Entscheidungsstichwort (Thema)
Zurückweisung von Erklärungen und Beweismitteln
Leitsatz (NV)
Erklärungen und Beweismittel, die erst nach Ablauf einer vom FG gesetzten Frist vorgebracht werden, darf das FG nur dann zurückweisen, wenn eine beglaubigte Abschrift der fristsetzenden Verfügung förmlich zugestellt worden ist.
Normenkette
FGO § 53 Abs. 1, § 79b Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3
Tatbestand
I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), eine GmbH, erhob durch ihren Prozeßbevollmächtigten am 24. März 1997 Klage gegen den Umsatzsteuer-Schätzungsbescheid 1995. Der Klageschrift waren Kopien des Bescheides und der Einspruchsentscheidung beigefügt. Weiter hieß es, Klageantrag und Begründung blieben einem gesonderten Schriftsatz vorbehalten, der unaufgefordert nachgereicht werde.
Mit Verfügung vom 1. Juli 1997 setzte der Berichterstatter des Finanzgerichts (FG) der Klägerin eine Frist gemäß § 65 Abs. 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zur Angabe des Gegenstands des Klagebegehrens und gemäß § 79b Abs. 1 FGO zur Angabe der Tatsachen, durch deren Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung im Verwaltungsverfahren sie ―die Klägerin― sich beschwert fühle. Innerhalb der Frist reichte der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin die Umsatzsteuererklärung 1995 ein, stellte einen entsprechenden Klageantrag und gab ―unter Beweisantritt― Erläuterungen zu der Erklärung ab.
Auf Anregung des Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt ―FA―) forderte der Berichterstatter den Prozeßbevollmächtigten der Klägerin unter dem 10. September 1997 auf, binnen vier Wochen den Jahresabschluß 1995, einen bestimmten Vertrag und näher bezeichnete Rechnungskopien vorzulegen. Daraufhin teilte der Prozeßbevollmächtigte dem FG mit, daß er die Klägerin nicht mehr vertrete.
Mit Verfügung vom 15. Oktober 1997 ("PZU") forderte der Berichterstatter nunmehr die Klägerin (persönlich) auf, die bezeichneten Unterlagen innerhalb eines Monats "ab Zustellung dieser Verfügung" einzureichen. Er wies die Klägerin darauf hin, daß das Gericht Erklärungen und Beweismittel, die erst nach Ablauf der gesetzlichen Frist vorgebracht würden, gemäß § 79b Abs. 3 FGO zurückweisen und ohne weitere Ermittlungen entscheiden könne, wenn die Zulassung des verspäteten Vorbringens nach der freien Überzeugung des Gerichts die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde und die Verspätung nicht genügend entschuldigt sei. Das diese Verfügung umsetzende Schreiben wurde am 28. Oktober 1997 vom FG abgesandt. Die zugehörige Postzustellungsurkunde fehlt in den Akten. Die Klägerin behauptet, das Schreiben nicht erhalten zu haben.
Durch Beschluß vom 27. November 1997 übertrug der Senat des FG gemäß § 6 Abs. 1 FGO den Rechtsstreit dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung. Dieser bestimmte am selben Tag Termin zur mündlichen Verhandlung am 16. Dezember 1997. Übertragungsbeschluß und Terminsladung wurden ―irrtümlich― dem (ehemaligen) Prozeßbevollmächtigten der Klägerin am 1. Dezember 1997 zugestellt. Nachdem dies dem Berichterstatter bekanntgeworden war, lud er die Klägerin (persönlich) ―unter Abkürzung der Ladungsfrist― zur mündlichen Verhandlung am 16. Dezember 1997. Die Ladung ging der Klägerin am 10. Dezember 1997 zu.
Zum Termin zur mündlichen Verhandlung erschien der ehemalige Prozeßbevollmächtigte der Klägerin mit neuer, am 15. Dezember 1997 ausgestellter Prozeßvollmacht. Er überreichte einen Schriftsatz vom 16. Dezember 1997, eine berichtigte Umsatzsteuererklärung 1995, den Jahresabschluß 1995, Rechnungskopien sowie zahlreiche weitere Unterlagen.
