Entscheidungsstichwort (Thema)
Zur Begründung von Urteilen in Erlaßsachen
Leitsatz (NV)
Ein Urteil ist nicht mit Gründen i. S. des § 119 Nr. 6 FGO versehen, wenn den Beteiligten die Möglichkeit entzogen ist, die getroffene Entscheidung auf ihre Richtigkeit und Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen. Dies ist der Fall, wenn das FG bei seiner Entscheidung über einen Billigkeitserweis einen Teil der Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis, die erlassen werden sollen, mit Stillschweigen übergangen hat.
Normenkette
FGO § 119 Nr. 6; AO 1977 § 227 Abs. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) unterhielt einen Gewerbebetrieb. Er veräußerte im Jahre 1974 seine komplette Betriebsanlage an einen ausländischen Abnehmer. Als Gesamtpreis wurde ein Betrag von . . . DM vereinbart, der nach einer Anzahlung von . . . DM vom vierten Monat nach erfolgter Lieferung an als ,,Pachtzins" abgetragen werden sollte. Die Übergabe der Anlage erfolgte im Jahre 1975. Tatsächlich erwies sich der Kaufpreis in der Folgezeit jedoch bis auf die geleistete Anzahlung als uneinbringlich. Im Jahre 1981 schloß der Kläger deshalb mit dem ausländischen Erwerber einen zweiten Vertrag ab. Auch die Forderung aus diesem Vertrag wurde nicht erfüllt.
Durch Bescheid vom 12. Dezember 1979 setzte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) die Einkommensteuer 1975 unter Schätzung der Besteuerungsgrundlagen fest. Er ging dabei von einem Veräußerungsgewinn in Höhe von 1 Mio. DM aus. Die Berechnung dieses Gewinns beruhte auf der Annahme, daß der Kläger für die Übergabe des Anlagevermögens an den ausländischen Abnehmer ein Entgelt in Höhe von . . . DM erhalten habe. Mit weiteren Bescheiden vom 12. Dezember 1979 schätzte das FA auch die Besteuerungsgrundlagen für 1971 bis 1973 und 1976. Die Schätzungsbescheide ergingen, weil der Kläger keine Steuererklärungen abgegeben hatte. Sämtliche Bescheide wurden bestandskräftig.
Die sich hiernach ergebenden Rückstände des Klägers (Einkommensteuer 1971 bis 1973, 1975 und 1976, Umsatzsteuer 1972 bis 1974, 1976, Verspätungszuschläge und Säumniszuschläge) beliefen sich, soweit noch im Streit befindlich, auf insgesamt . . . DM. Lediglich der darin enthaltene, auf die Einkommensteuer 1975 entfallende Betrag von . . . DM ist auf den Gewinn für die Betriebsveräußerung an den ausländischen Erwerber zurückzuführen.
Der Kläger beantragte den Erlaß dieser Rückstände aus Gründen sachlicher und persönlicher Billigkeit. Er trug vor, nicht in der Lage zu sein, die Steuerschulden zu begleichen; im übrigen sei ein Veräußerungsgewinn in der vom FA angenommenen Höhe nicht angefallen.
Der Billigkeitsantrag blieb ebenso wie die gegen dessen Zurückweisung eingelegte Beschwerde - bis auf einen Teil der Säumniszuschläge - erfolglos. In seinem Ablehnungsbescheid führte das FA u. a. aus, daß die auf den Veräußerungsgewinn entfallende Einkommensteuer im Einklang mit § 16 des Einkommensteuergesetzes (EStG) richtig festgesetzt worden sei. Härten, die darin begründet seien, daß die Forderung aus der Veräußerung später uneinbringlich sei, habe der Gesetzgeber bewußt in Kauf genommen. Solche Härten könnten nicht über eine Billigkeitsmaßnahme nach § 227 der Abgabenordnung (AO 1977) beseitigt werden. Ihre Beschwerdeentscheidung begründete die Oberfinanzdirektion (OFD) im wesentlichen damit, daß rechtskräftig festgesetzte Steuern im Verfahren nach § 227 AO 1977 nur dann sachlich überprüft werden könnten, wenn die Steuerfestsetzung eindeutig und offensichtlich falsch sei und es dem Steuerpflichtigen nicht möglich und zumutbar gewesen sei, sich gegen die Steuerfestsetzung zu wehren. Beides treffe vorliegend nicht zu. Auch ein Erlaß aus persönlichen Billigkeitsgründen komme nicht in Betracht. Der Kläger sei nicht erlaßwürdig; er habe über einen Zeitraum von acht Jahren keine Steuererklärungen abgegeben und seine steuerlichen Mitwirkungspflichten verletzt.
