Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Der Senat tritt der Auffassung des Reichsfinanzhofs in seinem Urteil VI 162/41 vom 18. Juni 1941 (RStBl 1941 S. 457) bei, daß Rückfragen, die das zuständige Finanzamt vor der Veranlagung zur Feststellung des Steueranspruchs vornimmt, die Verjährung des Steueranspruchs in voller Höhe unterbrechen.

 

Normenkette

AO § 147 Abs. 1

 

Tatbestand

Der Bf. ist Inhaber eines Aufbereitungswerks. Er bezog im Jahre 1951 lediglich Einkünfte aus diesem Unternehmen. Seine Veranlagung zur Einkommensteuer 1951 erfolgte zunächst im Mai 1953 nach einem Gewinn von 50 000 DM. Sie wurde im November 1953 auf seinen Einspruch gemäß § 94 AO geändert, wobei ein Gewinn von 40 000 DM zugrunde gelegt wurde. Vor Bekanntgabe des ersten Steuerbescheids, der vom Sachgebietsleiter und vom Sachbearbeiter am 20. Mai 1953 unterzeichnet wurde, waren verschiedene Punkte Gegenstand der Erörterung zwischen dem Bf. und dem Finanzamt. In dieser Hinsicht ergibt sich aus den Akten:

1. In der Vermögensrechnung des Bf. für den 31. Dezember 1951 sind unter Anlagevermögen zu Ziff. 2 "Zufahrtswege" mit einem Betrag von 1000 DM aufgeführt. Dazu ist am Rande vom Finanzamt vermerkt: "Es handelt sich nach Angabe des Steuerberaters A. um geschotterte Wege, die nach 2 Jahren wieder erneuert werden müssen." Der Vermerk trägt das Zeichen des Bearbeiters und das Datum vom 25. März 1953.

2. In der Erfolgsrechnung des Bf. für 1951 sind unter Aufwendungen "sonstige Kosten" in Höhe von 15 000 DM aufgeführt. Der Bearbeiter des Finanzamts hat dazu, gleichfalls am 25. März 1953, vermerkt: "Darin enthalten 7c-Darlehen mit 10 000 DM. Angabe des Steuerberaters A."

3. Mit Schreiben vom 20. April 1953 übersandte der Berater des Bf. unter Bezugnahme auf eine von ihm bei dem Finanzamt geführte mündliche Rücksprache eine berichtigte Bilanz zum 31. Dezember 1951 und eine berichtigte Erfolgsrechnung für 1951. Gleichzeitig teilte er dem Finanzamt mit, daß er "den Rentenbescheid" nicht vorlegen könne, da sich der Bescheid zur Zeit nicht in Händen des Bf. befinde. Er versichere jedoch, daß er bei Anfertigung der Einkommensteuer-Erklärung 1951 persönlich Einsicht in diesen Bescheid genommen habe. Es handelt sich dabei um eine Rentenverpflichtung des Bf. an seine Eltern, die er in seiner Einkommensteuer-Erklärung unter den Sonderausgaben mit 3600 DM angesetzt hat und deren Abzug ihm auf seinen Einspruch in dem nach § 94 AO geänderten Bescheid zugebilligt wurde.

4. Mit Schreiben vom 16. Mai 1953 schließlich übersandte der Berater des Bf. dem Finanzamt "wunschgemäß" eine Einzelaufstellung über Aufwendungen in Höhe von 3000 DM. Es handelt sich dabei um die Erläuterung von Aufwendungen, die neben einem 7c-Darlehen in Höhe von 10 000 DM in dem bereits zu 2. genannten Betrag von 15 000 DM enthalten sind. Im gleichen Schreiben erörterte er nochmals den Bilanzposten "Zufahrtswege" und bemerkte ferner unter Hinweis auf eine Besprechung mit dem Bf., daß im Jahre 1951 "private Autounkosten" nicht entstanden seien.

Auf Grund einer im März 1958 durchgeführten Betriebsprüfung ergab sich statt eines bisher vom Finanzamt zugrunde gelegten Gewinns von 40 000 DM ein seiner Höhe nach unbestrittener Gewinn von 70 000 DM. Die anderweitige Ermittlung des Gewinns beruht in erster Linie auf einer Berichtigung der Bilanzposten "Betriebsgebäude" und "Betriebseinrichtung". In beiden Fällen handelt es sich um die nachträgliche Aktivierung von Anschaffungskosten bzw. Herstellungskosten. Die gemäß § 222 AO durchgeführte Berichtigung des Einkommensteuerbescheids führte zu einer Mehrsteuer von ........... DM.

