Leitsatz (amtlich)

§ 28 BerlinFG in der Fassung vom 29. Oktober 1970 enthält eine Regelungslücke, die in der Weise auszufüllen ist, daß auch Arbeitnehmer, die für eine Tätigkeit in Berlin (West) trotz eindeutiger und unzweifelhafter Vereinbarung wegen des Konkurses ihres Arbeitgebers keinen Arbeitslohn bezogen haben und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch nicht beziehen werden, die Berlinzulage erhalten können. Bemessungsgrundlage für die Zulage ist in diesem Fall der auf den Kalendertag entfallende Arbeitslohn des Lohnberechnungszeitraums.

 

Normenkette

BerlinFG i.d.F. vom 29. Oktober 1970 (BGBl I 1970, 1481, BStBl I 1970, 1017) § 28 Abs. 1; BerlinFG i.d.F. vom 29. Oktober 1970 (BGBl I 1970, 1481, BStBl I 1970, 1017) § 28 Abs. 2

 

Tatbestand

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) war ausweislich der Lohnsteuerkarte vom 1. Januar 1972 bis zum 10. August 1972 bei einem Berliner Bauunternehmen beschäftigt. Für die Zeit vom 1. Juni bis zum 10. August 1972 stand ihr ein Brutto-Arbeitslohn von 6 299,02 DM einschließlich Urlaubsgeld und Urlaubsabgeltung zu; ihr wurde für diese Zeit jedoch nichts ausgezahlt, da der Arbeitgeber in Konkurs gefallen war. Die Klägerin erwirkte beim Arbeitsgericht zwar ein Versäumnisurteil über 4 490,65 DM Netto-Arbeitslohn gegen ihren damaligen Arbeitgeber. Eine Vollstreckung blieb jedoch erfolglos.

Die von dem ehemaligen Arbeitgeber der Klägerin bei der Abrechnung des Gehalts für die Klägerin in Abzug gebrachten Lohnsteuern, Kirchensteuern und Ergänzungsabgaben hat der Beklagte und Revisionskläger (FA) mit dem Guthaben des ehemaligen Arbeitgebers der Klägerin aus überzahlter Gewerbesteuer und Umsatzsteuer 1971 verrechnet, später aber erstattet. Der frühere Arbeitgeber hat die Berlinzulage der Klägerin für die Zeit vom 1. Juni bis 10. August 1972 in Höhe von 504 DM zwar ermittelt, jedoch nicht ausgezahlt.

Die Klägerin begehrt vom FA die Festsetzung und Auszahlung der Berlinzulage in Höhe von 504 DM. Das FA setzte die Zulage jedoch nach einer Bemessungsgrundlage von null DM auf null DM fest, weil die Klägerin in der genannten Zeit keinen Arbeitslohn bezogen habe. Der Einspruch blieb erfolglos.

Auf die Klage setzte das FG in dem in EFG 1974, 407, veröffentlichten Urteil die Berlinzulage der Klägerin auf 504 DM fest und verurteilte das FA zur Auszahlung dieses Betrags. Das FG führte im wesentlichen aus: Der Festsetzungsbescheid des FA sei rechtswidrig. Zwar seien nach § 28 Abs. 1 Satz 1 BerlinFG die Arbeitnehmer zulagebegünstigt, die für eine Beschäftigung in Berlin Arbeitslohn "beziehen"; dieser Begriff deute auf § 11 Abs. 1 Satz 1 EStG hin, wonach "bezogen" sei, was dem Steuerpflichtigen zugeflossen sei. Nach § 1 StAnpG sei bei der Auslegung der Gesetze aber deren wirtschaftliche Bedeutung zu berücksichtigen. Danach sei es gerechtfertigt, im Streitfall die Zulage zu gewähren. Die Berlinzulage bestehe nicht in der Ermäßigung der Lohnsteuer. Sie sei eine arbeitsrechtlich nicht als Bestandteil des Lohns oder Gehalts geltende Einnahme, die nach § 28 Abs. 1 Satz 3 BerlinFG als nichtsteuerpflichtige Einnahme im Sinne des Einkommensteuergesetzes fingiert werde. Sie werde in manchen Fällen "weitergewährt", in denen die Beschäftigung unterbrochen oder eingeschränkt werde (§ 28 Abs. 1 Satz 2 BerlinFG). Es wäre nicht vertretbar, wenn ein Arbeitnehmer, der z. B. wegen Krankheit keine Arbeitsleistung erbringe, die Zulage erhalte, ein Arbeitnehmer, der seine Leistung erbringe, infolge Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers aber keinen Lohn erhalte, jedoch auch hinsichtlich der Zulage leer ausgehe.

