Leitsatz (amtlich)
1. Ist ein Steuerfall nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO wieder aufzurollen, so kann ein Sachverhalt, der wegen früherer Verletzung der Ermittlungspflicht als bekannt gewesen gilt, ebenso in tatsächlicher und rechtlicher Beziehung neu beurteilt werden wie ein Sachverhalt, der bei der erstmaligen Veranlagung wirklich bekannt war.
2. Die bei der Wiederaufrollung zu beachtende Bindung des FA an seine im vorangegangenen Einspruchsverfahren vertretene, dem Steuerpflichtigen günstige Rechtsauffassung (Urteil des BFH I 54/64 S vom 16. März 1965, BFH 82, 387, BStBl III 1965, 388) besteht auch dann, wenn die Betriebsprüfung einen abweichenden Sachverhalt festgestellt hat, dieser aber wegen früherer Verletzung der Ermittlungspflicht nicht als neu im Sinne des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO gilt.
2. Die Bindung des FA an seine im vorangegangenen Einspruchsverfahren vertretene, dem Steuerpflichtigen günstige Rechtsauffassung besteht nur für die Steueransprüche, auf die sich die Entscheidung im Einspruchsverfahren erstreckt hat. Für spätere Veranlagungszeiträume steht der Grundsatz der Abschnittsbesteuerung einer fortdauernden Bindung entgegen.
Normenkette
AO § 222 Abs. 1 Nr. 1
Tatbestand
Der Revisionsbeklagte (Steuerpflichtige) war in den Streitjahren 1955 und 1956 Inhaber eines Einzelunternehmens, das sich mit dem Entwurf und dem Bau von Kläranlagen, der Herstellung von Bausteinen und dem Großhandel mit Baustoffen befaßte. Er hat verschiedene patentierte und nichtpatentierte Verfahren zur Herstellung von Bauelementen für Kläranlagen entwickelt, die er zum Teil unmittelbar im eigenen Betrieb verwertete, in erheblichem Umfang aber auch Dritten entgeltlich zur Auswertung überließ. Die vereinnahmten Lizenzgebühren wurden in Übereinstimmung der Beteiligten bis zum Jahre 1954 zum Gewerbeertrag des Steuerpflichtigen gerechnet und der Gewerbesteuer unterworfen.
Erstmals bei der Festsetzung des Gewerbesteuermeßbetrags für 1955 wandte sich der Steuerpflichtige gegen die Heranziehung der Lizenzgebühren zur Gewerbesteuer. Er legte gegen den Gewerbesteuermeßbescheid 1955 im Mai 1957 Einspruch ein mit der Begründung, die Lizenzeinnahmen seien, da sie die sonstigen Betriebseinnahmen überwögen, Einkünfte aus selbständiger Arbeit. Der Revisionskläger (das FA) gab dem Einspruch im Juni 1957 durch Änderung des Meßbescheids nach § 94 AO statt. Den Gewerbesteuermeßbetrag für 1956 setzte es in dem unanfechtbar gewordenen Bescheid vom 10. September 1958 ebenfalls ohne Einbeziehung der Lizenzerträge fest. Bei der Meßbetragsfestsetzung für 1957 im April 1959 kamen dem FA Zweifel; es erklärte deshalb den Bescheid hinsichtlich der Lizenzgebühren für vorläufig.
Nach einer Betriebsprüfung im Jahre 1961, bei der auf Grund festgestellter neuer Tatsachen Gewinnerhöhungen für das Jahr 1955 mit 17 779 DM und für das Jahr 1956 mit 3 972 DM ermittelt wurden, stellte sich das FA auf den Standpunkt, die Lizenzerträge seien gewerblicher Art, und berichtigte entsprechend die Gewerbesteuermeßbescheide für 1955 und 1956. In gleicher Weise führte es die endgültige Meßbetragsfestsetzung für 1957 und die erstmalige für 1958 durch. Der Einspruch dagegen blieb ohne Erfolg.
