Entscheidungsstichwort (Thema)
Änderung des Folgebescheids nach fehlerhafter Auswertung eines Grundlagenbescheids
Leitsatz (NV)
1. Werden Sonderbetriebsausgaben bei der Einkünfteermittlung im Rahmen der Gewinnfeststellung abgezogen, nehmen sie an der Bindungswirkung der Einkünftefeststellung der Höhe nach in der Weise teil, dass eine nochmalige Berücksichtigung im Folgebescheid mit dem Grundlagenbescheid unvereinbar ist.
2. Die Anpassungspflicht nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO wird durch unrichtige oder unvollständige Auswertung der Grundlagenentscheidung im Folgebescheid nicht beseitigt oder "verbraucht". Sie bleibt als Berichtigungspflicht solange bestehen, wie der Grundlagenbescheid in dem Folgebescheid noch nicht zutreffend berücksichtigt worden ist, Festsetzungs- oder Feststellungsverjährung noch nicht eingetreten ist und der Steueranspruch noch nicht verwirkt ist.
Normenkette
AO §§ 129, 169 Abs. 2 S. 1 Nr. 2, § 170 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, § 171 Abs. 10, § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Die verheirateten Kläger und Revisionskläger (Kläger) werden zusammen zur Einkommensteuer veranlagt.
Der Kläger war im Streitjahr 2000 Rechtsanwalt und erzielte als Partner einer Rechtsanwaltsgesellschaft (RA-Gesellschaft) Einkünfte aus freiberuflicher Tätigkeit. Die Einkünfte aus der RA-Gesellschaft wurden vom Betriebsstätten-Finanzamt (Betriebsstätten-FA) einheitlich und gesondert festgestellt.
Die RA-Gesellschaft unterhielt ein Büro in der S-Straße. Sie hatte eine Büroetage im 2. Obergeschoss von der Grundstücksgesellschaft S-Straße, Büroetage 2. OG (GbR 2. OG) angemietet. An der GbR 2. OG war der Kläger zu 1/3 beteiligt. Die beiden weiteren Beteiligten der GbR 2. OG waren nicht an der RA-Gesellschaft beteiligt. Die übrigen Geschosse des Objekts S-Straße standen im Eigentum von anderen Grundstücksgesellschaften. Die Einkünfte aus der GbR 2. OG wurden vom Betriebsstätten-FA einheitlich und gesondert festgestellt.
Die gemeinsame Einkommensteuererklärung der Kläger für das Streitjahr ging am 4. Dezember 2001 beim Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt --FA--) ein. Darin erklärte der Kläger Einkünfte aus seiner Beteiligung an der RA-Gesellschaft in Höhe von 149 151 DM bei den Einkünften aus selbständiger Arbeit. Einkünfte aus der Beteiligung an der GbR 2. OG erklärte er nicht. Auf einer gesonderten Anlage teilte er dem FA mit, dass seine Beteiligung an der GbR 2. OG Betriebsvermögen bei der RA-Gesellschaft sei und die Einkünfte bereits als Sonderbetriebsausgaben erfasst seien.
Die auf den Kläger entfallenden Einkünfte aus der GbR 2. OG stellte das Betriebsstätten-FA am 27. November 2001 mit ./. 15 069,82 DM als solche aus selbständiger Arbeit fest. Es übersandte dem FA eine entsprechende Mitteilung.
Der Anteil des Klägers am Gewinn der RA-Gesellschaft betrug laut Feststellungsbescheid des Betriebsstätten-FA vom 6. Februar 2002 149 151 DM. Der Feststellungsbescheid wurde am 18. März 2002 geändert. Für den Kläger ergaben sich keine geänderten Besteuerungsgrundlagen. Das FA erhielt entsprechende Mitteilungen.