Mit seiner Klage begehrte der Kläger, die Ablehnung des Erlaßantrages und die Beschwerdeentscheidung aufzuheben und das FA zu verpflichten, ihn erneut zu bescheiden. Das Finanzgericht (FG) gab der Klage mit folgender Begründung statt: Selbst wenn man mit dem Bundesfinanzhof - BFH - (Urteil vom 24. September 1976 I R 41/75, BFHE 120, 212, BStBl II 1977, 127) davon ausgehe, daß der Ausfall der Kaufpreisforderung nicht zu einem rückwirkend niedrigeren Ansatz des Veräußerungsgewinns führe und daß dementsprechend eine Änderung des Steuerbescheides nicht über § 175 (Abs. 1) Satz 1 Nr. 2 AO 1977 möglich sei, so bedeute dies doch nicht, daß dieses unbillige Ergebnis nicht zumindest im Erlaßverfahren korrigiert werden könne. Die Verwaltung dürfe sich demgegenüber nicht auf die zwischenzeitlich eingetretene Bestandskraft des Steuerbescheides zurückziehen. Der Hinweis hierauf sei jedenfalls dann nicht ausreichend, wenn die Entwertung der Kaufpreisforderung - wie hier - erst nach Bestandskraft deutlich geworden sei. Dem Steuerpflichtigen sei es dann nicht zumutbar gewesen, rechtzeitig gegen die Steuerfestsetzung einen Rechtsbehelf einzulegen. Da die Behörde im Rahmen ihrer Ermessenserwägungen sich mit diesem Gesichtspunkt nicht auseinandergesetzt habe, sei ihre Entscheidung ermessensfehlerhaft zustande gekommen und deshalb aufzuheben.
Entscheidungsgründe
Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).
Das Urteil des FG leidet an einem wesentlichen Mangel des Verfahrens i. S. von § 119 Nr. 6 FGO. Zutreffend rügt das FA insoweit das - partielle - Fehlen von Entscheidungsgründen.
Ein Mangel i. S. von § 119 Nr. 6 FGO ist nach der Rechtsprechung gegeben, wenn die Begründung überhaupt fehlt oder das FG einen selbständigen Anspruch oder ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel mit Stillschweigen übergangen hat (z. B. BFH-Beschlüsse vom 9. Februar 1977 I R 136/76, BFHE 121, 298, BStBl II 1977, 351, m. w. N., und vom 17. September 1987 IV R 161/85, BFH/NV 1989, 245). In diesem Fall ist den Beteiligten die Möglichkeit entzogen, die getroffene Entscheidung auf ihre Richtigkeit und Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen (BFH-Urteil vom 23. Januar 1985 I R 292/81, BFHE 143, 325, BStBl II 1985, 417 unter Abschn. II A 1 der Entscheidungsgründe; Beschluß vom 5. Dezember 1986 VI R 58/86, BFH/NV 1987, 175). Dies ist vorliegend der Fall.