Der Bf. vertritt -- im Gegensatz zum Finanzamt -- die Auffassung, daß der Anspruch auf die nachgeforderte Steuer gemäß § 148 AO -- wenn nicht schon mit Ablauf des Jahres 1956 -- so doch jedenfalls mit Ablauf des Jahres 1957 durch Verjährung erloschen sei. Die vom Prüfer im Jahre 1958 festgestellten neuen Tatsachen könnten mithin nicht mehr berücksichtigt werden, da sie nicht -- wie § 222 Abs. 1 Ziff. 1 AO fordere -- vor Ablauf der Verjährungsfrist bekanntgeworden seien.

Das Finanzgericht hat die vom Bf. statt des Einspruchs eingelegte Berufung (§ 261 AO) als unbegründet zurückgewiesen. Es geht dabei in Übereinstimmung mit dem Finanzamt davon aus, daß der Anspruch auf die nachgeforderte Steuer nicht schon mit Ablauf des Jahres 1957 verjährt sei, weil auch insoweit durch eine im Jahre 1953 erfolgte Unterbrechung der Verjährung gemäß § 147 Abs. 3 AO eine neue, bis zum Ablauf des Jahres 1958 reichende Verjährungsfrist in Lauf gesetzt worden sei.

Dagegen richtet sich die Rb. Sie ist gleichfalls unbegründet.

Der Bf. trägt zur Begründung seiner Rb. vor:

Nach dem Urteil des erkennenden Senats IV 156/57 U vom 3. Juli 1958 (BStBl 1958 III S. 472, Slg. Bd. 67 S. 519) sei der Zweck der Verjährung die Wahrung des Rechtsfriedens. Die anspruchsvernichtende Wirkung der Verjährung von Steueransprüchen sei eine lediglich zugunsten der Steuerpflichtigen getroffene Einrichtung. Dem auf Tilgung der geschuldeten Steuer gerichteten Interesse des Steuergläubigers stehe das Schutzbedürfnis des Steuerpflichtigen gegenüber. Auf dieser Grundlage beruhe die Regelung der Verjährung in der AO. Bei der Auslegung der Verjährungsvorschriften müsse diesem Gesichtspunkt maßgebendes Gewicht beigelegt werden. Beurteile man die zur Erörterung stehende Streitfrage unter diesem Gesichtspunkt, so ergebe sich: Maßgebend für den Umfang einer Unterbrechungshandlung sei jeweils der in ihr zum Ausdruck kommende Unterbrechungswille. In dieser Hinsicht aber sei die Sachlage dahin eindeutig, daß die vom Prüfer bzw. vom Finanzamt "nachaktivierten" Anschaffungskosten und Herstellungskosten im Jahre 1953 nicht Gegenstand der Erörterung zwischen den Beteiligten gewesen seien. Der Unterbrechungswille des Finanzamts könne mithin auch nicht auf den Steueranspruch gerichtet gewesen sein, soweit er auf der "Nachaktivierung" dieser Aufwendungen beruhe; denn die im Jahre 1953 erfolgten "Einzelbeanstandungen" könnten sich nicht auf den Gewinn des Unternehmens schlechthin, sondern nur auf den Gewinn beziehen, der im Zusammenhang mit diesen Einzelbeanstandungen stehe. Im übrigen werde die Verjährungsunterbrechung durch die der Steuerfestsetzung vorausgehenden Ermittlungen ihrem Umfange nach auch durch die im Steuerbescheid enthaltene Steuerfestsetzung begrenzt, da der Wille des Finanzamts nur darauf gerichtet gewesen sein könne, die Steuerschuld zu ermitteln, die es letztlich im Steuerbescheid als gerechtfertigt beziffert habe. Der Umfang der Verjährungsunterbrechung durch diese Ermittlungen werde mithin nach außen hin unwiderlegbar durch die im endgültigen Steuerbescheid ziffernmäßig begrenzte Steuerschuld bestimmt. Entgegen der Auffassung des Finanzgerichts könne es für den Umfang der verjährungsunterbrechenden Wirkung einzelner Ermittlungen auch nicht darauf ankommen, ob sie vor oder ob sie nach der Veranlagung (Steuerfestsetzung) erfolgten.