Bei der Einkommensteuerveranlagung der Kläger für das Streitjahr erfasste das FA den Gewinn in Höhe von 149 151 DM aus der Beteiligung an der RA-Gesellschaft und den Verlust in Höhe von 15 069,82 DM aus der Beteiligung an der GbR 2. OG gemäß den ihm vorliegenden Mitteilungen als Einkünfte des Klägers aus selbständiger Arbeit. Der entsprechende Einkommensteuerbescheid erging am 15. April 2002.
Im Oktober 2002 teilte das Betriebsstätten-FA dem FA nach einer Betriebsprüfung bei der GbR 2. OG mit, dass u.a. im Streitjahr der Verlust des Klägers aus der Beteiligung an der GbR 2. OG im Rahmen der Feststellungserklärung der RA-Gesellschaft als Sonderbetriebsausgabe des Klägers erklärungsgemäß erfasst worden sei. Da Sonderbetriebsvermögen des Klägers bei der RA-Gesellschaft vorliege, dürfe kein Ansatz des Verlustes im Einkommensteuerbescheid erfolgen.
In dem daraufhin nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) geänderten Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr vom 31. Oktober 2002 ließ das FA den Verlust in Höhe von 15 069,82 DM aus der Beteiligung an der GbR 2. OG außer Ansatz und berücksichtigte nur noch den Gewinn in Höhe von 149 151 DM aus der Beteiligung an der RA-Gesellschaft.
Einspruch und Klage blieben ohne Erfolg.
Das Finanzgericht (FG) führte u.a. aus: Im Streitfall seien die Voraussetzungen des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO für eine Änderung des Einkommensteuerbescheids vom 15. April 2002 erfüllt. Aus dem Feststellungsbescheid über die Einkünfte aus der RA-Gesellschaft seien für den Kläger nicht die richtigen Folgerungen gezogen worden, indem bei der Einkommensteuerveranlagung neben dem festgestellten Gewinn in Höhe von 149 151 DM ein Verlust in Höhe von 15 069,82 DM aus der Beteiligung an der GbR 2. OG berücksichtigt worden sei, obwohl der Verlust bereits in dem festgestellten Gewinn enthalten sei. Das FA sei nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO berechtigt und verpflichtet gewesen, diesen Fehler dadurch zu korrigieren, dass es innerhalb der noch laufenden Festsetzungsfrist den geänderten Einkommensteuerbescheid 2000 vom 31. Oktober 2002 erlassen habe und darin den Verlust in Höhe von 15 069,82 DM nicht mehr neben dem Gewinn in Höhe von 149 151 DM berücksichtigt habe. Dem stehe nicht die Bindungswirkung des Feststellungsbescheids über die Einkünfte aus der GbR 2. OG entgegen. Denn ihm komme keine Bindungswirkung für den Einkommensteuerbescheid zu. Er habe lediglich Bindungswirkung für den Feststellungsbescheid über die Einkünfte aus der RA-Gesellschaft, da die Beteiligung an der GbR 2. OG Sonderbetriebsvermögen des Klägers im Rahmen seiner Beteiligung an der RA-Gesellschaft sei. Das FG-Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2007, 817 veröffentlicht.
Mit der Revision rügen die Kläger die fehlerhafte Anwendung des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO. Der Änderung des Einkommensteuerbescheids vom 15. April 2002 stehe entgegen, dass der zugrunde liegende Feststellungsbescheid über die Einkünfte aus der RA-Gesellschaft nach Ergehen des Einkommensteuerbescheids nicht mehr geändert worden sei. Außerdem liege der Fehler des FA, der zum Anlass für die Änderung des Einkommensteuerbescheids genommen worden sei, außerhalb der Bindungswirkung des Feststellungsbescheids über die Einkünfte aus der RA-Gesellschaft. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO könne auch aus diesem Grund nicht zur Anwendung kommen.