Im Berufungsverfahren wandte sich der Steuerpflichtige nur noch gegen die nachträgliche Änderung der Sachbehandlung. Mindestens verstoße die Heranziehung der Lizenzeinnahmen in den Jahren 1955 und 1956 gegen Treu und Glauben. Das FG gab ihm für diese Erhebungszeiträume recht; für die Erhebungszeiträume 1957 und 1958 wies es die Berufung als unbegründet zurück. Hinsichtlich der Erhebungszeiträume 1955 und 1956 - nur insoweit herrscht noch Streit - hat es seine Entscheidung wie folgt begründet:
Die Wiederaufrollung des ganzen Steuerfalls bei einer Änderung der Veranlagung nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO durchbreche die materielle Rechtskraft. Sie diene unter Zurücksetzung der Rechtssicherheit der verfassungsrechtlich gleichrangigen Verwirklichung der materiellen Gerechtigkeit. Der entscheidende Gesichtspunkt für diese Gesetzesauslegung sei nach der Rechtsprechung des BFH die Besonderheit des Besteuerungsverfahrens als eines Massenverfahrens (vgl. insbesondere Urteile des BFH III 143/61 U vom 21. Februar 1964, BFH 79, 562, BStBl III 1964, 437; VI 299/63 U vom 10. Juli 1964, BFH 80, 314, BStBl III 1964, 587, und V 275/60 U vom 23. Juli 1964, BFH 80, 185, BStBl III 1964, 540). Im vorliegenden Fall stehe der Wiederaufrollung der gewerbesteuerlichen Behandlung der Lizenzerträge in den Jahren 1955 und 1956 jedoch der Grundsatz von Treu und Glauben entgegen. Durch den Einspruch gegen den Steuermeßbescheid 1955 sei der Steuerfall aus dem Massenverfahren herausgehoben worden. Nach Lage der Sache habe das FA bereits damals eine örtliche Überprüfung der Auswertung der Erfindungen an Hand der Buchführung und des tatsächlichen Betriebsablaufs vornehmen müssen. Das FA habe aber unter Verletzung seiner Ermittlungspflicht dem Einspruch ohne eine solche tatsächliche Nachprüfung stattgegeben. Diese Entscheidung des Steuerfalls außerhalb des steuerlichen Massenverfahrens sei, soweit sie materiell reiche, rechtsbeständig und könne nicht rückgängig gemacht werden. Das Vertrauen, das der Steuerpflichtige in die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung gesetzt habe, müsse geschützt werden. Infolge der Sonderbehandlung des Steuerfalls im Rechtsmittelverfahren sei das FA an seine Entscheidung auch für das Jahr 1956, in dem die tatsächlichen Verhältnisse gleichgelegen hätten, mit Rücksicht auf den unanfechtbar gewordenen Meßbescheid vom 10. September 1958 gebunden. Ebenso wie eine Tatsache, die bei einwandfreier Bearbeitung hätte festgestellt werden können, bei ihrem späteren Bekanntwerden keine Berichtigung nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO auszulösen vermöge (vgl. Urteile des BFH III 383/57 U vom 23. Mai 1958, BFH 67, 137, BStBl III 1958, 326, und VI 296/57 S vom 5. Dezember 1958, BFH 68, 223, BStBl III 1959, 86), könne auch ein unveränderter steuerlicher Sachverhalt, der anläßlich eines Rechtsmittelverfahrens hätte geklärt werden können, bei einer Berichtigung auf Grund anderer neuer Tatsachen nicht wieder aufgerollt und rechtlich anders als bisher beurteilt werden.
Hiergegen richtet sich die als Revision zu behandelnde Rb. des FA mit der Rüge falscher Rechtsanwendung und dem Antrag, die Vorentscheidung aufzuheben und die Berufung als unbegründet zurückzuweisen. Das FA habe Treu und Glauben nicht verletzt. Denn es habe weder durch sein Verhalten zu erkennen gegeben, daß der Steuerpflichtige eine Berichtigung auf Grund neuer Tatsachen nicht zu erwarten habe, noch eine rechtserhebliche Zusage erteilt. Die Verletzung der Aufklärungspflicht das FA könne lediglich dazu führen, den betreffenden Sachverhalt nicht mehr als neu im Sinne des § 222 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AO anzusehen. Darüber hinaus seien weder die Verletzung der Aufklärungspflicht noch der Gesichtspunkt des Massenverfahrens für die Frage der Wiederaufrollung von Bedeutung.
Der Steuerpflichtige hat beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen. Er beruft sich auf das Urteil des BFH I 54/64 S vom 16. März 1965 (BFH 82, 387, BStBl III 1965, 388), nach dem das FA an seine Entscheidung im Einspruchsverfahren gebunden sei. Das FA hält dieses Urteil für nicht anwendbar, weil die Betriebsprüfung hinsichtlich der Lizenzgebühren neue Tatsachen ergeben habe.
Entscheidungsgründe
Aus den Gründen:
Die Revision ist für den Erhebungszeitraum 1955 unbegründet, für den Erhebungszeitraum 1956 begründet.
