Leitsatz (amtlich)
Die Tarifermäßigung gemäß § 34 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 EStG setzt nicht voraus, daß es infolge Zusammenballung von Einnahmen im Vergleich mit der steuerlichen Belastung bei vertelltem Zufluß tatsächlich nachweisbar zu einer Verschärfung der Steuerprogression kommt. Einkünfte für eine mehrjährige Tätigkeit, die gemäß § 34 Abs. 3 Satz 2 EStG zum Zwecke der Einkommensteuerveranlagung auf andere Jahre als das Zuflußjahr zu verteilen sind, sind bei der Berechnung des ermäßigten Steuersatzes nach § 34 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz EStG einzubeziehen.
Normenkette
EStG 1974 § 3 Nr. 9, § 24 Nr. 1a, § 34 Abs. 1-3
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) war vom 1. Oktober 1968 bis zum 31. Dezember 1974 als Angestellter bei der R.F.-KG (im folgenden: KG) beschäftigt.
Unterschiedliche Auffassungen über die Geschäftsführung zwischen dem allein vertretungsberechtigten Gesellschafter-Geschäftsführer F und dem Kläger hatten nach verschiedenen "Grundsatzbesprechungen" zur Folge, daß der Kläger aufgrund der Vereinbarung vom 5. Juli 1974 zum 31. Dezember 1974 aus den Diensten der KG ausschied. Die Arbeitsvertragsparteien vereinbarten u. a.:
"...
1. Der Anstellungsvertrag (des Klägers) endet am 31. Dezember 1974. F verzichtet mit Ausnahme der von beiden Partnern als unerläßlich angesehenen korrekten Übergabe aller laufenden Vorgänge ... auf aktive Tätigkeit (des Klägers) ab heute...
5. Ohne Rechtsanspruch erhält (der Kläger) neben den bis zum 31. Dezember 1974 geschuldeten Bezügen eine Abfindung von 65 000 DM ... Die steuerlichen Folgen trägt (der Kläger)."
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) lehnte es ab, die von der KG lohnversteuerte Abfindung gemäß § 3 Nr. 9 des Einkommensteuergesetzes in der Fassung vor 1975 (im folgenden: EStG) bei der Einkommensteuerveranlagung für das Streitjahr 1974 steuerfrei zu belassen. Die Klage, mit der der Kläger an seinem Begehren auf Steuerbefreiung der Abfindung festhielt und hilfsweise beantragte, für die Abfindung den ermäßigten Steuersatz gemäß § 34 Abs. 1 und Abs. 2 EStG in Verbindung mit § 24 Nr. 1 EStG zu gewähren, hatte keinen Erfolg.
Der Kläger rügt mit der Revision Verstoß der Vorentscheidung gegen § 3 Nr. 9 EStG und eine Verletzung des § 34 EStG. Er beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben, die Abfindung gemäß § 3 Nr. 9 EStG steuerfrei zu belassen, hilfsweise, die Abfindung tarifbegünstigt zu besteuern.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Der Bundesminister der Finanzen (BMF) ist dem Verfahren gemäß § 122 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) beigetreten und hat zur Frage der Berechnung des ermäßigten Steuersatzes gemäß § 34 Abs. 1 EStG für den Fall des Zusammentreffens der Vergünstigungen nach § 34 Abs. 1 und Abs. 3 EStG eingehend Stellung genommen.
Entscheidungsgründe
Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Ermäßigung der Einkommensteuerschuld 1974 von 103 402 DM auf 94 098 DM.