Zwar ist Gegenstand des Streits zwischen den Beteiligten in erster Linie die Frage danach, welche Auswirkungen ein (späterer) Ausfall der Forderungen aus der Veräußerung eines Betriebes auf die Ermittlung des Veräußerungsgewinns (§ 16 EStG) hat. Betroffen hiervon war im Streitfall indes lediglich die (rückständige) Einkommensteuerschuld für 1975 in Höhe von . . . DM. Insoweit hat das FG seine Entscheidung auch mit entsprechenden Gründen versehen. Das FG hat der Klage jedoch - antragsgemäß - im Hinblick auf die gesamten im Zeitpunkt des Ergehens der Beschwerdeentscheidung der OFD rückständigen Beträge des Klägers beim FA stattgegeben, auch soweit diese andere Steuerarten und Zeiträume als die Einkommensteuer 1975 betrafen. Gründe dafür, weshalb dies geschehen ist, sind dem Urteil nicht zu entnehmen. Dies aber wäre erforderlich gewesen. Denn Gegenstand eines Billigkeitserweises nach § 227 Abs. 1 AO 1977 sind die - einzelnen - ,,Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis" (vgl. auch § 37 Abs. 1 AO 1977). Diese sind nach Art, Zeitraum und Höhe zu bestimmen und zu differenzieren. Der Billigkeitserweis kann also nicht ,,pauschal" und ,,stillschweigend" erfolgen; vielmehr müssen seine Voraussetzungen für jeden Anspruch geprüft und das Ergebnis dieser Prüfung in den Entscheidungsgründen wiedergegeben werden. Hierauf konnte auch nicht deshalb verzichtet werden, weil das Vorliegen der Billigkeitsvoraussetzungen insoweit auf der Hand lag. Das FA bestreitet, daß eine persönliche Unbilligkeit gegeben ist.
Das Urteil der Vorinstanz war deshalb aufzuheben.
2. Das FG wird bei seiner erneuten Entscheidung folgendes zu berücksichtigen haben:
Nach § 227 Abs. 1 AO 1977 können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Ein Erlaß von Steueransprüchen aus Gründen sachlicher Billigkeit kann hiernach gewährt werden, wenn die Besteuerung eines Sachverhaltes, der unter einen gesetzlichen Besteuerungstatbestand fällt, im Einzelfall mit dem Sinn des Steuergesetzes nicht vereinbar ist, wenn also ein ,,Überhang" des gesetzlichen Tatbestandes über die Wertungen des Gesetzgebers feststellbar ist und der Sachverhalt zwar den gesetzlichen Tatbestand erfüllt, die Besteuerung aber den Wertungen des Gesetzgebers zuwider läuft (z. B. BFH-Urteil vom 8. März 1984 I R 44/80, BFHE 140, 421, BStBl II 1984, 415 m. w. N.). Kann das ,,billige" Ergebnis jedoch bereits auf andere Weise - beispielsweise durch eine Auslegung des Gesetzes und durch entsprechende Änderung von Steuerbescheiden - erreicht werden, besteht für einen Steuererlaß wegen sachlicher Unbilligkeit kein Raum. Die sachlich-rechtlichen Regelungen gehen dem Billigkeitserweis regelmäßig vor und können nicht - so aber im Ergebnis die Vorinstanz - dahingestellt bleiben (vgl. BFH-Urteile vom 26. Juli 1977 VII R 99/74, BFHE 122, 440, BStBl II 1977, 855; vom 4. Juli 1972 VII R 103/69, BFHE 106, 268, BStBl II 1972, 806; vom 18. Januar 1977 VII R 94/73, BFHE 121, 246; Tipke / Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 14. Aufl., § 227 AO 1977 Tz. 21 f., 33).
