Entscheidungsstichwort (Thema)
Überraschungsentscheidung
Leitsatz (NV)
1. Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) schützt die Beteiligten davor, in der Entscheidung des Gerichts von neuen rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkten überfahren zu werden, die dem Rechtsstreit eine Wendung geben, mit der auch ein kundiger Beteiligter nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchte.
2. Grundsätzlich genügt für die Gewährung rechtlichen Gehörs, den Beteiligten -- etwa durch Ladung zur mündlichen Verhandlung -- ausreichend Gelegenheit zur Äußerung zu geben. Es obliegt dann der Verantwortung der Beteiligten, die Gelegenheit zur Verwirklichung ihres rechtlichen Gehörs auch wahrzunehmen. Jedoch kann dies nur für bereits in das jeweilige Verfahren eingeführte und den Beteiligten bekannte oder bekanntgegebene Tatsachen oder Rechtsfragen gelten.
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1; FGO § 76 Abs. 1-2, § 96
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) war vom 1. Oktober 1987 bis zum 31. Dezember 1988 als Beamter ohne Dienstbezüge beurlaubt. Im März 1988 gewährte er einem Bekannten ein verzinsliches Darlehen in Höhe von 40 000 DM. Das Darlehen wurde in bar ausgezahlt.
Da der Kläger für die Jahre 1986 bis 1988 keine Steuererklärungen eingereicht hatte, schätzte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) unter anderem für das Streitjahr (1988) die Besteuerungsgrundlagen und setzte mit Bescheid vom 21. September 1989 in Anlehnung an die Besteuerungsgrundlagen früherer Jahre Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit an.
Im Einspruchsverfahren reichte der Kläger eine Einkommensteuererklärung für das Jahr 1988 nach, in der in der Anlage N vermerkt ist "Ganzjährig nicht beschäftigt" und in der in der Anlage KSO als Einnahmen lediglich "unter 400 DM" eingetragen sind. Im Einspruchsverfahren machte der Kläger weiter geltend, daß seine Lebensgefährtin und spätere Ehefrau seinen Lebensunterhalt bestritten habe, daß ihm im übrigen der halbe Kinderfreibetrag für seinen Sohn zustehe sowie daß laut einer nachgereichten Nachtragsvereinbarung mit dem Darlehensnehmer vereinbart sei, daß er, der Kläger, aufgrund der finanziellen Lage des mit ihm befreundeten Darlehensnehmers bis auf weiteres auf eine Verzinsung des Darlehens verzichte. Ferner legte der Kläger eine Bestätigung der Stadtsparkasse vom Januar 1991 vor, wonach seine Kreditverpflichtungen im Jahr 1988 bei der Stadtsparkasse 40 000 DM und zeitweise sogar mehr betragen haben.
Mit der im übrigen abweisenden Einspruchsentscheidung setzte das FA die Einkommensteuer 1988 auf ... DM herab, wobei es allein den ihm zwischenzeitlich durch eine Kontrollmitteilung bekanntgewordenen, als Darlehen hingegebenen Betrag von 40 000 DM als sonstige Einkünfte ansetzte.
Die Klage, mit der der Kläger die Festsetzung der Einkommensteuer auf 0 DM begehrte, blieb ohne Erfolg. Zur Begründung führt das Finanzgericht (FG) im wesentlichen aus: Das FA habe im Ergebnis die Einkommensteuer 1988 zu Recht im Schätzungswege auf ... DM festgesetzt. Die Voraussetzungen für eine Schätzung nach §162 der Abgabenordnung (AO 1977) seien gegeben, da die Besteuerungsgrundlagen des Klägers aufgrund der Verletzung der Mitwirkungspflicht nicht zu ermitteln gewesen seien und allein das verfügbare Geldvermögen des Klägers bzw. der hingegebene Darlehensbetrag für die Höhe der Schätzung Anhaltspunkte lieferten. Fehlerhaft sei lediglich die Begründung des FA. Denn aus der Hingabe des Darlehens Mitte März 1988 könne nicht ohne weiteres auf in zweieinhalb Monaten bis zur Darlehenshingabe erzielte sonstige Einkünfte in Höhe von 40 000 DM geschlossen werden. Jedoch habe der Kläger offenbar in nicht bekannter Höhe gewerbliche Einkünfte aus seiner im Verlaufe des Klageverfahrens festgestellten Beteiligung am illegalen Drogenhandel gehabt. Dies sei deutlich geworden in dem Telefonat, das der Berichterstatter mit dem damaligen Bevollmächtigten des Klägers am ... Februar 1996 geführt habe. Die Tatsache der Beteiligung des Klägers am Drogenhandel sei auch in den Prozeß eingeführt worden.Ü
ber kindbedingte Freibeträge brauche nicht eigens entschieden zu werden, da die gewerblichen Einkünfte aus dem Drogenhandel höher sein könnten als die vom FA angegebenen sonstigen Einkünfte. Zudem werde der kindbedingte Freibetrag kompensiert durch die unstreitig gegebenen, jedoch nicht erfaßten Kapitaleinkünfte aus der Darlehenshingabe.