1. Die Revision ist unbegründet, soweit der Kläger die Steuerbefreiung der Abfindung begehrt.
Nach § 3 Nr. 9 EStG sind u. a. steuerfrei Abfindungen wegen Entlassung aus einem Dienstverhältnis aufgrund der §§ 9 und 10 des Kündigungsschutzgesetzes (KSchG). Das gleiche gilt für Abfindungen wegen Entlassung aus einem Dienstverhältnis, die in einem Vergleich festgelegt worden sind, wenn die Abfindung unter Berücksichtigung der §§ 9 und 10 KSchG dem Grunde nach berechtigt ist und -- grundsätzlich -- 12 Monatsverdienste nicht übersteigt. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) sind durch einen Vergleich vereinbarte Abfindungen wegen Entlassung aus einem Dienstverhältnis nach § 3 Nr. 9 EStG nur steuerfrei, sofern eine sozial ungerechtfertigte Kündigung oder eine unwirksame außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses vorangegangen ist (Urteile vom 14. April 1967 VI R 304/66, BFHE 88, 459, BStBl III 1967, 431, und vom 13. Juni 1969 VI R 207/67, BFHE 97, 2, BStBl II 1970, 4). An dieser Rechtsauffassung hat der BFH in dem Urteil vom 1. April 1977 VI R 132/75 (BFHE 121, 482, BStBl II 1977, 418) unter Hinweis auf Wortlaut, Zweck und Entstehungsgeschichte des § 3 Nr. 9 EStG ausdrücklich festgehalten. In jener Entscheidung hat der BFH darauf hingewiesen, daß die weitgehend politische Entscheidung, welche Art von Entlassungsentschädigungen steuerfrei sein soll, dem Gesetzgeber vorbehalten sei und die Rechtsprechung den Katalog der Steuerbefreiungstatbestände des § 3 Nr. 9 EStG nicht um weitere Tatbestände erweitern dürfe. Dort hat der BFH auch betont, daß die neue Regelung in § 3 Nr. 9 EStG 1975, wonach Abfindungen wegen einer vom Arbeitgeber veranlaßten oder gerichtlich ausgesprochenen Auflösung des Arbeitsverhältnisses auch ohne Vorliegen einer Kündigung bis zu bestimmten Höchstbeträgen einkommensteuerbefreit sind, auf Veranlagungszeiträume vor Inkrafttreten des Einkommensteuerreformgesetzes (EStRG) vom 5. August 1974 (BGBl I 1974, 1769, BStBl I 1974, 530) nicht angewendet werden dürfe.
2. Zu Unrecht hat das FG die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes gemäß § 34 Abs. 1 und Abs. 2 EStG in Verbindung mit § 24 Nr. 1 a EStG abgelehnt.
a) Zu den außerordentlichen Einkünften, die auf Antrag tarifbegünstigt besteuert werden, gehören nach § 34 Abs. 2 Nr. 2 EStG Entschädigungen im Sinne von § 24 Nr. 1 a EStG, die als Ersatz für entgangene oder entgehende Einnahmen gewährt werden. Die Vorinstanz hat im Streitfall die Tarifermäßigung des § 34 Abs. 1 und Abs. 2 EStG mit der -- unzutreffenden -- Begründung versagt, daß -- nach einer Vergleichsrechnung -- die Besteuerung der Abfindung in 1975 zu einer höheren steuerlichen Belastung des Klägers geführt hätte als deren steuerliche Erfassung im Jahr des Zuflusses 1974. Das Ergebnis einer solchen Vergleichsrechnung ist rechtlich unerheblich.
b) Nach § 34 Abs. 2 Nr. 2 EStG kommen als außerordentliche Einkünfte u. a. Entschädigungen gemäß § 24 Nr. 1 a EStG "in Betracht". Die Rechtsprechung hat aus den Worten "in Betracht kommen" und aus dem Charakter des § 34 EStG als einer Tarifvorschrift gefolgert, daß eine Entschädigung im Sinne von § 24 Nr. 1 a EStG nur dann tarifbegünstigt besteuert werden darf, wenn eine Zusammenballung von Einnahmen vorliegt, die sich bei normalem Ablauf des Geschehens auf mehrere Jahre verteilt hätten. Allein unter dieser Voraussetzung besteht ein sachlicher Grund für die Tarifermäßigung, weil nur in diesem Fall der Steuerpflichtige durch den Zufluß der Entschädigung einen steuerlichen Nachteil -- den der Progressionssteigerung -- erlitten hat, der durch die Milderung der Tarifprogression ausgeglichen werden kann und soll (BFH-Urteile vom 20. Oktober 1978 VI R 107/77, BFHE 126, 408, BStBl II 1979, 176, und vom 12. März 1975 I R 180/73, BFHE 115, 261, BStBl II 1975, 485 mit weiteren Hinweisen).