Das FG wird mithin zu prüfen haben, ob die Einkommensteuerfestsetzung für 1975 nach §§ 172 ff. AO 1977 zugunsten des Klägers geändert werden kann. Zu einer solchen Annahme besteht ggf. Veranlassung: In Rechtsprechung und Schrifttum ist kontrovers, ob der (ganze oder teilweise) Ausfall der Kaufpreisforderung rückwirkend den Veräußerungspreis gemäß § 16 EStG mindert und die Veranlagung für das Jahr der Veräußerung nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 zu ändern ist. Dies wird zwar überwiegend vertreten (vgl. Schmidt, Einkommensteuergesetz, 10. Aufl., § 16 Anm. 57 a m. w. N.), vom BFH aber in bislang ständiger Rechtsprechung abgelehnt (z. B. Urteile vom 24. September 1976 I R 41/75 BFHE 120, 212, BStBl II 1977, 127; vom 26. Juni 1985 IV R 22/83, BFH/NV 1987, 24; s. aber nunmehr den Vorlagebeschluß an den Großen Senat vom 26. März 1992 VIII R 315/84). Die Forderung aus der Veräußerung eines Betriebes oder eines Mitunternehmeranteils geht danach unmittelbar mit der Veräußerung in das Privatvermögen über; durch einen späteren (im Veräußerungszeitpunkt noch nicht zu erwartenden) Ausfall der Kaufpreisforderung wird die Feststellung des Veräußerungsgewinns nicht berührt. Dem steht die Ansicht gegenüber, die Kaufpreisforderung bleibe stets Betriebsvermögen; ihr Ausfall führe zu nachträglichen negativen gewerblichen Einkünften (F. Dötsch, Einkünfte aus Gewerbebetrieb nach Betriebsveräußerung und -aufgabe, 1987, S. 107 ff.).
Gleichviel, welche Auffassung man für richtig hält, ein Erlaß der auf den Veräußerungsgewinn entfallenden Einkommensteuer aus Gründen sachlicher Billigkeit kommt nach Lage der Dinge weder nach der einen noch nach der anderen Meinung in Betracht: Schließt man sich dem BFH an, ist vielmehr davon auszugehen, daß der Gesetzgeber Härten, die sich für den Steuerpflichtigen aus dem späteren Ausfall der Veräußerungsforderung im privaten Vermögensbereich ergeben, in Kauf genommen hat (Urteil in BFHE 120, 212, BStBl II 1977, 127; s. dazu auch die Anmerkung von D. Birk, Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -, Abgabenordnung, § 131 n. F., Rechtsspruch 256). Dem entgegenstehenden Standpunkt des FG wäre mit den Gründen des vorgenannten BFH-Urteils nicht beizupflichten. Folgt man hingegen den in der Literatur vertretenen Auffassungen, ist für einen sachlichen Billigkeitserweis - wie dargestellt - von vornherein kein Raum; es ist auf sachlich-rechtlicher Ebene zu entscheiden. In diesem Zusammenhang wird das FG überdies erwägen müssen, welchen Inhalt der zweite, vom Kläger im Jahre 1981 mit dem ausländischen Abnehmer geschlossene Vertrag hatte und ob diesem Vertrag Auswirkungen auf den Erstvertrag und die Höhe des Entgeltes für die Überlassung der Betriebsanlage zukam. Wäre das Entgelt nachträglich - einvernehmlich - herabgesetzt worden, käme u. U. bereits von daher eine Berichtigung des Einkommensteuerbescheides 1975 in Betracht, vorausgesetzt, die Minderung wäre betrieblich veranlaßt (s. im einzelnen Schmidt, a. a. O., § 16 Anm. 58; s. auch BFH-Urteile vom 26. Juli 1984 IV R 10/83, BFHE 141, 488, BStBl II 1984, 786; vom 23. Juni 1988 IV R 84/86, BFHE 154, 85, BStBl II 1989, 41).
Sollte sich herausstellen, daß der betreffende Steuerbescheid für 1975 wegen eines rückwirkenden Ereignisses zu berichtigen ist, so ist zu erwägen, ob nicht das beim FA angebrachte Begehren des Klägers als Antrag auf Änderung des Steuerbescheides zu verstehen war, auch wenn der Antrag ausdrücklich auf Erlaß der Steuerrückstände aus Billigkeitsgründen zielte (s. auch BFH-Urteil in BFHE 106, 268, BStBl II 1972, 806). Sollte eine Berichtigung des Einkommensteuerbescheides für 1975 hingegen nicht in Betracht kommen, wäre zu Recht nur im Billigkeitsverfahren entschieden worden. Das FG müßte seine Überprüfung der ablehnenden Entscheidungen des FA und der OFD aber unter Berücksichtigung der dargestellten Rechtslage neu vornehmen.
Fundstellen
Haufe-Index 418150 |
BFH/NV 1992, 530 |