Leitsatz (amtlich)
War ein gemäß § 164 AO 1977 unter Vorbehalt der Nachprüfung erlassener Steuerbescheid erfolglos angefochten und sind für die Dauer der Aussetzung Vollziehungszinsen festgesetzt worden, so rechtfertigt die spätere Herabsetzung der Steuerschuld gemäß § 164 Abs.2 AO 1977 insoweit, als sie dem Grunde und der Höhe nach unter Vorbehalt der Nachprüfung festgesetzt worden war, eine Änderung des Zinsbescheides gemäß § 175 Abs.1 Nr.2 AO 1977.
Orientierungssatz
Hat das FA einen vom Steuerpflichtigen eingelegten Rechtsbehelf anstatt als Einspruch als Beschwerde behandelt, so ist dem Zweck des § 44 FGO (Abschluß eines Vorverfahrens als Sachurteilsvoraussetzung) auch dann genügt, wenn die OFD im Beschwerdeverfahren eine nochmalige vollinhaltliche Überprüfung vorgenommen und die Einwendungen des Steuerpflichtigen für unbegründet gehalten hat (vgl. BFH-Urteil vom 18.3.1970 I R 176/69).
Normenkette
AO 1977 § 164 Abs. 2, § 175 Abs. 1 Nr. 2, §§ 237, 239 Abs. 1; FGO § 44 Abs. 1
Verfahrensgang
Niedersächsisches FG (Entscheidung vom 08.02.1984; Aktenzeichen III 296/82) |
Tatbestand
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) hatte mit Vertrag vom 29.April 1977 ein in B gelegenes bebautes Grundstück zum Kaufpreis von 245 000 DM erworben und Grunderwerbsteuerbefreiung nach dem Gesetz zur Grunderwerbsteuerbefreiung beim Erwerb von Einfamilienhäusern, Zweifamilienhäusern und Eigentumswohnungen (GrEStEigWoG) beantragt. Am 12.Dezember 1978 erließ der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) unter dem Vorbehalt der Nachprüfung einen Grunderwerbsteuerbescheid über 17 150 DM, weil es sich nach der Einheitswerterklärung um ein gemischtgenutztes Grundstück handle und die gewerbliche Nutzung nach außen in Erscheinung trete. Dagegen erhob die Klägerin Einspruch. Auf Antrag der Klägerin setzte das FA die Vollziehung des Vorbehaltsbescheides bis zur Entscheidung über den Einspruch aus. Den Einspruch der Klägerin wies das FA am 2.April 1981 als unbegründet zurück. Da hiergegen keine Klage erhoben worden war, setzte das FA mit bestandskräftig gewordenem Bescheid vom 24.Juni 1981 gemäß § 237 der Abgabenordnung (AO 1977) Aussetzungszinsen in Höhe von 2 308,50 DM fest. Den Antrag der Klägerin auf Erlaß der festgesetzten Zinsen wies das FA am 21.Juli 1981 zurück.
Ende November 1981 beantragte die Klägerin unter Hinweis auf das inzwischen veröffentlichte Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 6.Mai 1981 II R 123/79 (BFHE 133, 316, BStBl II 1981, 585) die Herabsetzung der Grunderwerbsteuer auf null DM. Das FA änderte daraufhin die Steuerfestsetzung gemäß § 164 Abs.2 AO 1977 und stellte mit Änderungsbescheid vom 11.Februar 1982 den Erwerb gemäß § 1 Abs.1 Nr.2 GrEStEigWoG von der Steuer frei.
Den Antrag der Klägerin, die festgesetzten Zinsen in Höhe von 2 308,50 DM zu erlassen, weil es sachlich unbillig sei, Zinsen auf die inzwischen auf null DM herabgesetzte Steuer zu fordern, lehnte das FA mit Bescheid vom 29.März 1982 ab. Die Beschwerde hatte keinen Erfolg.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab (vgl. Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 1984, 432).
Mit der vom FG zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klageziel weiter.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet.
Der Senat ist der Auffassung, daß das auf Beseitigung des Zinsbescheides gerichtete Begehren der Klägerin als Antrag auf Änderung bzw. Aufhebung des Zinsbescheides auszulegen war.