Das FG ließ die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zu.

Mit der Revision rügt das FA eine Verletzung von § 28 BerlinFG. Die Auslegung des FG widerspreche dieser Vorschrift. Die Aufzählung der Fälle, in denen nach § 28 Abs. 1 BerlinFG bei Nichtauszahlung von Arbeitslohn eine Zulage gewährt werde, sei abschließend. Hätte der Gesetzgeber in Fällen wie dem vorliegenden die Auszahlung einer Zulage gewollt, hätte er diesen Fall in diese Aufzählung mit aufgenommen. Im übrigen ergebe sich auch aus dem Einführungsgesetz zum Einkommensteuerreformgesetz, daß der Gesetzgeber in Fällen wie dem vorliegenden bisher nicht von einer Zahlungspflicht ausgehe. Dort sei nämlich nunmehr die Zulagebegünstigung für die Fälle, in denen Konkursausfallgeld gezahlt werde, ausdrücklich geregelt worden. Daraus ergebe sich, daß der Gesetzgeber selbst der Auffassung sei, die bisherige gesetzliche Regelung lasse eine Zulagebegünstigung der Arbeitnehmer nicht zu, die wegen Konkurses des Arbeitgebers für eine erbrachte Arbeitsleistung keinen Arbeitslohn erhalten hätten.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet. Das Urteil des FG ist im Ergebnis zutreffend.

§ 28 BerlinFG in der für das Streitjahr 1972 geltenden Fassung enthält eine Regelungslücke, die in der Weise auszufüllen ist, daß auch Arbeitnehmer, die für eine Tätigkeit in Berlin (West) trotz eindeutiger und unzweifelhafter Vereinbarung wegen des Konkurses ihres Arbeitgebers keinen Arbeitslohn bezogen haben und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch nicht beziehen werden, die Berlinzulage erhalten können.

a) Nach § 28 Abs. 1 Satz 1 BerlinFG erhalten Arbeitnehmer, die Arbeitslohn für eine Beschäftigung in Berlin (West) aus einem gegenwärtigen Dienstverhältnis beziehen, unbeschadet weiterer Steuererleichterungen eine Vergünstigung durch Gewährung von Zulagen. Bemessungsgrundlage für die Zulage nach Absatz 1 Satz 1 der genannten Vorschrift ist der aus einem gegenwärtigen Dienstverhältnis bezogene Arbeitslohn des Lohnabrechnungszeitraums (§ 28 Abs. 2 Satz 1 BerlinFG). Arbeitslohn des Lohnabrechnungszeitraums sind dabei der laufende Arbeitslohn, der für den Lohnabrechnungszeitraum gezahlt wird, und sonstige Bezüge, die in dem Lohnabrechnungszeitraum zufließen (§ 28 Abs. 2 Satz 4 BerlinFG). Der Klägerin wurde jedoch unstreitig im Zeitraum vom 1. Juni bis zum 10. August 1972 Arbeitslohn nicht gezahlt; er ist ihr auch nicht auf sonstige Weise zugeflossen.

