Entscheidungsstichwort (Thema)
Erhöhter Freibetrag bei Veräußerung wegen Berufsunfähigkeit
Leitsatz (NV)
Eine Veräußerung wegen dauernder Berufsunfähigkeit liegt nicht vor, wenn ein Arzt seine Allgemeinpraxis aus gesundheitlichen Gründen veräußert und 18 Monate später an anderem Ort eine Facharztpraxis eröffnet.
Normenkette
EStG bis 1995 § 18 Abs. 3, § 16 Abs. 4 S. 3
Tatbestand
Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) wurden im Streitjahr 1989 als Ehegatten zur Einkommensteuer zusammenveranlagt. Der Kläger erzielte Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit als Arzt. Am 4. Januar 1989 hatte der Kläger einen schweren Skiunfall, bei dem er sich eine Fraktur der Wirbelsäule zuzog. Der Facharzt für Orthopädie Dr. X bescheinigte ihm zunächst für die Zeit vom 4. Januar 1989 bis 31. März 1989 und im Anschluß daran mit weiteren Attesten für das ganze Jahr 1989 Arbeitsunfähigkeit zu 100 %. Im April 1989 veräußerte der Kläger seine Arztpraxis für ... DM an einen Kollegen. Die Übergabe erfolgte zum 1. Oktober 1989, weil der Erwerber die Kassenarztzulassung erst zu diesem Zeitpunkt erwarten konnte. Zum 1. Oktober 1989 verzichtete der Kläger auch auf seine Kassenzulassung. Sein Antrag auf Gewährung von Berufsunfähigkeitsrente wurde von der Versorgungsanstalt für Ärzte, Zahnärzte und Tierärzte (Versorgungsanstalt) mit Bescheid vom 20. Februar 1990 abgelehnt. Der von der Versorgungsanstalt beauftragte Gutachter war in seinem Gutachten vom ... Januar 1990 zu dem Ergebnis gekommen, daß der Kläger zwar in seiner statischen Belastbarkeit eingeschränkt sei, jedoch bis ca. vier Stunden täglich die Tätigkeit des Arztes ausüben könne. Mehr als ein Jahr später, am 1. April 1991, nahm der Kläger wieder eine Tätigkeit als Kassenarzt in eigener Praxis und zwar als Facharzt für ... in Y auf.
Das damalige Wohnsitzfinanzamt besteuerte den Veräußerungsgewinn nach §§ 18 Abs. 3, 16 des Einkommensteuergesetzes (EStG) i. V. m. § 34 Abs. 2 Nr. 1 EStG. Der Freibetrag in Höhe von 30 000 DM nach § 16 Abs. 4 Satz 1 EStG konnte nicht in Anspruch genommen werden, weil der Veräußerungsgewinn die Freibetragsgrenze gemäß § 16 Abs. 4 Satz 2 EStG überstieg. Den erhöhten Freibetrag nach § 16 Abs. 4 Satz 3 EStG lehnte das Wohnsitzfinanzamt mit der Begründung ab, es liege keine dauernde Berufsunfähigkeit vor.
Den dagegen gerichteten Einspruch wies der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt -- FA --) zurück, nachdem es durch den Wohnsitzwechsel der Kläger zuständig geworden war. Dem Kläger sei zwar eine eingeschränkte Belastbarkeit bescheinigt worden. Dies sei aber keine dauernde Berufsunfähigkeit i. S. des § 16 Abs. 4 Satz 3 EStG. Der Kläger habe seinen Beruf bis zu vier Stunden täglich ausüben können und zum 1. April 1991 wieder eine Arztpraxis eröffnet.
Die dagegen gerichtete Klage hatte ebenfalls keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) folgte der Begründung der Einspruchsentscheidung und sah von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe nach § 105 Abs. 5 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ab.
Die Kläger rügen mit ihrer vom FG zugelassenen Revision die Verletzung formellen und materiellen Rechts.