Die Revision des Klägers wird im wesentlichen auf die Verfahrensmängel der unterlassenen Sachaufklärung (§76 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung -- FGO --), der Verletzung der richterlichen Hinweispflicht (§76 Abs. 2 FGO) sowie der Verletzung des Rechts auf Gehör (Art. 103 des Grundgesetzes -- GG --, §96 Abs. 2 FGO) gestützt.
Der Kläger beantragt, unter Aufhebung der Vorentscheidung und Änderung des Einkommensteuerbescheids vom 21. September 1989 i. d. F. der Einspruchsentscheidung vom 2. Mai 1991 die Einkommensteuer 1988 auf 0 DM festzusetzen.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Zur Begründung führt es unter anderem aus, dem ordnungsgemäß geladenen Kläger sei anzulasten, daß er nicht zum Termin der mündlichen Verhandlung erschienen sei, um seine Rechte wahrzunehmen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).
Die vom Kläger gerügten Verfahrensfehler liegen vor.
1. Die Rüge der Verletzung des Rechts auf Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) greift durch, da das FG eine Überraschungsentscheidung getroffen hat.
Gemäß Art. 103 Abs. 1 GG hat vor Gericht jedermann Anspruch auf rechtliches Gehör. Dieser Anspruch gewährleistet den Beteiligten das Recht, sich vor der Entscheidung des Gerichts zum entscheidungserheblichen Sachverhalt und zur Rechtslage ausreichend äußern zu können. Das Gericht verletzt daher das Recht auf Gehör i. S. von Art. 103 Abs. 1 GG, wenn die Verfahrensbeteiligten von einer Entscheidung überrascht werden, weil das Urteil auf tatsächliche oder rechtliche Gesichtspunkte gegründet ist, zu denen sie sich nicht geäußert haben und zu denen sich zu äußern sie nach dem vorherigen Verlauf des Verfahrens auch keine Veranlassung hatten (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs -- BFH -- vom 22. Oktober 1986 I R 107/82, BFHE 148, 507, BStBl II 1987, 293; vom 19. Oktober 1993 VIII R 61/92, BFH/NV 1994, 790; vom 28. August 1997 III R 10/96, nicht veröffentlicht). Art. 103 Abs. 1 GG schützt daher die Beteiligten davor, von neuen rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkten überfahren zu werden (vgl. Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts -- BVerfG -- vom 8. Juli 1993 2 BvR 218/92, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung -- HFR -- 1993, 595), die dem Rechtsstreit eine Wendung geben, mit der auch ein kundiger Beteiligter nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchte (vgl. BFH-Beschluß vom 19. Juli 1996 VIII B 37/95, BFH/NV 1997, 124).
a) Mit der Entscheidung des FG, der Kläger habe im Streitjahr offenbar Einkünfte aus einer Beteiligung am Drogenhandel bezogen, konnten weder der Kläger noch sein damaliger Prozeßbevollmächtigter rechnen. Anhaltspunkte für die Möglichkeit dieser Entscheidungsgründe ergaben sich aus dem dem Urteil zugrundeliegenden Streitstoff nicht. Der Kläger hatte daher auch unter Berücksichtigung aller vertretbaren Rechtsauffassungen, mit denen ein kundiger und gewissenhafter Prozeßbeteiligter rechnen muß, keine Veranlassung, sich gegenüber dem FG über eine Beteiligung am illegalen Drogenhandel zu äußern. Zwar war im Veranlagungs- und im finanzgerichtlichen Verfahren streitig, woher die vom Kläger im Streitjahr als Darlehen hingegebenen 40 000 DM stammten. Jedoch wurde in diesem Zusammenhang vor der Entscheidung des FG weder von diesem noch von den Beteiligten jemals eine eventuelle Beteiligung des Klägers am Drogenhandel als mögliche Einkunftsquelle angesprochen.