Die Kläger beantragen sinngemäß, die Vorentscheidung sowie die Einspruchsentscheidung vom 29. April 2003 und den geänderten Einkommensteuerbescheid vom 31. Oktober 2002 aufzuheben.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist unbegründet. Zu Recht hat das FG die Befugnis des FA, den Einkommensteuerbescheid 2000 vom 15. April 2002 durch den Bescheid vom 31. Oktober 2002 gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO zu ändern, bejaht.
1. Nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO ist ein Steuerbescheid zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern, soweit ein Grundlagenbescheid (§ 171 Abs. 10 AO), dem Bindungswirkung für diesen Steuerbescheid zukommt, erlassen, aufgehoben oder geändert wird. Diese Voraussetzungen lagen im Streitfall hinsichtlich des Einkommensteuerbescheids vom 15. April 2002 vor.
a) Grundlagenbescheid für die Einkommensteuerveranlagung der Kläger war nur der Feststellungsbescheid vom 6. Februar 2002 über die Einkünfte aus der RA-Gesellschaft, nicht auch der geänderte Feststellungsbescheid vom 18. März 2002. Letzterer war im Vergleich zu Ersterem lediglich wiederholender Natur. Alle für die Einkommensteuerveranlagung der Kläger maßgeblichen Entscheidungen wurden der Sache nach schon in dem Feststellungsbescheid vom 6. Februar 2002 getroffen und sodann in den Feststellungsbescheid vom 18. März 2002 unverändert übernommen (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 13. Dezember 2000 X R 42/96, BFHE 194, 305, BStBl II 2001, 471, m.w.N.).
Der Feststellungsbescheid vom 27. November 2001 über die Einkünfte aus der GbR 2. OG war nicht Grundlagenbescheid für die Einkommensteuerveranlagung der Kläger. Denn die Beteiligung des Klägers an der GbR 2. OG gehörte zu seinem Sonderbetriebsvermögen bei der RA-Gesellschaft, weil die im Eigentum der GbR 2. OG stehende Büroetage der RA-Gesellschaft zur betrieblichen Nutzung überlassen war und so unmittelbar dem Betrieb derRA-Gesellschaft diente (vgl. zum Sonderbetriebsvermögen z.B. BFH-Urteil vom 24. Februar 2005 IV R 23/03, BFHE 209, 269, BStBl II 2005, 578, m.w.N.). Deshalb hat das Betriebsstätten-FA die negativen Einkünfte des Klägers aus seiner Beteiligung an der GbR 2. OG zu Recht bei der Ermittlung seiner Einkünfte aus seiner Beteiligung an der RA-Gesellschaft berücksichtigt.
b) Das FA durfte den Einkommensteuerbescheid vom 15. April 2002 gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO berichtigen, weil die Berücksichtigung der Einkünfte des Klägers aus der Beteiligung an der GbR 2. OG im Widerspruch zu dem Feststellungsbescheid vom 6. Februar 2002 über die Einkünfte aus der RA-Gesellschaft stand.
Nach der Rechtsprechung des BFH ist mit der Bindungswirkung des Grundlagenbescheids jeder Ansatz von Besteuerungsgrundlagen im Folgebescheid unvereinbar, der dem Inhalt des Grundlagenbescheids widerspricht (vgl. BFH-Urteile vom 10. Juni 1999 IV R 25/98, BFHE 188, 548, BStBl II 1999, 545; in BFHE 194, 305, BStBl II 2001, 471, jeweils m.w.N.).
Werden Sonderbetriebsausgaben bei der Einkünfteermittlung im Rahmen der Gewinnfeststellung abgezogen, nehmen sie an der Bindungswirkung der Einkünftefeststellung der Höhe nach in der Weise teil, dass eine nochmalige Berücksichtigung im Folgebescheid mit dem Grundlagenbescheid unvereinbar ist (vgl. BFH-Urteil in BFHE 188, 548, BStBl II 1999, 545).
c) Der Änderung stand nicht entgegen, dass die zutreffende Anpassung an den Feststellungsbescheid vom 6. Februar 2002 bereits in dem Einkommensteuerbescheid 2000 vom 15. April 2002 hätte vorgenommen werden können.
