Entscheidungsstichwort (Thema)

Rechtsschutzbedürfnis bei verkündeten, aber noch nicht zugestellten Urteilen

 

Leitsatz (NV)

1. Die Einlegung der Revision ist bei verkündeten Urteilen auch schon vor Zustellung des Urteils möglich.

2. Ist ein bereits verkündetes Urteil den Beteiligten noch nicht in schriftlicher Form zugestellt, fehlt den Beteiligten für die Einlegung der Revision das Rechtsschutzbedürfnis jedenfalls so lange, wie dieser Revisionsgrund durch die Zustellung eines ordnungsgemäß schriftlich begründeten Urteils wieder entfallen könnte und die Revision dadurch gegenstandslos würde. Ist das vollständig abgefaßte Urteil vor Zustellung an die Beteiligten verlorengegangen und über einen längeren Zeitraum nicht wieder aufgefunden worden, haben die Beteiligten für die Einlegung der Revision ein Rechtsschutzbedürfnis.

3. Ein mündlich verkündetes, den Beteiligten aber nicht mehr (mit wirksamer Begründung) zustellbares Urteil ist aufzuheben.

 

Normenkette

FGO § 115 Abs. 1, § 116 Abs. 1 Nr. 5, § 119 Nr. 6

 

Tatbestand

Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) hatten wegen einer Grunderwerbsteuerfestsetzung des Beklagten und Revisionsklägers (Finanzamt -- FA --) Klage vor dem Finanzgericht (FG) erhoben. Dieses hat über die Klage am 11. Dezember 1991 mündlich verhandelt und nach Beratung noch am selben Tage ein Urteil verkündet, durch das -- nach den späteren Angaben des zuständigen Berichterstatters -- der Klage teilweise stattgegeben wurde.

Das Urteil ist den Beteiligten bis heute nicht zugestellt worden, weil der gesamte Aktenvorgang (Steuer- und Gerichtsakten einschließlich des von den Richtern abgesetzten und unterschriebenen Urteils) im Geschäftsbetrieb des FG abhanden gekommen ist und bislang nicht wieder aufgefunden wurde.

In dieser Sache hat der Berichterstatter am FG mit den Beteiligten am 22. Oktober 1993 die Situation erörtert. Auf seinen Vorschlag haben sich die Beteiligten "bis zu einem späteren Auffinden des Urteils" darauf verständigt, daß das FA als "Zwischenlösung" einen "unter dem Vorbehalt der Vorläufigkeit" stehenden Änderungsbescheid erlassen sollte, der nur bis zur Zustellung des abhandengekommenen Urteils an die Beteiligten Gültigkeit haben sollte.

Mit der Revision wendet sich das FA gegen das am 11. Dezember 1991 verkündete Urteil und macht geltend, dieses sei i. S. von § 119 Nr. 6 der Finanzgerichtsordnung (FGO) nicht mit Gründen versehen und könne auch -- selbst bei Rekonstruktion der abhandengekommenen Akten -- wegen Zeitablaufs wirksam nicht mehr mit Gründen versehen werden, da durch die Abfassung des Urteils erst nach mehreren Jahren nicht gewährleistet sei, daß dadurch das Beratungsergebnis zutreffend wiedergegeben werde.

Das FA beantragt, das Urteil des FG vom 11. Dezember 1991 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung an das FG zurückzuverweisen.

Die Kläger beantragen, die Revision zurückzuweisen.

Sie halten die Revision für unzulässig. Sie meinen gegen ein nicht zugestelltes Urteil könne Revision nicht eingelegt werden. Im übrigen bestehe für das FA kein Anlaß, das Revisionsverfahren zu betreiben, weil die Beteiligten sich am 22. Oktober 1993 vor dem FG entsprechend dem abhandengekommenen Urteil geeinigt hätten.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des FA führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).

1. Die Revision des FA ist zulässig.

a) Die Revision ist statthaft, weil den Beteiligten nach § 115 Abs. 1 FGO gegen Urteile des FG die Revision an den Bundesfinanzhof zusteht. Ohne Bedeutung ist, daß das am 11. Dezember 1991 verkündete Urteil den Beteiligten bislang nicht zugestellt wurde. Denn das Urteil ist bereits durch seine Verkündung am 11. Dezember 1991 wirksam geworden (vgl. § 104 Abs. 1 FGO; von Groll in Gräber, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 104 Tz. 7). Die Zustellung des vollständigen, unterschriebenen und mit ordnungsgemäßer Rechtsmittelbelehrung versehenen Urteils setzt lediglich die Rechtsmittelfrist in Lauf.

Einer Zulassung der Revision bedurfte es im Streitfall nicht, da das FA schlüssig gerügt hat, daß das FG-Urteil i. S. von § 116 Abs. 1 Nr. 5 FGO nicht mit Gründen versehen ist. Denn das vom FA mit der Revision angegriffene Urteil des FG ist lediglich mündlich verkündet, den Beteiligten jedoch in Schriftform nicht zugestellt worden. Ein in Schriftform nicht zugestelltes Urteil kann jedoch nicht anders behandelt werden als ein zwar in Schriftform zugestelltes, inhaltlich aber den Begründungsanforderungen nicht entsprechendes Urteil.

b) Das FA hat auch ein Rechtsschutzbedürfnis für die vorliegende Revision.