Entgegen der Auffassung des FA hat das FG den Anforderungen des Anspruchs auf rechtliches Gehör nicht bereits dadurch entsprochen, daß der Kläger unter Hinweis auf die Folgen seines (unentschuldigten) Ausbleibens (vgl. §91 Abs. 2 FGO) ordnungsgemäß zur mündlichen Verhandlung geladen worden war. Zwar genügt grundsätzlich für die Gewährung rechtlichen Gehörs, den Verfahrensbeteiligten ausreichend Gelegenheit zur Äußerung zu geben. Es obliegt dann der Verantworung der Verfahrensbeteiligten, die Gelegenheit zur Verwirklichung ihres rechtlichen Gehörs auch wahrzunehmen (vgl. Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl., §96, Anm. 33, m. w. H.). Jedoch kann dies nur für bereits in das jeweilige Verfahren eingeführte und den Beteiligten bekannte oder bekanntgegebene Tatsachen oder Rechtsfragen gelten (vgl. BFH- Beschluß vom 22. März 1996 I B 94/95, BFH/NV 1996, 695). Im streitigen Verfahren ist es jedoch bis zur Entscheidung des FG zu keinem Zeitpunkt um denkbare Einkünfte des Klägers aus dem Drogenhandel gegangen. Dem Kläger kann daher nicht vorgeworfen werden, daß er, zutreffend von dem ihm und seinem ehemaligen Prozeßbevollmächtigten bekannten Streitstoff ausgehend, zur Wahrung seiner Rechte nicht an der mündlichen Verhandlung teilgenommen hat. Denn bei dem Sach- und Streitstand, zu dem er sich äußern konnte und geäußert hat, sah der Kläger dazu keinen Anlaß.
b) Der Kläger rügt aus den bereits genannten Gründen auch zu Recht die Verletzung der Hinweispflicht des FG (§76 Abs. 2 FGO) und damit auch insoweit die Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör.
c) Die vorliegende Versagung des rechtlichen Gehörs ist ein Revisionsgrund, der zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG führt, weil nach §119 Nr. 3 FGO vermutet wird, daß das Urteil des FG auf dem gerügten Fehler beruht.
2. Für die Aufhebung der Vorentscheidung kommt es auf die vom Kläger ebenfalls noch geltend gemachte Verletzung des Amtsermittlungsgrundsatzes (§76 Abs. 1 FGO) nicht mehr an. Das FG wird jedoch vor seiner neuerlichen Entscheidung den von sich aus seinem Urteil zugrunde gelegten Sachverhalt der Einkunftserzielung aus illegalem Drogenhandel noch -- was bisher nicht geschehen ist -- von Amts wegen, etwa unter Beiziehung der entsprechenden Strafsacheakten, erforschen müssen. Der in der mündlichen Verhandlung vor dem FG verlesene Aktenvermerk des Berichterstatters vom ... Februar 1996 enthält keine Aussage darüber, daß der Kläger im Streitjahr 1988 gewerbliche Einkünfte aus Drogenhandel bezogen hätte. Denn mit der telefonischen und vom Berichterstatter -- zutreffend oder nichtzutreffend -- protokollierten Mitteilung des damaligen Prozeßbevollmächtigten über das strafrechtliche Verhalten des Klägers war keine Aussage über das Streitjahr verbunden.
3. Das angefochtene Urteil ist, ohne daß ein Eingehen auf die materiellen Rechtsfragen zulässig wäre, aufzuheben, und die Sache ist an das FG zurückzuverweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 67123 |
BFH/NV 1998, 732 |