Die Bindungswirkung des Grundlagenbescheids für den Folgebescheid beinhaltet, dass das für den Erlass eines Folgebescheids zuständige FA verpflichtet ist, die zutreffenden Folgerungen aus dem Grundlagenbescheid zu ziehen. Diese Anpassungspflicht wird durch unterlassene, unrichtige oder unvollständige Auswertung der Grundlagenentscheidung im Folgebescheid nicht beseitigt oder "verbraucht". Vielmehr geht sie in diesen Fällen in eine Pflicht zur Richtigstellung durch nachträglichen Erlass eines geänderten Folgebescheids über (z.B. BFH-Urteile vom 9. September 1988 III R 253/84, BFH/NV 1989, 138; vom 17. Februar 1993 II R 15/91, BFH/NV 1994, 1; vom 4. September 1996 XI R 50/96, BFHE 181, 388, BStBl II 1997, 261; in BFHE 194, 305, BStBl II 2001, 471). Die Berichtigungspflicht bleibt solange bestehen, wie der Grundlagenbescheid in dem Folgebescheid noch nicht zutreffend berücksichtigt worden ist, Festsetzungs- oder Feststellungsverjährung noch nicht eingetreten ist und der Steueranspruch noch nicht verwirkt ist (z.B. BFH-Urteile vom 14. April 1988 IV R 219/85, BFHE 153, 285, BStBl II 1988, 711; in BFHE 181, 388, BStBl II 1997, 261, jeweils m.w.N.).
Im Streitfall war eine Festsetzungsverjährung, die dem Erlass des geänderten Einkommensteuerbescheids vom 31. Oktober 2002 hätte entgegenstehen können, noch nicht eingetreten. Die Einkommensteuererklärung 2000 der Kläger war am 4. Dezember 2001 beim FA eingegangen. Die Festsetzungsfrist von vier Jahren (§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO) hatte mithin mit Ablauf des 31. Dezember 2001 zu laufen begonnen (§ 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO) und endete erst mit Ablauf des Jahres 2005.
Umstände, die auf eine Verwirkung der Änderungsmöglichkeit schließen lassen, sind nicht erkennbar. Das bloße Untätigbleiben des FA innerhalb eines Zeitraums von nicht einmal sieben Monaten genügt hierfür nicht. Das BFH-Urteil vom 24. Juni 1988 III R 177/85 (BFH/NV 1989, 351, m.w.N.) hat hierfür einen Zeitraum von sieben Jahren zwischen Erlass des Grundlagenbescheids und des Folgebescheids nicht ausreichen lassen. Abgesehen davon führt Zeitablauf allein ohnehin grundsätzlich nicht zur Verwirkung. Hinzukommen muss in der Regel ein Vertrauenstatbestand und eine Vertrauensfolge (z.B. BFH-Urteil vom 4. November 1992 X R 13/91, BFH/NV 1993, 454, m.w.N.). Anhaltspunkte dafür sind weder vorgetragen worden noch ersichtlich.
2. Da sämtliche Voraussetzungen des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO im Streitfall erfüllt sind, bedarf es keiner Erörterung, ob der Einkommensteuerbescheid 2000 vom 15. April 2002 auch nach § 129 AO wegen Vorliegens einer offenbaren Unrichtigkeit hätte geändert werden können. Die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Einkommensteuerbescheids vom 31. Oktober 2002 wird jedenfalls nicht dadurch berührt, dass das FA in der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung die Vorschrift des § 129 AO als Änderungsgrundlage angegeben hat. Maßgebend ist allein, ob die Änderung tatsächlich zu Recht erfolgt ist (vgl. z.B. BFH-Urteil in BFHE 188, 548, BStBl II 1999, 545, m.w.N.).
Fundstellen
Haufe-Index 1828589 |
BFH/NV 2008, 12 |