c) Die Tarifermäßigung gemäß § 34 Abs. 1 und Abs. 2 EStG setzt indes nicht voraus, daß es infolge der Zusammenballung von Einnahmen, verglichen mit der steuerlichen Belastung bei verteiltem Zufluß, auch tatsächlich nachweisbar zu einer Verschärfung der Steuerprogression kommt (so auch Offerhaus, Deutsche Steuer-Zeitung/Ausgabe A -- DStZ/A -- 1981, 445, 451 unter Bezugnahme auf das nichtveröffentlichte BFH-Urteil vom 21. November 1980 VI R 107/78). Es ist denkbar, daß das zu versteuernde Einkommen eines Steuerpflichtigen -- allein aufgrund dessen normal zu besteuernder Einkünfte -- über mehrere Jahre dem Spitzensteuersatz unterliegt. Hier erhöht sich durch den zusammengeballten Zufluß von außerordentlichen Einkünften nicht der Spitzensteuersatz, sondern lediglich der Durchschnittsatz der Tabellensteuer. Es ist nicht zweifelhaft, daß auch in Fällen dieser Art nach Wortlaut sowie Sinn und Zweck des Gesetzes die auf die außerordentlichen Einkünfte entfallende Einkommensteuer nach dem ermäßigten Steuersatz zu bemessen ist (vgl. Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz mit Nebengesetzen, Kommentar, 19. Aufl., § 34 EStG Anm. 2a). Dem Erfordernis des Nachweises, daß bei einer Entschädigung im Sinne des § 24 Nr. 1 a EStG eine Erhöhung der Steuerprogression im Vergleich zu den Verhältnissen bei unverändertem Zufluß der Einnahmen tatsächlich eingetreten sein muß, stände im übrigen entgegen, daß sich außerordentliche Einkünfte häufig nicht bestimmten Veranlagungszeiträumen zuordnen lassen. Aus diesem Grund wird ein fiktiver Steuerbelastungsvergleich in vielen Fällen praktisch nicht durchführbar sein. Deshalb genügt es für die Inanspruchnahme der Tarifermäßigung gemäß § 34 Abs. 1 und Abs. 2 EStG, daß der zusammengeballte Zufluß von Einnahmen eine höhere Einkommensteuer auslösen könnte, als dies bei einem verteilten Zufluß der Einnahmen der Fall wäre.
d) Der BFH hat allerdings in dem Urteil vom 17. Dezember 1959 IV 223/58 S (BFHE 70, 195, BStBl III 1960, 72) die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes ausnahmsweise von der Prüfung abhängig gemacht, ob die Besteuerung der Entschädigung infolge des Zusammentreffens dieser Zahlung mit anderen Einkünften im Jahr des Zuflusses sich ungünstiger ausgewirkt hat, als wenn die Einnahmen unverändert weitergeflossen wären. Dort handelte es sich indes um einen Sonderfall, nämlich um die Steuerbegünstigung einer Entschädigung, die an die Stelle entgehender oder entgangener Einnahmen nur eines Jahres getreten war. Ein solcher Sachverhalt liegt im Streitfall nicht vor. Im übrigen ist in BFHE 70, 195, BStBl III 1960, 72 ausgeführt, daß die Gewährung der Tarifermäßigung gemäß § 34 Abs. 1 und Abs. 2 EStG nicht Einzelberechnungen darüber voraussetze, ob die Besteuerung der Entschädigung im Jahr der Zahlung ungünstiger wäre als deren Besteuerung im Jahr der entgangenen oder entgehenden Einnahmen.
3. Die Vorentscheidung war aufzuheben, da sie auf einer anderen Rechtsauffassung beruht. Die Sache ist entscheidungsreif. Die hilfsweise begehrte Tarifermäßigung des § 34 Abs. 1 und Abs. 2 EStG in Verbindung mit § 24 Nr. 1 a EStG ist im Streitfall auf die Abfindung in Höhe von 65 000 DM zu gewähren. Der berichtigte Einkommensteuerbescheid 1974 vom 6. Mai 1976 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 5. Januar 1977 wird dahin geändert, daß die Einkommensteuerschuld 1974 auf 94 098 DM festgesetzt wird.
