei Vorliegen der Voraussetzungen einer zinslosen Stundung für möglich gehalten. Entsprechendes müsse dann aber auch für den Fall der Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit gelten, in dem eine abgabenrechtliche Stundungssituation regelmäßig nicht vorliege, weil das wirtschaftliche Fortbestehen des Steuerpflichtigen nicht mehr ermöglicht werden könne.
Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit lägen im Streitfall nach den Feststellungen des FA jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt vor, zu dem der Kläger frühestens über das mütterliche Erbteil habe verfügen können, also bis 29. Mai 1989.
Mit der Revision macht das FA im wesentlichen geltend, das angefochtene Urteil verletze § 227 AO 1977. Nach dem Willen des Gesetzgebers und der Rechtsprechung des BFH seien Säumniszuschläge sowohl ein Druckmittel zur pünktlichen Zahlung wie auch ‐ ähnlich Zinsen ‐ eine Gegenleistung für das Hinausschieben der Zahlung. Ferner sollten Säumniszuschläge auch den angefallenen Verwaltungsaufwand ausgleichen. Ermessensgerecht sei daher auch in den Fällen der Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung nur ein Teilerlaß der Säumniszuschläge. Der säumige Steuerzahler sei jedenfalls in der Höhe durch Säumniszuschläge zu belasten, in der im Falle der Aussetzung der Vollziehung oder Stundung Zinsen angefallen wären.
Das FA beantragt, unter teilweiser Aufhebung des Urteils des FG die Klage hinsichtlich der Verpflichtung, dem Kläger im Zeitraum 22. Oktober 1986 bis 29. Mai 1989 verwirkte Säumniszuschläge zur Einkommensteuer 1983 und 1984 über den bereits gewährten Erlaß hinaus in voller Höhe zu erlassen, abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage insoweit, als das FG das FA verpflichtet hat, dem Kläger in der Zeit vom 22. Oktober 1986 bis 29. Mai 1989 verwirkte Säumniszuschläge zur Einkommensteuer 1983 in Höhe von 41,80 DM und zur Einkommensteuer 1984 in Höhe von 448 DM zu erlassen.
Das FG ist zu Unrecht davon ausgegangen, daß die im genannten Zeitraum verwirkten Säumniszuschläge in voller Höhe zu erlassen seien.
1. Gemäß § 227 Abs. 1 AO 1977 können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis, zu denen auch Ansprüche auf Säumniszuschläge gehören (§ 37 Abs. 1 i.V.m. § 3 Abs. 3 AO 1977), ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre.
Die Entscheidung über eine Billigkeitsmaßnahme ist eine Ermessensentscheidung, die gerichtlich nur in den durch § 102 der Finanzgerichtsordnung (FGO) gezogenen Grenzen nachprüfbar ist (Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Oktober 1971 GemS-OGB 3/70, BFHE 105, 101, BStBl II 1972, 603). Nach § 102 FGO ist die gerichtliche Prüfung des den Erlaß ablehnenden Bescheides und der hierzu ergangenen Beschwerdeentscheidung darauf beschränkt, ob die Behörde bei ihrer Entscheidung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem ihr eingeräumten Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat.
Die Ablehnung des vom Kläger begehrten Erlasses der Säumniszuschläge durch FA und OFD war nicht ermessensfehlerhaft.
2. Nach ständiger Rechtsprechung sind Säumniszuschläge ein Druckmittel eigener Art, das den Steuerschuldner zur rechtzeitigen Zahlung anhalten soll. Darüber hinaus verfolgt die Vorschrift des § 240 AO 1977 den Zweck, vom Steuerpflichtigen eine Gegenleistung für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuern zu erhalten. Durch Säumniszuschläge werden schließlich auch die Verwaltungsaufwendungen abgegolten, die bei den verwaltenden Körperschaften dadurch entstehen, daß Steuerpflichtige eine fällige Steuer nicht oder nicht fristgemäß zahlen (BFH-Urteil vom 29. August 1991 V R 78/86, BFHE 165, 178, BStBl II 1991, 906, m.w.N.).