Werden durch eine Betriebsprüfung - wie im Streitfall für die Erhebungszeiträume 1955 und 1956 - neue Tatsachen von einigem Gewicht festgestellt, so ist das FA nach ständiger Rechtsprechung bei der Berichtigung der Veranlagungen gemäß § 222 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AO grundsätzlich verpflichtet, den gesamten Steuerfall wieder aufzurollen; d. h. die neue Steuerfestsetzung ist so zu treffen, als sei sie die erste. Hierbei sind Fehler tatsächlicher oder rechtlicher Art, die bei der ursprünglichen Veranlagung vorgekommen sind, zu beheben. Das gilt auch für Sachverhalte, die mit den neu festgestellten Tatsachen in keinem Zusammenhang stehen. Die Wiederaufrollung des gesamten Steuerfalls kann allerdings durch den Grundsatz von Treu und Glauben ausgeschlossen sein. (Vgl. z. B. die Urteile des BFH I 95 und 110/60 S vom 5. Juni 1962, BFH 76, 282, BStBl III 1963, 100; I 54/64 S, a. a. O., sowie Beschluß des BVerfG 2 BvR 91, 271/64 vom 4. November 1965, BStBl I 1966, 412.)
Das FG ist von diesen Grundsätzen ausgegangen. Ihm kann jedoch hinsichtlich des Vertrauensschutzes, den es dem Steuerpflichtigen nach Treu und Glauben zugebilligt hat, nicht in vollem Umfang zugestimmt werden.
Verstöße gegen den Grundsatz von Treu und Glauben hat die Rechtsprechung nur in besonderen Ausnahmefällen bejaht, z. B. wenn das FA dem Steuerpflichtigen die künftige Behandlung der Sache in einem bestimmten Sinn zugesagt und er seine Dispositionen nach dieser Zusage eingerichtet hatte oder wenn das FA durch sein Verhalten zu erkennen gegeben hatte, daß der Steuerpflichtige eine Berichtigung auf Grund neuer Tatsachen nicht mehr zu erwarten habe (vgl. z. B. Urteile des BFH III 143/61 U, a. a. O., und VI 299/63 U, a. a. O.). Daß diese Voraussetzungen im Streitfall erfüllt sind, hat das FG nicht festgestellt und ist auch sonst nicht erkennbar. Das FG sieht den Verstoß gegen Treu und Glauben vielmehr darin, daß das FA bei der Wiederaufrollung des Steuerfalls nach der Betriebsprüfung seine tatsächliche und rechtliche Würdigung der Lizenzgebühren änderte, obwohl es bei der Erledigung des Einspruchs gegen den Steuermeßbescheid für 1955 seiner Ermittlungspflicht nicht nachgekommen war. Geht man mit dem FG davon aus, daß damals eine Nachprüfung der tatsächlichen Verhältnisse geboten war und dem FA durch die Nachprüfung die Tatsachen bekanntgeworden wären, die es später durch die Betriebsprüfung erfahren hat, so folgt daraus, daß die tatsächlichen Feststellungen der Betriebsprüfung nicht als neu im Sinne des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO zu werten sind (vgl. z. B. Urteil des BFH VI 296/57 S, a. a. O.). Solche Tatsachen können für sich allein nicht zu einer Berichtigungsveranlagung nach dieser Vorschrift führen. Werden aber dem FA andere neue Tatsachen von einigem Gewicht bekannt, nach denen eine Berichtigungsveranlagung geboten ist, so fällt es regelmäßig in den Rahmen der Wiederaufrollung des ganzen Steuerfalls, auch bereits bekannte Sachverhalte in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht neu zu würdigen, ohne dadurch gegen den Grundsatz von Treu und Glauben zu verstoßen. Dabei kann es keinen Unterschied machen, ob der Sachverhalt dem FA bereits bei der erstmaligen Veranlagung wirklich bekannt war, oder ob er wegen fehlerhafter mangelnder Sachaufklärung nur als bekannt gewesen gilt. Ein Steuerpflichtiger, dessen Betrieb regelmäßigen Prüfungen durch das FA unterliegt, wie im Streitfall, kann im allgemeinen nicht darauf vertrauen, daß ein dem FA bekannter oder als bekannt geltender Sachverhalt im Falle einer Wiederaufrollung nicht für ihn ungünstiger als bisher beurteilt wird.