Das FG (der Einzelrichter) wies die Klage mit dem Antrag, die Umsatzsteuer 1995 entsprechend der mit Schriftsatz vom 16. Dezember 1997 eingereichten berichtigten Umsatzsteuererklärung auf … DM festzusetzen, als unbegründet ab. Es führte zur Begründung aus, die in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Unterlagen seien schuldhaft verspätet ―nämlich erst nach Ablauf der mit Verfügung vom 15. Oktober 1997 gesetzten Frist― vorgelegt worden. Sie seien deshalb nach § 79b Abs. 3 FGO zurückzuweisen.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Klägerin Verstöße gegen § 79b FGO und gegen § 91 Abs. 1 FGO sowie Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör.
Die Klägerin beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision der Klägerin ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).
1. Das FG hat gegen § 79b Abs. 3 FGO verstoßen, indem es die von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Unterlagen unberücksichtigt gelassen und die Klage (ohne weiteres) abgewiesen hat. Darin liegt zugleich ein Verstoß gegen den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 25. April 1995 IX R 6/94, BFHE 177, 233, BStBl II 1995, 545).
a) Nach § 79b Abs. 2 Nr. 2 FGO kann der Berichterstatter einem Beteiligten unter Fristsetzung aufgeben, zu bestimmten Vorgängen Urkunden oder andere bewegliche Sachen vorzulegen, soweit der Beteiligte dazu verpflichtet ist. Das Gericht kann gemäß § 79b Abs. 3 FGO Erklärungen und Beweismittel, die erst nach Ablauf einer nach § 79b Abs. 2 FGO gesetzten Frist vorgelegt werden, zurückweisen und ohne weitere Ermittlungen entscheiden, wenn
1. ihre Zulassung nach der freien Überzeugung des Gerichts die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde und
2. der Beteiligte die Verspätung nicht entschuldigt und
3. der Beteiligte über die Folgen einer Fristversäumnis belehrt worden ist.
Eine Aufforderung nach § 79b Abs. 2 FGO kann nur dann wirksam werden und die in § 79b Abs. 3 FGO bezeichneten Folgen auslösen, wenn eine beglaubigte Abschrift der fristsetzenden Verfügung gemäß § 53 Abs. 1 FGO förmlich zugestellt worden ist (vgl. BFH-Urteile vom 16. März 1983 IV R 147/80, BFHE 138, 143, 146, BStBl II 1983, 476, und vom 9. April 1991 IX R 57/90, BFH/NV 1992, 51; Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, 4. Aufl., § 79b Rz. 22).
b) Eine solche förmliche Zustellung liegt im Streitfall nicht vor. Der Vortrag der Klägerin, sie habe die Aufforderung vom 15. Oktober 1997 nicht erhalten, läßt sich nicht widerlegen. Deshalb scheidet auch eine Heilung des Zustellungsmangels nach § 9 Abs. 1 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) aus. Überdies scheitert eine Heilung an § 9 Abs. 2 VwZG. Diese Vorschrift gilt über ihren Wortlaut hinaus auch für solche prozessuale Fristen, deren Versäumung ihrer Bedeutung nach dem Verlust eines Anspruchs oder eines Rechtsmittels gleichkommt (vgl. BFH-Urteil vom 12. September 1995 IX R 72/94, BFHE 178, 546, BStBl II 1995, 898), wie dies hier der Fall ist.
Entgegen der Ansicht des FA ist unerheblich, daß bereits vorher eine ―ordnungsgemäß zugestellte― Aufforderung gemäß § 79b Abs. 1 FGO ergangen ist. Denn das FG hat seine Klageabweisung nicht auf eine unzureichende Erfüllung der Aufforderung vom 1. Juli 1997, sondern auf die Nichterfüllung der Aufforderung vom 15. Oktober 1997 gestützt.
2. Ob darüber hinaus ein Verstoß gegen § 91 Abs. 1 FGO wegen nicht ordnungsgemäßer Ladung vorliegt, braucht nicht entschieden zu werden.
Fundstellen
Haufe-Index 302489 |
BFH/NV 1999, 1616 |
HFR 1999, 910 |