Ein Erlaß von Säumniszuschlägen aus sachlichen Billigkeitsgründen ist geboten, wenn ihre Einziehung im Einzelfall, insbesondere mit Rücksicht auf den Zweck der Säumniszuschläge, nicht mehr zu rechtfertigen ist, weil die Erhebung ‐ obwohl der Sachverhalt den gesetzlichen Tatbestand erfüllt -, den Wertungen des Gesetzgebers zuwiderläuft. Sachlich unbillig ist die Erhebung von Säumniszuschlägen dann, wenn dem Steuerpflichtigen die rechtzeitige Zahlung der Steuer wegen Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit unmöglich ist und deshalb die Ausübung von Druck zur Zahlung ihren Sinn verliert (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. Urteile in BFHE 143, 512, BStBl II 1985, 489, und vom 16. September 1992 X R 169/90, BFH/NV 1993, 510, m. w. Rechtsprechungshinweisen). Für die Höhe des Erlasses ist jedoch auch der weitere Zweck der Säumniszuschläge zu berücksichtigen; denn Umstände, die der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des gesetzlichen Tatbestands einer steuerrechtlichen Vorschrift bewußt in Kauf genommen hat, rechtfertigen keinen Erlaß aus sachlichen Billigkeitsgründen. Ausgehend von den Wertungen des Gesetzgebers, wonach Säumniszuschläge auch als Gegenleistung für das Hinausschieben der Fälligkeit und zur Abgeltung des Verwaltungsaufwands dienen, kommt, wenn sie ihren Zweck als Druckmittel verfehlen, in der Regel nur ihr Teilerlaß in Betracht. Sie sind regelmäßig nur zur Hälfte zu erlassen, denn ein Säumiger soll grundsätzlich nicht besser stehen als ein Steuerpflichtiger, dem Aussetzung der Vollziehung oder Stundung gewährt wurde (BFH-Urteil in BFHE 165, 178, BStBl II 1991, 906, m.w.N.; vgl. auch BFH-Beschluß vom 20. Dezember 1988 X B 107/87, BFH/NV 1989, 761).
Die gegen die Rechtsprechung erhobene Kritik, daß der Teilerlaß gegen das Übermaßverbot verstoße (u.a. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 240 AO 1977 Rn. 2, und Höllig in Koch/Scholtz, Abgabenordnung, 5. Aufl., § 240 Rn. 38/1) übersieht, daß in diesen Fällen ein weitergehender Erlaß der Säumniszuschläge nicht ausgeschlossen ist.
Der Erlaß der vollen Säumniszuschläge kann insbesondere aufgrund der wirtschaftlichen Lage des Steuerpflichtigen dann gerechtfertigt sein, wenn die Voraussetzungen für einen Verzicht auf die Festsetzung von Stundungszinsen (§ 234 Abs. 2 AO 1977) erfüllt gewesen wären (BFH-Urteil in BFHE 143, 512, BStBl II 1985, 489; vgl. auch BFH-Urteil vom 18. April 1996 V R 55/95, BFHE 180, 516, BStBl II 1996, 561). Entgegen der Auffassung des FG ist dieser Verzicht allerdings nicht bereits deshalb geboten, weil der Steuerpflichtige zahlungsunfähig und überschuldet ist. Nach § 234 Abs. 2 AO 1977 kann auf die Zinsen ganz oder teilweise verzichtet werden, wenn ihre Erhebung nach Lage des Einzelfalls unbillig wäre. Da Zweck der Zinsen ist, eine Gegenleistung für die verspätete Zahlung zu erlangen, ist ihre Erhebung auch bei Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung des Steuerpflichtigen jedenfalls nicht sachlich unbillig. Ob ihre Erhebung aus persönlichen oder ‐ anderen ‐ sachlichen Gründen unbillig ist, ist aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls unter Beachtung der für Maßnahmen i. S. der §§ 163, 227AO 1977 geltenden Grundsätze zu entscheiden (vgl. Urteil in BFHE 180, 516, BStBl II 1996, 561, m. w. N.).
3. Nach den vorstehenden Rechtsgrundsätzen ist das FG zu Unrecht von einer Reduzierung des Ermessens des FA dahingehend, daß die Säumniszuschläge voll zu erlassen sind, ausgegangen. Die Vorentscheidung war aufzuheben. Die Sache ist spruchreif. FA und OFD haben das ihnen eingeräumte Ermessen fehlerfrei ausgeübt. Die OFD hat in ihrer in Bezug genommenen Entscheidung vom 24. Februar 1994 nach den vorstehenden Rechtsgrundsätzen geprüft, ob dem Kläger mehr als die Hälfte der verwirkten Säumniszuschläge aus sachlichen oder persönlichen Billigkeitsgründen zu erlassen ist. Sie hat den Erlaß rechtsfehlerfrei abgelehnt. Die Klage ist entsprechend dem Antrag des FA abzuweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 66181 |
BFH/NV 1998, 9 |
BStBl II 1998, 7 |
BFHE 184, 193 |
BFHE 1998, 193 |
BB 1998, 148 |
BB 1998, 148 (Leitsatz) |
DB 1998, 116 |
DB 1998, 116 (Leitsatz) |
DStRE 1998, 150 |
DStRE 1998, 150-152 (Leitsatz und Gründe) |
DStZ 1998, 447 |
DStZ 1998, 447 (Leitsatz) |
HFR 1998, 260 |