Das FG habe den Sachverhalt nicht ausreichend gewürdigt, indem es sich allein auf das 14 Monate nach dem Skiunfall und 8 Monate nach der Praxisveräußerung erstellte Gutachten des Sozialversicherungsträgers berufen habe. Bei Veräußerung der Praxis habe ihm, dem Kläger, die Fortführung der Praxis nicht mehr zugemutet werden können, weil auch altersbedingt mit einer Besserung des Gesundheitszustandes nicht mehr zu rechnen gewesen sei. Nach wie vor sei er auf eine vierstündige Tätigkeit täglich beschränkt. Die Gründung der Facharztpraxis zum 1. April 1991 sei als letzter Ausweg erforderlich gewesen, nachdem er vergeblich eine Tätigkeit als angestellter Arzt angestrebt habe.
Die Kläger beantragen, die Vorentscheidung aufzuheben und die Einkommensteuer 1989 unter Änderung des angefochtenen Bescheids von ... DM auf ... DM herabzusetzen.
Entscheidungsgründe
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO). Zu Recht hat das FG den erhöhten Freibetrag wegen dauernder Berufsunfähigkeit für den Gewinn aus der Praxisveräußerung versagt.
Nach § 18 Abs. 3 i. V. m. § 16 Abs. 4 Sätze 1 und 2 EStG in der für das Streitjahr geltenden Fassung wird der Gewinn aus der Veräußerung eines freiberuflich genutzten Vermögens zur Einkommensteuer nur herangezogen, soweit er 30 000 DM übersteigt; der Freibetrag wird in voller Höhe gewährt, sofern der Veräußerungsgewinn 100 000 DM nicht übersteigt. Nach § 16 Abs. 4 Satz 3 EStG tritt an die Stelle des Betrags von 30 000 DM der Betrag von 120 000 DM und an die Stelle des Betrags von 100 000 DM ein Betrag von 300 000 DM, wenn der Steuerpflichtige nach Vollendung seines 55. Lebensjahres oder wegen dauernder Berufsunfähigkeit seinen Betrieb veräußert oder aufgibt.
Von der durch das Jahressteuergesetz (JStG) 1996 eingeführten Bezugnahme auf den sozialversicherungsrechtlichen Begriff der dauernden Berufsunfähigkeit hat der Bundesfinanzhof (BFH) diesen Begriff eigenständig ausgelegt (BFH-Urteile vom 18. August 1981 VIII R 25/79, BFHE 134, 548, BStBl II 1982, 293, und vom 13. März 1986 IV R 176/84, BFHE 146, 399, BStBl II 1986, 601). Danach ist eine dauernde Berufsunfähigkeit vor allem bei Eintritt einer körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung, also eines Invaliditätsgrundes, anzunehmen, der den Steuerpflichtigen zu einer Einstellung oder grundlegenden Umstellung seines bisherigen Arbeitseinsatzes zwingt. Wie sich aus der Entstehungsgeschichte des § 16 Abs. 4 EStG (vgl. dazu BTDrucks VI/1901, S. 9) ergibt, kann der Unternehmer nicht auf andere zumutbare Tätigkeiten verwiesen werden, wie dies etwa in § 43 Abs. 2 des Sozialgesetzbuches (SGB) VI vorgesehen ist. Der BFH hat daher den erhöhten Freibetrag selbst für den Fall anerkannt, daß ein selbständiger Gerüstbauer seinen Betrieb wegen einer Erkrankung des Schultergelenks veräußert und -- als gelernter Gärtner -- anschließend einen Blumeneinzelhandel eröffnet hat (BFH in BFHE 134, 548, BStBl II 1982, 293). Entsprechend hat der Senat eine Betriebsveräußerung wegen dauernder Berufsunfähigkeit auch dann angenommen, wenn ein Betriebsinhaber seinen Betrieb wegen seines die berufliche Tätigkeit ausschließenden Gesundheitszustandes zunächst befristet verpachtet und nach Erlangung der Gewißheit, daß er dauernd unfähig bleiben werde, den Betrieb wieder selbst zu übernehmen, veräußert (BFH in BFHE 146, 399, BStBl II 1986, 601). In beiden Fällen hat es der BFH abgelehnt, die Ausübung einer anderen Tätigkeit als schädlich für den Begriff der dauernden Berufsunfähigkeit i. S. des § 16 Abs. 4 Satz 3 EStG zu beurteilen.