Unerheblich ist im Hinblick auf das Erfordernis eines abgeschlossenen Vorverfahrens als Sachurteilsvoraussetzung gemäß § 44 der Finanzgerichtsordnung (FGO), daß das FA den Antrag als Erlaßantrag und deshalb den gegen die Ablehnung dieses Antrags eingelegten Rechtsbehelf entsprechend der Bezeichnung als Beschwerde behandelt hat; denn dem Zweck des § 44 FGO ist auch dann genügt, wenn die Oberfinanzdirektion (OFD) in einem Beschwerdeverfahren eine nochmalige vollinhaltliche Überprüfung vorgenommen und die Einwendungen der Klägerin für unbegründet gehalten hat (vgl. BFH-Urteil vom 18.März 1970 I R 176/69, BFHE 99, 14, BStBl II 1970, 556).
Entgegen der Auffassung der Klägerin ergibt die Auslegung des § 237 AO 1977 allerdings nicht, daß die im Streit befindlichen Aussetzungszinsen nicht entstanden sind. Gemäß § 237 AO 1977 ist, soweit ein förmlicher außergerichtlicher Rechtsbehelf gegen einen Steuerbescheid endgültig keinen Erfolg gehabt hat, der geschuldete Betrag, hinsichtlich dessen die Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts ausgesetzt ist, zu verzinsen. Steuerbescheid in diesem Sinn ist auch der mit einer unselbständigen Nebenbestimmung, im Streitfall mit einem Nachprüfungsvorbehalt, versehene Bescheid, mit dem die Steuer festgesetzt wird (§§ 155 Abs.1 Satz 1, 164 Abs.2 AO 1977, vgl. BFH-Urteil vom 30.Oktober 1980 IV R 168-170/79, BFHE 132, 5, BStBl II 1981, 150). Ist daher ein unter Vorbehalt der Nachprüfung erlassener Steuerbescheid mit einem förmlichen Rechtsbehelf (§ 348 AO 1977) angefochten, ist gemäß § 237 Abs.1 AO 1977 entscheidend, ob dieses konkrete Rechtsbehelfsverfahren erfolglos war.
Das FG hat --von seinem Standpunkt aus zu Recht-- jedoch nicht das Vorliegen der Voraussetzungen für eine verfahrensrechtliche Möglichkeit einer Änderung geprüft. Für Zinsbescheide gelten die besonderen Änderungsvorschriften der §§ 172 ff. AO 1977, denn gemäß § 239 Abs.1 AO 1977 sind die für die Steuern geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden.
Gemäß § 175 Abs.1 Nr.2 AO 1977 ist ein Steuerbescheid aufzuheben oder zu ändern, soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat.
Zinsen sind laufzeitabhängiges Entgelt für den Gebrauch eines auf Zeit überlassenen oder vorenthaltenen Geldkapitals (Flume, Der Betrieb 1985, 9; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 12.Aufl., § 233 AO 1977, Anm.1). Ihrem Charakter nach sind sie daher grundsätzlich abhängig vom Bestehen einer Steuerschuld. Zwar bestand bis zum Ergehen des Änderungsbescheides, mit dem die Grunderwerbsteuer auf null DM herabgesetzt wurde, eine Steuerschuld in der festgesetzten Höhe (§ 124 Abs.2 AO 1977), für deren Aussetzung die umstrittenen Zinsen erhoben worden sind. Insoweit, als eine Steuerschuld dem Grunde und der Höhe nach ausdrücklich unter Vorbehalt einer endgültigen Überprüfung festgesetzt worden ist, die Steuerfestsetzung also keine materielle Bestandskraft entfaltet, ist die spätere Herabsetzung der Steuerschuld jedoch ein Ereignis, das auch Auswirkungen auf den Zinsbescheid hat. Soweit daher die Steuerschuld hinsichtlich des Grundes, auf den sich der Vorbehalt bezieht, herabgesetzt wird, besteht danach ein Anspruch auf entsprechende Änderung des Zinsbescheides gemäß § 175 Abs.1 Nr.2 AO 1977.
Da die Grunderwerbsteuer unter dem Vorbehalt einer Nachprüfung des Bestehens einer Steuerschuld überhaupt festgesetzt und der Grunderwerbsteuerbescheid aufgehoben worden war, hatte die Klägerin einen Anspruch auf Aufhebung des Zinsbescheids gemäß § 175 Abs.1 Nr.2 AO 1977. Das FA war danach zur Aufhebung des Bescheides zu verpflichten.
Fundstellen
Haufe-Index 61795 |
BStBl II 1988, 229 |
BFHE 150, 4 |
BFHE 1987, 4 |
BB 1987, 2221 |
BB 1987, 2221-2221 (ST) |
DB 1987, 2237-2237 (T) |
DStR 1987, 762-762 (ST) |
HFR 1987, 559-559 (ST) |