 

Entscheidungsgründe

Die Prüfung der Rb. führt zu folgenden Erwägungen:

1. Es ist richtig, daß die Einrichtung der Verjährung der Rechtssicherheit dient und daß sich daraus für die Auslegung der Verjährungsvorschriften zwingende Folgerungen ergeben können. Es kann danach beispielsweise -- wie der erkennende Senat in seiner Entscheidung IV 156/57 U a. a. O. ausgeführt hat -- nicht als zulässig angesehen werden, die Verjährung eines Steueranspruchs durch Maßnahmen zu unterbrechen, die ohne sachlichen Hintergrund lediglich den Zweck haben, den Steuerfall "in der Schwebe zu halten". Dies wäre mit dem Erfordernis der Rechtssicherheit unvereinbar. Andererseits darf nicht übersehen werden, daß die Verjährungsvorschriften in der Ausgestaltung, die sie durch den Gesetzgeber erfahren haben, auch dem anderen maßgeblichen Grundsatz des Steuerrechts -- der Richtigkeit der Besteuerung -- Rechnung tragen. Diesem Grundsatz wird das Gesetz dadurch gerecht, daß es der Verwaltung für die Verwirklichung des Einkommensteueranspruchs bis zu seinem Erlöschen durch Verjährung grundsätzlich einen Zeitraum von fünf Jahren zubilligt, sowie insbesondere dadurch, daß diese Zeitspanne gemäß § 147 Abs. 3 AO im Falle der Verjährungsunterbrechung erneut in vollem Umfange in Lauf gesetzt wird, ohne Rücksicht darauf, ob die Unterbrechung im ersten Jahr oder im letzten Jahr der ursprünglichen Verjährungsfrist eintritt. Die Rechtsprechung muß bei der Gesetzesauslegung beiden Prinzipien gerecht werden. Sie darf mithin -- entgegen der Auffassung des Bf. -- nicht von vornherein dem Grundsatz der Rechtssicherheit den unbedingten Vorrang vor dem Grundsatz der richtigen Besteuerung einräumen. Die Überbetonung des einen wie des anderen Grundsatzes kann im Einzelfalle zu einem falschen Ergebnis führen, wie sich dies in der Vergangenheit am Beispiel der übermäßigen Betonung des Grundsatzes der Gleichmäßigkeit der Besteuerung, d. h. der unbedingten Vorrangstellung dieses Grundsatzes vor dem Grundsatz der Rechtssicherheit, gezeigt hat.

2. Der Bf. macht geltend, daß der Anspruch auf die vom Finanzamt nachgeforderte Einkommensteuer mangels entsprechender Verjährungsunterbrechung spätestens mit Ablauf des Jahres 1957 durch Verjährung erloschen sei und daß -- da insoweit eine Unterbrechung der Verjährung durch den Steuerbescheid erfolgt sei -- lediglich die Verjährung der ursprünglich festgesetzten Steuer zu einem späteren Zeitpunkt eingetreten sei.

Die "Teilverjährung", d. h. die Möglichkeit einer unterschiedlichen Verjährung einzelner Teilbeträge ein und desselben Steueranspruchs, ist im Gesetz unmittelbar anerkannt. Nach § 144 AO verjähren "hinterzogene Beträge", soweit nicht nach § 145 Abs. 2 AO ein noch längerer Zeitraum in Betracht kommt, in zehn Jahren, während die nicht hinterzogenen Beträge in fünf Jahren verjähren. Der Gesetzgeber hat damit -- d. h. durch die Zerlegung des Steueranspruchs in einen hinterzogenen und in einen nichthinterzogenen Teil -- die Möglichkeit der Teilverjährung ausdrücklich anerkannt (Urteil des Reichsfinanzhofs VI 62/41 vom 18. Juni 1941, RStBl 1941 S. 459). Abgesehen davon aber kann eine unterschiedliche Verjährung im Sinne einer Teilverjährung auch durch eine in ihrem Umfang begrenzte Verjährungsunterbrechung nach § 147 AO in Betracht kommen (Urteil des Reichsfinanzhofs VI 162/41 vom 18. Juni 1941, RStBl 1941 S. 457).