Auch im Streitfall hat der Kläger nach Veräußerung seiner Praxis nicht auf jegliche Berufstätigkeit verzichtet. Er hat jedoch nicht wie in den vom BFH entschiedenen Fällen eine völlig andere Tätigkeit ausgeübt, sondern anstelle einer Allgemeinpraxis eine Facharztpraxis betrieben. Dies spricht dafür, daß nicht nur "eine gewisse Erwerbsfähigkeit in einem anderen Beruf erhalten geblieben ist" (BTDrucks VI/1901, S. 16), sondern die gleiche Berufstätigkeit fortgesetzt wurde. Daß diese Berufstätigkeit unter Verzicht auf Hausbesuche und Notdienste ausgeübt werden kann und der Kläger aus gesundheitlichen Gründen auch den zeitlichen Umfang seiner Tätigkeit eingeschränkt haben mag, bedeutet keine derart grundlegende Umstellung der bisherigen Tätigkeit, die die Annahme einer dauernden Berufsunfähigkeit rechtfertigen könnte.
Der erkennende Senat geht im Streitfall davon aus, daß sich der Kläger aus gesundheitlichen Gründen zu der Praxisveräußerung entschlossen hat. Gleichwohl hat das FG unter Bezugnahme auf die Gründe der Einspruchsentscheidung in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise verneint, daß der Kläger seine Praxis wegen dauernder Berufsunfähigkeit veräußert hat. Ob die Aufgabe oder Veräußerung eines Betriebs oder einer Praxis durch eine dauernde Berufsunfähigkeit veranlaßt wurde, ist anhand objektiver Umstände festzustellen. Dem FG lagen insoweit nur die Bescheinigungen vor, wonach der behandelnde Facharzt dem Kläger eine 100 %ige Arbeitsunfähigkeit vom Zeitpunkt seines Unfalls bis zum 31. Dezember 1989 attestiert hatte. Obwohl nach der Rechtsprechung des BFH eine privatärztliche Bescheinigung zum Nachweis der dauernden Berufsunfähigkeit i. S. des § 16 Abs. 4 Satz 3 EStG ausreicht (Urteile in BFHE 134, 548, BStBl II 1982, 293 und in BFHE 146, 399, BStBl II 1986, 601), sind die vorgelegten befristeten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen nicht geeignet, den Nachweis dauernder Berufsunfähigkeit zu erbringen. Einen anderen geeigneten Nachweis hat der Kläger versäumt vorzulegen. Er trägt jedoch die Feststellungslast für das Vorliegen der Voraussetzungen des erhöhten Freibetrags nach § 16 Abs. 4 Satz 3 EStG.
Entgegen der Revision hat sich das FG nicht allein auf das die dauernde Berufsunfähigkeit ausschließende Gutachten der Versorgungsanstalt gestützt. Dieses erst nach der Praxisveräußerung erstellte Gutachten wird aber von der in Bezug genommenen Einspruchsentscheidung ebenso wie der Umstand, daß der Kläger eine neue Praxis gegründet hat, als Indiz dafür herangezogen, daß die Praxis nicht wegen dauernder Berufsunfähigkeit veräußert worden ist. Diese naheliegende Schlußfolgerung läßt keinen Verstoß gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze erkennen. Zu Unrecht berufen sich die Kläger ferner auf das rechtskräftige Urteil des FG Rheinland-Pfalz vom 1. Juni 1994 1 K 2299/90 (Entscheidungen der Finanzgerichte 1995, 72). Denn abgesehen davon, daß diese Entscheidung den Fall einer endgültigen Einstellung der bisherigen Tätigkeit zum Gegenstand hatte, lag dem FG -- anders als im Streitfall -- auch eine ärztliche Bescheinigung der dauernden Berufsunfähigkeit vor.
Fundstellen
Haufe-Index 421808 |
BFH/NV 1997, 224 |