b) Bis 1970 einschließlich war die Zulage nach dem Gesetzeswortlaut nur zu gewähren, wenn der Arbeitnehmer aus einem gegenwärtigen Dienstverhältnis tatsächlich Arbeitslohn bezog. Erhielt der Arbeitnehmer z. B. Krankengeld und keinen Arbeitslohn, so entfiel die Zulagebegünstigung (vgl. George, Berliner Steuerpräferenzen, 5. Aufl., S. 333). Für nach dem 31. Dezember 1970 endende Lohnzahlungszeiträume wurde sodann geregelt, daß in bestimmten Fällen, in denen der Arbeitnehmer seine Beschäftigung in Berlin (West) unterbrochen oder eingeschränkt hat und in denen er eine Lohnersatzleistung durch Dritte erhielt, die Zulage weitergewährt wird. Der Katalog von Lohnersatzleistungen, bei deren Zahlung die Zulage weitergewährt wird, ist in § 28 Abs. 1 BerlinFG in der für 1972 geltenden Fassung abschließend (vgl. George, a. a. O., S. 334; Hermann/Heuer, Kommentar zur Einkommensteuer und Körperschaftsteuer, 17. Aufl., VIII. Band, § 28 BerlinFG Anm. 4; Sönksen/Söffing, Kommentar zum Berlinförderungsgesetz, 1973, K § 28 Anm. 23). Dies ergibt sich aus der Einzelaufzählung der einzelnen Fälle der zulagebegünstigten Lohnersatzleistungen. Die Klägerin hat eine Lohnersatzleistung nicht erhalten, so daß die Zulagebegünstigung aus diesem Grund ebenfalls nicht in Betracht kommt.

Aus der Tatsache, daß vom 20. Juli 1974 an (§ 31 Abs. 6 BerlinFG in der Fassung des Einführungsgesetzes zum Einkommensteuerreformgesetz) die Zulage auch Arbeitnehmern gewährt wird, die ein Konkursausfallgeld nach dem Arbeitsförderungsgesetz beziehen, kann jedoch nichts für die Auffassung des FA abgeleitet werden. Die neue Vorschrift besagt nichts darüber, ob die Zulage zu gewähren oder zu versagen ist, wenn der Arbeitnehmer infolge des Konkurses seines Arbeitgebers keinerlei Entgelt erhält. Sie regelt vielmehr die Zulagebegünstigung nur für den Fall der Lohnersatzleistung, in dem der Arbeitnehmer ein Konkursausfallgeld bezieht.

c) Steht der Klägerin somit die Berlinzulage weder nach a) noch nach b) der vorstehenden Ausführungen zu, so kann ihr ein Anspruch auf diese Zulage gleichwohl nicht versagt werden. Der dem Streitfall zugrunde liegende Sachverhalt zeigt nämlich, daß es Fälle gibt, die sich bei wörtlicher Auslegung des Gesetzes unter keinen der aufgezählten Tatbestände einreihen lassen, obwohl sie in tatsächlicher und wirtschaftlicher Hinsicht diesen gleichstehen. Die hier sichtbar werdende Lücke hätte der Gesetzgeber, wenn er sie erkannt hätte, unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung wirtschaftlich gleichliegender Fälle sicher in dem Sinn geschlossen, daß er die Zulagebegünstigung vorgesehen hätte. Diese Lücke kann der Richter im Wege der Analogie schließen (vgl. Beschluß BVerfG vom 17. Oktober 1973 1 BvL 20/72, BVerfGE 36, 126, BStBl II 1974, 92 am Ende).

Es wäre unverständlich, wenn ein Anspruch auf eine Zulage nur gegeben wäre, falls Arbeitslohn oder eine Lohnersatzleistung gewährt wird, wenn dieser Anspruch aber trotz vertraglich bestehenden und in Berlin (West) tatsächlich erdienten Arbeitslohnanspruchs nicht ebenfalls bejaht werden würde. Die Zulageberechtigung steht auch mit dem Sinn und Zweck der Zulagebegünstigung und mit der historischen Entwicklung, die zu der Zulagebegünstigung im allgemeinen führte, im Einklang.

aa) Neben der sogenannten Berlinpräferenz in der Form der Ermäßigung der Einkommen- und der Lohnsteuer, die eingeführt wurde, um die Beschäftigung der Berliner Wirtschaft zu fördern (vgl. Bundestags-Drucksache, 2. Wahlperiode, Nr. 1159 S. 20), sollte durch die Einführung der Zulage die Lage auf dem Arbeitsmarkt durch Zuwanderung von leistungsfähigen Arbeitskräften verbessert werden (vgl. Bundestags-Drucksache IV/435 S. 11). Sinn und Zweck der Einführung der Zulage war es also, dem Berliner Arbeitsmarkt Arbeitskräfte zuzuführen oder auch zu erhalten. Wer seine Arbeitskraft in Berlin (West) einsetzt, soll also durch eine Zulage unterstützt werden. Dagegen soll, wie das FG zutreffend ausgeführt hat, nicht die "Tätigkeit" des Beziehens von Arbeitslohn in Berlin (West) durch eine Zulage gefördert werden. Die Klägerin hat durch ihre Tätigkeit in Berlin (West) auch in dem Zeitraum, für den sie keinen Arbeitslohn erhielt, diesen Gesetzeszweck erfüllt.