Im Streitfall besteht allerdings die Besonderheit, daß der Steuerpflichtige seine Ansicht über die rechtliche Behandlung der Lizenzerträge bei der erstmaligen Veranlagung für den Erhebungszeitraum 1955 im Einspruchsverfahren durchgesetzt hatte. Wie der Senat im Urteil I 54/64 S, a. a. O., dargelegt hat, ist das FA bei einer späteren Wiederaufrollung des Steuerfalls nach § 222 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AO in der Regel an seine im vorangegangenen Rechtsbehelfsverfahren vertretene Rechtsauffassung gebunden, wenn es auf den Rechtsbehelf des Steuerpflichtigen nach Prüfung des Streitfalls eine für den Steuerpflichtigen günstige Einspruchsentscheidung oder einen Bescheid gemäß § 94 Abs. 1 Nr. 2 AO erlassen hat. Die Entscheidung des BFH trägt der erhöhten Bestandsgarantie Rechnung, die einer das Einspruchsverfahren abschließenden Entscheidung das FA, ähnlich der Rechtskraftwirkung einer gerichtlichen Entscheidung, zukommt. Es kann dahingestellt bleiben, inwieweit die Bindungswirkung der früheren Behandlung einer Rechtsfrage wieder entfällt, wenn im Zusammenhang mit ihr nachträglich neue Tatsachen oder Beweismittel bekannt werden, so daß ein anderer Sachverhalt zu beurteilen ist, als er der Entscheidung im Einspruchsverfahren zugrunde gelegen hat. Da der Sachverhalt, den die Betriebsprüfung hinsichtlich der Lizenzgebühren festgestellt hat, wegen der früheren Verletzung der Pflicht zur Sachaufklärung nicht als neu im Sinne des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO anzusehen ist, vermag er die Bindung des FA an seine im vorangegangenen Einspruchsverfahren vertretene Rechtsauffassung nicht zu lösen.
Die Bindung des FA hängt unmittelbar mit dem Einspruchsverfahren zusammen. Sie besteht deshalb für die Steueransprüche, auf die sich die Entscheidung im Einspruchsverfahren erstreckt hat, also die des Erhebungszeitraums 1955. Für den Erhebungszeitraum 1956 hingegen gilt der Grundsatz der Abschnittsbesteuerung. Nach ihm hat das FA bei Veranlagungssteuern für jeden Steuerabschnitt die Grundlagen der Besteuerung neu festzustellen, mithin den Sachverhalt sowie die Rechtslage neu zu prüfen. An die Sachbehandlung in früherer Zeit ist das FA grundsätzlich nicht gebunden. Das gebieten die mit Verfassungsrang ausgestatteten Grundsätze der Gesetzmäßigkeit und der Gleichmäßigkeit der Besteuerung, auch wenn dadurch im Einzelfall das Prinzip des Dispositionsschutzes beeinträchtigt werden sollte. Ein Verstoß gegen Treu und Glauben liegt darin nicht. (Vgl. Urteil des BFH V 181/63 vom 15. Dezember 1966, BFH 87, 469, BStBl III 1967, 212.) Dies gilt - entgegen der Auffassung des FG - auch dann, wenn in einem vorangegangenen Jahr über einen gleichen Sachverhalt im Einspruchsverfahren entschieden worden ist. Die Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen beschränkt sich auf die rechtshängig gewesenen Ansprüche. Nichts anderes kann in der Regel für Entscheidungen des FA in einem außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren gelten.
Die Anwendung dieser Rechtsgrundsätze auf den vorliegenden Fall führt zu folgendem Ergebnis:
Das FA blieb bei der Wiederaufrollung der Veranlagung 1955 an seine steuerrechtliche Beurteilung der Lizenzerträge, die es dem Änderungsbescheid nach § 94 AO vom Juni 1957 zugrunde gelegt hatte, gebunden, weil der durch die Betriebsprüfung bekanntgewordene Sachverhalt wegen der vorangegangenen Verletzung der Ermittlungspflicht nicht als neu im Sinne des § 222 Abs. 1 Nr. 1 AO anzusehen ist. Die Verletzung der Ermittlungspflicht hat das FG ausdürucklich festgestellt. Das FA hat dieser Feststellung nicht widersprochen. Für den Erhebungszeitraum 1955 ist die Revision danach nicht begründet.
Für den Erhebungszeitraum 1956 hat das FG hingegen die Lizenzerträge zu Unrecht aus dem Gewerbeertrag ausgegliedert. Für diesen Erhebungszeitraum war das FA nach dem Grundsatz der Abschnittsbesteuerung nicht gehindert, die Rechtsauffassung der erstmaligen Veranlagung im Zuge der Wiederaufrollung des Steuerfalls zuungunsten des Steuerpflichtigen zu ändern. Insoweit ist die Vorentscheidung deshalb aufzuheben und die Berufung gegen den Einspruchsbescheid als unbegründet zurückzuweisen.
Fundstellen
Haufe-Index 68067 |
BStBl II 1968, 547 |
BFHE 1968, 433 |