Leitsatz (amtlich)
1. Hängt die Besteuerung von Entscheidungen ab, die entweder nicht in den Zuständigkeitsbereich der die Steuern festsetzenden Finanzbehörden gehören oder aber nicht im Rahmen des konkreten Besteuerungsverfahrens zu treffen sind, kann das FA die Steuer nach § 100 Abs. 1 AO vorläufig festsetzen (Anschluß an BFH-Urteil vom 25. März 1969 II R 5/66, BFHE 95, 422, BStBl II 1969, 445).
2. Eine derartige Abhängigkeit von einer anderen Entscheidung besteht auch bei der Veranlagung zur Einkommensteuer, solange ein Rechtsstreit darüber anhängig ist, ob der Steuerpflichtige im vorangegangenen Wirtschaftsjahr seinen Gewinn aufgrund ordnungsmäßiger Buchführung ermittelt und einzelne Bilanzposten sowie das Betriebsvermögen am Schluß dieses Wirtschaftsjahres zutreffend angesetzt hatte.
Normenkette
EStG §§ 5, 4 Abs. 1; AO § 100 Abs. 1, § 225
Tatbestand
Streitig war, ob das FA einen Steuerpflichtigen nach § 100 Abs. 1 AO vorläufig zur Einkommensteuer veranlagen kann, weil ein Rechtsstreit darüber anhängig ist, ob der Steuerpflichtige im vorangegangenen Wirtschaftsjahr seinen Gewinn aufgrund ordnungsmäßiger Buchführung ermittelt und einzelne Bilanzposten sowie das Betriebsvermögen am Schluß dieses Wirtschaftsjahres zutreffend angesetzt hatte. Der BFH hat diese Frage in Übereinstimmung mit dem FA und dem FG bejaht und dazu - auszugsweise - folgendes ausgeführt:
Entscheidungsgründe
"Entgegen der Auffassung des Klägers betreffen diese Fragen nicht die - in diesem Zusammenhang nicht ausreichende - Anwendung des Steuerrechts auf einen bekannten Sachverhalt, sondern - bezogen auf die Besteuerung des Streitjahres - die Klärung tatsächlicher Verhältnisse im Sinne der Rechtsprechung (vgl. vor allem BFH-Urteil vom 25. März 1969 II R 5/66, BFHE 95, 422, BStBl II 1969, 445).
Der Kläger hatte seinen Gewinn durch Betriebsvermögensvergleich ermittelt. Nach § 5 i. V. m. § 4 Abs. 1 Satz 1 EStG ist Gewinn der um Einlagen und Entnahmen berichtigte Unterschiedsbetrag zwischen dem Betriebsvermögen am Schluß des Wirtschaftsjahres und dem Betriebsvermögen am Schluß des vorangegangenen Wirtschaftsjahres. Die Höhe des am Schluß eines Wirtschaftsjahres anzusetzenden Betriebsvermögens bildet daher ein Besteuerungsmerkmal für die Gewinnermittlung des Folgejahres. Änderungen einzelner Bilanzposten und darauf beruhende Kapitaländerungen des Vorjahres sind nach dem Grundsatz des Bilanzenzusammenhanges bei der Gewinnermittlung für das Folgejahr zu berücksichtigen, soweit dies rechtlich möglich ist (vgl. BFH-Urteil vom 27. März 1962 I 136/60 S, BFHE 75, 10, BStBl III 1962, 273, bestätigt durch den Beschluß des Großen Senats vom 29. November 1965 GrS 1/65 S, BFHE 84, 392, BStBl III 1966, 142, und Urteil vom 29. November 1967 I 221/64, BFHE 91, 76, BStBl II 1968, 261). Mängel in der Buchführung des Vorjahres betreffen nicht nur die Ordnungsmäßigkeit der Buchführung dieses Jahres, sondern auch des Folgejahres (BFH-Gutachten vom 25. März 1954 IV D 1/53 S, BFHE 58, 740, BStBl III 1954, 195, und Urteil vom 15. März 1972 I R 60/70, BFHE 105, 138, BStBl II 1972, 488).
Selbst wenn der Rechtsstreit über die Steuerfestsetzung des Vorjahres ausschließlich Rechtsfragen betraf, deren mangelnde Klärung für diesen Veranlagungszeitraum nicht die Möglichkeit einer vorläufigen Veranlagung nach § 100 Abs. 1 AO eröffnet hätte, ergibt sich durch die unmittelbare Folgewirkung für die Veranlagung des Folgejahres eine Ungewißheit im Sinne dieser Vorschrift. Daß für die Besteuerung maßgebliche Rechtsverhältnisse bzw. ein darüber anhängiger Rechtsstreit im Rahmen der Steuerfestsetzung derartige ungewisse Verhältnisse begründen können, hat der II. Senat des BFH in seinem Urteil II R 5/66 bereits für Rechtsverhältnisse aus einem anderen Rechtsgebiet ausgesprochen. Der IV. Senat des BFH hat darüber hinaus die Möglichkeit einer vorläufigen Festsetzung des Gewerbesteuermeßbetrages nach § 100 Abs. 1 AO für den Fall bejaht, daß die Höhe des Gewerbeertrages - wegen der Minderung durch den Ansatz einer Umsatzsteuerrückstellung - abhängt vom Ausgang eines Rechtsstreits über die Umsatzsteuerveranlagung (Urteil vom 25. Oktober 1973 IV R 80/72, BFHE 110, 479, BStBl II 1974, 142). Nach der Rechtsprechung des RFH kann ein Steuerpflichtiger dann vorläufig zur Einkommensteuer veranlagt werden, wenn zweifelhaft ist, ob Einkünfte einheitlich und gesondert festzustellen bzw. wie sie zu verteilen sind, wenn sich die Feststellung verzögert oder die Gewinnverteilung unterblieben ist (vgl. z. B. Urteile vom 4. Juni 1930 VI A 424/29, BStBl 1931, 101, und vom 25. Januar 1933 VI A 63/32, Steuer und Wirtschaft 1933, Teil II Nr. 279; Tipke-Kruse Reichsabgabenordnung/Finanzgerichtsordnung, Kommentar, § 100 AO Anm. 3). Allen diesen Fällen ist gemeinsam, daß die Besteuerung nicht von der Anwendung des Steuerrechts durch das Veranlagungs-FA, sondern von Entscheidungen abhängt, die entweder nicht in den Zuständigkeitsbereich der die Steuern festsetzenden Finanzbehörden gehören oder aber nicht im Rahmen des konkreten Besteuerungsverfahrens zu treffen sind. Nicht anders kann die sich aus der Bilanzkontinuität ergebende Auswirkung im Streitfall beurteilt werden, in dem das FA ohne die Entscheidung der Rechtsfrage für das Vorjahr keine abschließende Entscheidung für das Streitjahr treffen konnte. Dabei ist ohne Bedeutung, welche Berichtigungsmöglichkeit im Falle der endgültigen Veranlagung bestanden hätte."
Fundstellen
Haufe-Index 72271 |
BStBl II 1977, 392 |
BFHE 1977, 309 |