Das Rechtsschutzbedürfnis für die Einlegung einer auf den absoluten Revisionsgrund der fehlenden Begründung des FG- Urteils gestützten Revision ist nicht immer schon dann gegeben, wenn ein bereits verkündetes und damit wirksames Urteil den Beteiligten noch nicht in schriftlicher Form zugestellt wurde. Ein Rechtsschutzbedürfnis fehlt den Beteiligten in diesen Fällen jedenfalls so lange, wie dieser Revisionsgrund durch die Zustellung eines ordnungsgemäß schriftlich begründeten Urteils wieder entfallen könnte und die Revision dadurch gegenstandslos würde.

Letzteres ist aber dann nicht der Fall, wenn -- wie im Streitfall -- das vollständig abgefaßte Urteil vor Zustellung an die Beteiligten verlorengeht und über einen längeren Zeitraum (im Streitfall drei Jahre) nicht wieder aufgefunden wird oder wegen verspäteter Übergabe des vollständig abgesetzten Urteils (später als fünf Monate nach Verkündung) an die Geschäftsstelle das noch zuzustellende Urteil als nicht mit Gründen versehen angesehen werden müßte (vgl. Senatsurteil vom 10. November 1993 II R 39/91, BFHE 172, 404, BStBl II 1994, 187, unter Hinweis auf den Beschluß des Gemeinsamen Senates der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 27. April 1993 I/92, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1993, 674, Neue Juristische Wochenschrift 1993, 2603).

Im Streitfall kann nicht mehr davon ausgegangen werden, daß das am 11. Dezember 1991 verkündete, der Geschäftsstelle übergebene Urteil in einer den Begründungserfordernissen entsprechenden Form den Beteiligten zugestellt wird. Denn alle Bemühungen innerhalb des FG, die Aktenstücke wieder aufzufinden, sind bislang ergebnislos geblieben. Auch eine erneute Abfassung des Urteils und Übergabe an die Geschäftsstelle zwecks Zustellung an die Beteiligten könnte -- worauf das FA zu Recht hinweist -- wegen Ablaufs der Fünfmonatsfrist nicht mehr zu einem ordnungsgemäß mit Gründen versehenen Urteil führen.

c) Schließlich ist das FA durch das mit der Revision angegriffene Urteil auch beschwert. Zwar kann im Streitfall mangels Vorliegens eines schriftlichen Urteils konkret nicht festgestellt werden, daß der rechtskraftfähige Inhalt des angefochtenen Urteils für das FA nachteilig ist. Eine Beschwer des FA liegt im Streitfall aber darin, daß ein wirksames, weil mündlich verkündetes Urteil vorliegt, dessen Inhalt nicht feststeht und deshalb auch ungewiß ist, inwieweit dieses für das FA nachteilig ist.

d) Das FA hat die Revision auch fristgerecht eingelegt. Die Revisionsfrist beginnt gemäß § 120 Abs. 1 FGO mit der Zustellung des vollständigen Urteils an die Beteiligten. Da das mit der Revision angefochtene Urteil bislang nicht zugestellt wurde, hat die Revisionsfrist noch nicht begonnen und kann deshalb auch noch nicht abgelaufen sein. Entgegen der Auffassung der Kläger ist die Einlegung der Revision bei verkündeten Urteilen auch schon vor Zustellung möglich (vgl. Ruban in Gräber, a. a. O., 3. Aufl., § 120 Tz. 12; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 15. Aufl., § 120 Tz. 11).

e) Das FA hat auch nicht auf die Einlegung eines Rechtsmittels verzichtet. Die im Erörterungstermin vom 22. Oktober 1993 getroffene Regelung sollte ausdrücklich nur als Zwischenlösung bis zu einem späteren Auffinden des Urteils gelten. Da mit einem Auffinden des Urteils nicht mehr zu rechnen ist, ist die Grundlage für die Vereinbarung vom 22. Oktober 1993 offensichtlich entfallen. Die Vereinbarung enthält darüber hinaus keine Absprachen, die es dem FA verwehrten, Rechtsmittel gegen das verkündete, bislang nicht zugestellte Urteil einzulegen. Das FA ist -- entgegen der Auffassung der Kläger -- aufgrund dieser Vereinbarung nicht gehindert, das vorliegende Revisionsverfahren zu betreiben.

2. Die Revision ist auch begründet.

Das angefochtene Urteil beruht auf der Verletzung von Bundesrecht, weil die Entscheidung i. S. von § 119 Nr. 6 FGO nicht mit Gründen versehen ist. Der Fall der fehlenden Zustellung eines vollständig schriftlich abgesetzten Urteils kann dabei nicht anders beurteilt werden als der Fall, in dem das schriftlich abgefaßte Urteil den Beteiligten zugestellt, dieses jedoch den Begründungserfordernissen nicht entspricht. Im Fall der fehlenden Zustellung des Urteils liegt überhaupt keine Urteilsbegründung vor.

 

Fundstellen

Haufe-Index 420755

BFH/NV 1996, 139

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