Hinsichtlich der Berechnung des ermäßigten Steuersatzes folgt der erkennende Senat der Rechtsauffassung des BMF. Gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz EStG beträgt der ermäßigte Steuersatz die Hälfte des durchschnittlichen Steuersatzes, der sich ergeben würde, wenn die Einkommensteuertabelle auf den "gesamten zu versteuernden Einkommensbetrag" anzuwenden wäre. Nach dem Wortlaut dieser Vorschrift sind die Einkünfte, die die Entlohnung für eine mehrjährige Tätigkeit darstellen und nach § 34 Abs. 3 EStG zum Zwecke der Einkommensteuerveranlagung auf andere Kalenderjahre als das Zuflußjahr zu verteilen sind, zur Berechnung des ermäßigten Steuersatzes gemäß § 34 Abs. 1 EStG in die Bemessungsgrundlage einzubeziehen. Denn "zu versteuernder Einkommensbetrag" ist gemäß § 32 Abs. 1 EStG das um die Kinderfreibeträge (§ 32 Abs. 2 EStG), um die besonderen Freibeträge (§ 32 Abs. 3 EStG) und um die sonstigen vom Einkommen abzuziehenden Beträge verminderte Einkommen des Zuflußjahres. Diese Begriffsbestimmung gilt auch für § 34 Abs. 1 EStG mit der Folge, daß die gemäß § 34 Abs. 3 EStG zum Zwecke der Einkommensteuerveranlagung auf andere Jahre zu verteilenden Einkünfte bei der Berechnung des ermäßigten Steuersatzes gemäß § 34 Abs. 1 EStG vom Einkommen nicht abgezogen werden dürfen. Hierfür spricht auch, daß der Wortlaut des § 34 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz EStG ausdrücklich auf den "gesamten zu versteuernden Einkommensbetrag" abstellt. Diese Auffassung wird weiter bestätigt durch den Wortlaut des § 34 Abs. 1 Satz 2 EStG. Danach ist auf den "restlichen zu versteuernden Einkommensbetrag" -- also auf den gesamten zu versteuernden Einkommensbetrag abzüglich der außerordentlichen Einkünfte -- die Steuertabelle anzuwenden, jedoch "vorbehaltlich der Absätze 3 und 4 ...". Hieraus kann nur gefolgert werden, daß zur Anwendung der Steuertabelle auf den "restlichen zu versteuernden Einkommensbetrag" u. a. auch die nach § 34 Abs. 3 EStG zu versteuernden Einkünfte auszuscheiden sind, weil sie im "gesamten zu versteuernden Einkommensbetrag" enthalten waren. Die Regelung des § 34 Abs. 1 Satz 2 EStG wäre unverständlich, wenn der Gesetzgeber davon ausgegangen wäre, daß durch weitere Steuerermäßigungstatbestände bei der Ermittlung der Bemessungsgrundlage für die Steuerermäßigung von außerordentlichen Einkünften nach § 34 Abs. 1 und Abs. 2 EStG von dem Prinzip der Abschnittsbesteuerung bzw. dem Zuflußprinzip hätte abgewichen werden sollen. Dem steht nicht entgegen, daß die Einkünfte, die die Entlohnung für eine mehrjährige Tätigkeit darstellen, nach dem Wortlaut des § 34 Abs. 3 Satz 2 EStG zum Zwecke der Einkommensteuerveranlagung auf die Jahre verteilt werden können, in deren Verlauf sie erzielt worden sind. Die nach § 34 Abs. 3 EStG auf andere Jahre zu verteilenden Einkünfte bleiben solche des Zuflußjahres. Sie werden lediglich "zum Zwecke der Einkommensteuerveranlagung" als Einkünfte von höchstens drei anderen Jahren fingiert. Diese Fiktion bezieht sich jedoch nur auf die Steuerberechnung nach § 34 Abs. 3 EStG. Sie ist ohne Einfluß auf die Ermittlung des ermäßigten Steuersatzes von außerordentlichen Einkünften im Sinne des § 34 Abs. 1 EStG.
Fundstellen
Haufe-Index 74544 |
BStBl II 1983, 221 |
BFHE 1982, 345 |