3. Für den Umfang der Verjährungsunterbrechung kommt es auf den objektiven Sinn und Zweck der im § 147 Abs. 1 AO genannten Vorgänge an. Entscheidend ist weder der -- vielfach gar nicht vorhandene oder nicht feststellbare -- Unterbrechungswille der Beteiligten noch ihre rechtliche Vorstellung über die Auswirkungen des einzelnen Vorgangs (Urteil des Bundesfinanzhofs IV 13/58 U vom 18. Dezember 1958, BStBl 1959 III S. 105, Slg. Bd. 68 S. 271). Es handelt sich bei der Verjährungsunterbrechung nach Grund und Umfang um eine Folge, die sich unabhängig von dem Willen der Beteiligten im Anschluß an die genannten Vorgänge unmittelbar aus dem Gesetz ergibt. Die Steuererklärung des Steuerpflichtigen beispielsweise unterbricht die Verjährung in Höhe des Steueranspruchs, wie er sich auf der Grundlage der erklärten Einkünfte nach der tatsächlichen Rechtslage ergibt. Zu diesem Anspruch bekennt sich der Steuerpflichtige durch seine Erklärung. Auf seinen -- in aller Regel nicht vorhandenen -- Unterbrechungswillen kommt es ebensowenig an wie auf seine rechtliche Vorstellung über das Ausmaß der nach seiner Erklärung zu erwartenden Steuerfestsetzung.

Nach diesen rechtlichen Gesichtspunkten beurteilt sich auch für den vorliegenden Fall die Frage, welche Bedeutung den Erörterungen, die der ursprünglichen Einkommensteuerfestsetzung für 1951 vorausgegangen sind, im Hinblick auf die Vorschrift des § 147 Abs. 1 AO zukommt, nach der jede Handlung des zuständigen Finanzamts zur Feststellung des Anspruchs die Verjährung unterbricht. Aus den Akten ergibt sich eindeutig und unzweifelhaft, daß das Finanzamt vor der ursprünglichen Festsetzung der Einkommensteuer 1951 von sich aus bei dem Bf. bzw. bei seinem Berater Rückfrage wegen einer Reihe von Punkten gehalten und um Aufklärung bzw. um nähere Erläuterung gebeten hat (Zufahrtswege, sonstige Kosten, Rentenverpflichtung, private Autounkosten). Diese Maßnahmen sind Handlungen des Finanzamts im Sinne des § 147 Abs. 1 AO "zur Feststellung des Anspruchs". Da sie im Veranlagungsverfahren nach ihrem objektiven Zweck der Vorbereitung der Steuerfestsetzung und damit der Verwirklichung des gesamten Steueranspruchs dienen, steht jede einzelne von ihnen auch in Beziehung zum gesamten Steueranspruch und nicht nur zu seinen einzelnen Grundlagen. Jede einzelne von ihnen unterbricht daher auch die Verjährung des Steueranspruchs in seiner Gesamtheit. Dies gilt nicht nur für die den Gewinn betreffenden Ermittlungen, sondern auch für die die Höhe der Sonderausgaben betreffende Auflage des Finanzamts zur Vorlage des Rentenvertrages. In Übereinstimmung hiermit hat auch der Reichsfinanzhof entschieden, daß die Ermittlungen, zu denen auch Rückfragen gehören, die das zuständige Finanzamt vor der Veranlagung zur Feststellung des Steueranspruchs vornimmt, die Verjährung des Steueranspruchs in voller Höhe unterbrechen (Urteil des Reichsfinanzhofs VI 162/41 vom 18. Juni 1941, a. a. O.). An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest. Es kann mithin -- entgegen der auch im Schrifttum vertretenen abweichenden Auffassung (vgl. z. B. Kühn, Kommentar zur Reichsabgabenordnung, § 147 Anm. 4) -- nicht anerkannt werden, daß die Ermittlungen des Finanzamts nur zu der vom Bf. dargelegten Teilunterbrechung geführt haben. Da es, wie ausgeführt, für den Umfang der Unterbrechung allein auf den objektiven Zweck der Ermittlungshandlungen -- die Feststellung des Anspruchs in seiner tatsächlichen Höhe -- ankommt, kann schließlich auch nicht anerkannt werden, daß der Umfang der durch sie bewirkten Verjährungsunterbrechung durch die Höhe der nachfolgenden Steuerfestsetzung bestimmt wird.

Da nach alledem der Anspruch auf die nachgeforderte Steuer bei Erlaß des Berichtigungsbescheids im Jahre 1958 noch nicht verjährt war, ist die Rb. unbegründet.

Anmerkung: Die angegebenen Beträge stimmen nicht mit den tatsächlichen Zahlen überein.

 

Fundstellen

Haufe-Index 425866

BStBl III 1960, 30

BFHE 1960, 81

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