Der Erlass eines Folgebescheids ist auch zulässig, wenn gegen den Grundlagenbescheid Einspruch eingelegt und Aussetzung der Vollziehung (§ 361 Abs. 2 AO) erreicht worden ist, die sich dann auch auf den Folgebescheid erstreckt (§ 361 Abs. 3 AO).
Bedeutung der Bindungswirkung
Die Bedeutung der Bindungswirkung ergibt sich in der Besteuerungspraxis aus der Verpflichtung der Finanzverwaltung, den Folgebescheid an den Grundlagenbescheid anzupassen (§ 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO). Mit dieser Vorschrift wird sichergestellt, dass die gesondert festgestellten Besteuerungsgrundlagen im jeweiligen Folgebescheid auch ihren Niederschlag finden. Das FA ist im Rahmen der Festsetzungsfrist (unter Beachtung der besonderen Ablaufhemmung bei Grundlagenbescheiden nach § 171 Abs. 10 AO) zur Anpassung des Folgebescheids an den Grundlagenbescheid verpflichtet, unabhängig davon, ob sich die Änderung zugunsten oder zulasten des Steuerpflichtigen auswirkt.
Beispiel: A betreibt als Freiberufler eine Praxis in Aachen und wohnt in Düren. Das zuständige Finanzamt Aachen-Stadt stellt den Gewinn der Praxis für 2022 mit 150.000 EUR gesondert fest (§ 180 Abs. 1 Nr. 2b AO) und teilt dies dem Wohnsitz-Finanzamt Düren mit. Der Feststellungsbescheid ergeht endgültig ohne Nebenbestimmungen. Bei Erlass des Feststellungsbescheides ist dem Finanzamt Aachen-Stadt ein Fehler unterlaufen, der zutreffende Gewinn beträgt 170.000 EUR.
Der Steuerpflichtige fügt seiner beim Finanzamt Düren abgegebenen Einkommensteuererklärung 2022 seine bereits in Aachen abgegebene Gewinnermittlung nach § 4 Abs. 3 EStG nochmals bei. Der dortige Bearbeiter erkennt den Fehler und berücksichtigt bei der Einkommensteuerfestsetzung 2022 einen Gewinn in Höhe von 170.000 EUR.
Lösung: Der Einkommensteuerbescheid 2022 ist insoweit rechtsfehlerhaft, als er einen Gewinn in Höhe von 170.000 EUR enthält, obwohl durch das Finanzamt Aachen-Stadt lediglich ein Gewinn in Höhe von 150.000 EUR gesondert festgestellt wurde. Das Finanzamt Düren hat als Wohnsitz-Finanzamt bezüglich der gesondert festgestellten Gewinneinkünfte kein eigenes Prüfungsrecht, sondern muss aufgrund der Bindungswirkung an den Feststellungsbescheid (§ 182 Abs. 1 AO) den gesondert festgestellten Gewinn auch dann übernehmen, wenn er in unzutreffender Höhe festgestellt wurde.
Es kann lediglich das Feststellungs–Finanzamt über den Fehler in Kenntnis setzen, das dann prüfen könnte, ob eine eventuelle Änderung des Feststellungsbescheides zu Lasten des Steuerpflichtigen möglich wäre. Ist dies nicht der Fall, bleibt es bei dem zu niedrig festgestellten Gewinn, der zwingend im Rahmen der Einkommensteuerfestsetzung anzusetzen ist.
Der Steuerpflichtige sollte also gegen den Einkommensteuerbescheid 2022 Einspruch einlegen und auf die Bindungswirkung des Feststellungsbescheides hinweisen. Diesem Einspruch wird das Wohnsitz-Finanzmat entsprechen müssen.
Tipp: Antrag auf Bescheidänderung
Steht eine Anpassung des Folgebescheids an den Grundlagenbescheid zugunsten des Steuerpflichtigen an (wenn beispielsweise sich nach einer Außenprüfung bei einer Personengesellschaft der Gewinnanteil des Steuerpflichtigen vermindert hat), sollte die dadurch erforderliche Änderung des Einkommensteuerbescheids zugunsten des Steuerpflichtigen überwacht werden.
Hat das Finanzamt die Bescheidänderung vor Ablauf der nach § 171 Abs. 10 AO gehemmten Festsetzungsfrist noch nicht vorgenommen (was in der Besteuerungspraxis durchaus aufgrund hohen Arbeitsanfalls oder durch schlichtes Vergessen vorkommen kann), sollte ein Antrag auf Bescheidänderung gestellt werden, der wiederum die Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 3 AO auslöst und solange den Eintritt der Festsetzungsfrist verhindert, bis das Finanzamt unanfechtbar über den Antrag entschieden hat.
Augehobener Grundlagenbescheid
Wird der Grundlagenbescheid ersatzlos aufgehoben, muss das für den Folgebescheid zuständige Finanzamt den Sachverhalt, der bisher Gegenstand des Grundlagenbescheids war, in eigener Zuständigkeit ermitteln und steuerrechtlich beurteilen, um aufgrund dessen den Folgebescheid nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO zu ändern (BFH, Urteil v. 14.7.1993, X R 34/90).