bb) Die historische Entwicklung, die zu der Zulagebegünstigung führte, macht es verständlich, weshalb in einem Falle wie dem hier zur Entscheidung anstehenden nicht ausdrücklich von Gesetzes wegen eine Zulagebegünstigung vorgesehen ist. Ursprünglich bestand, wie ausgeführt, die Berlinförderung für Arbeitnehmer nur in der Form der Ermäßigung der Einkommen- und der Lohnsteuer. Diese Begünstigung konnte nur auf das Beziehen von Arbeitseinkünften abstellen, weil nur in diesem Fall eine Steuer zu erheben ist. Danach hatte der Gesetzgeber zwar erkannt, daß die Steuerermäßigung für Arbeitnehmer, die keine oder eine geringe Einkommen- oder Lohnsteuer zahlen, kaum attraktiv ist; deshalb wurde die neue und zusätzliche Vergünstigung der Zulage geschaffen (vgl. Bundestags-Drucksache IV/435 S. 17). Dabei wurde aber offenbar übersehen, daß die Zulage - anders als die Steuerermäßigung und weitergehend als in den Fällen der Lohnersatzleistungen - auch gewährt werden kann, wenn Arbeitslohn nicht gezahlt, Arbeit in Berlin (West) jedoch geleistet wird.

cc) Schließlich wäre es auch nicht verständlich, wenn die Zulage bei Lohnersatzleistungen, obwohl der Arbeitnehmer seine Arbeitskraft (vorübergehend) in Berlin (West) nicht zur Verfügung stellt, z. B. im Fall des Beziehens von Mutterschaftsgeld, weitergewährt würde, wenn ihre Weitergewährung aber nicht mehr zulässig wäre, falls der Arbeitnehmer ohne eigenes Verschulden einen Arbeitslohn nicht mehr bezieht, obwohl er in Berlin (West) seine Arbeitskraft einsetzt. Deshalb erscheint es gerechtfertigt, die vorhandene Gesetzeslücke in den Fällen, in denen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Lohnzahlung trotz in Berlin (West) erbrachter Arbeitsleistung und trotz vertraglich bestehenden Anspruchs nicht erfolgen wird, dadurch zu schließen, daß auch in einem solchen Falle die Berlinzulage zu gewähren ist.

Dabei ist Bemessungsgrundlage für die Zulage - wie im Falle der Lohnersatzleistungen - der auf den Kalendertag entfallende Arbeitslohn des Lohnabrechnungszeitraums (vgl. § 28 Abs. 2 Satz 2 BerlinFG). Würde der ehemalige Arbeitgeber der Klägerin dieser später noch den geschuldeten Arbeitslohn zahlen, so wäre allerdings sicherzustellen, daß die Klägerin nicht eine nochmalige Zulage erhielte. Dem kann durch eine entsprechende Anwendung des § 28 Abs. 1 Sätze 4 und 5 BerlinFG in der Fassung des Einführungsgesetzes zum Einkommensteuerreformgesetz Rechnung getragen werden. Danach ist im Falle der Zahlung von Konkursausfallgeld eine Zulage nicht zu zahlen, soweit für die entsprechenden "Zeiten bereits Zulagen gewährt worden sind".

Demnach steht der Klägerin die beantragte Berlinzulage zu. Gegen die von ihrem ehemaligen Arbeitgeber festgesetzte und vom FG bestätigte Höhe der Zulage von 504 DM sind Bedenken nicht erhoben worden und auch nicht ersichtlich.

 

Fundstellen

Haufe-Index 72112

BStBl II 1977, 24

BFHE 1976, 509

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