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BFH Urteil vom 29.10.1963 - VI 173/62 U

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Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung Einkommensteuer/Lohnsteuer/Kirchensteuer

 

Leitsatz (amtlich)

Lehnt die Oberfinanzdirektion die Aufdeckung eines Fehlers bei der Einkommensteuerveranlagung des Finanzamts gemäß § 222 Abs. 1 Ziff. 4 AO ab, so ist dagegen die Beschwerde an das Finanzministerium des Landes gegeben.

Es ist nicht ohne weiteres ein Fehler im Sinne von § 222 Abs. 1 Ziff. 4 AO, wenn das Finanzamt einen Verlustabzug gemäß § 10 d EStG nicht durchführt, weil der Steuerpflichtige den Verlustabzug nicht beantragt und das Finanzamt die Möglichkeit des Antrags nicht von sich aus geprüft hat.

 

Normenkette

AO § 222 Abs. 1 Nr. 4, §§ 237, 230/1; EStG § 10d

 

Tatbestand

Die beschwerdeführenden Ehegatten (Bf.) sind für das Jahr 1957 entsprechend ihrer Einkommensteuererklärung zunächst mit einem Einkommen von 11.052 DM und dann, weil sich die Unrichtigkeit der Erklärung herausstellte, im Wege der Berichtigungsveranlagung mit einem Einkommen von 14.505 DM veranlagt worden. Im Jahre 1956 hatte der Bf. aus seinem Gewerbebetrieb einen Verlust, den das Finanzamt zwar bei der Festsetzung des Gewerbesteuermeßbetrags 1957, nicht aber bei der Einkommensteuerveranlagung 1957 berücksichtigt hat. In der Einkommensteuererklärung 1957 hatten die Bf. den Verlustabzug auch nicht beantragt.

Auf den Antrag der Bf., die Berichtigungsveranlagung hinsichtlich des Verlustabzugs zu berichtigen und erforderlichenfalls den Fehler durch die Aufsichtsbehörde aufdecken zu lassen, teilte das Finanzamt den Bf. auf Weisung der Oberfinanzdirektion mit, die Aufsichtsbehörde habe einen Fehler nicht festgestellt; demnach könne eine Berichtigung nicht vorgenommen werden.

Die Berufung blieb ohne Erfolg. Auch nach Auffassung des Finanzgerichts liegt, weil die Bf. in der Einkommensteuererklärung keinen Antrag auf Berücksichtigung des Verlustes gestellt hatten, kein Fehler vor. Ob das Finanzamt zu einer Rückfrage verpflichtet gewesen sei, könne dahingestellt bleiben; denn jedenfalls hätten die Bf., die schon bei der Abgabe ihrer Steuererklärungen von einem Steuerberater beraten gewesen seien, die Einkommensteuerbescheide, und zwar sowohl den ursprünglichen als auch den berichtigten, anfechten können, vor allem, weil sie durch die Berücksichtigung des Verlustes bei der Feststellung des Gewerbesteuermeßbetrags auf das Fehlen des Verlustabzugs bei der Festsetzung der Einkommensteuer hätten aufmerksam geworden sein müssen.

Mit ihrer Rb. rügen die Bf. unrichtige Anwendung des bestehenden Rechts. Nach ihrer Auffassung verstößt es gegen die dem Finanzamt obliegende Ermittlungspflicht und gegen Treu und Glauben, wenn das Finanzamt sie, obwohl ihm das Fehlen des Antrags wegen der Berücksichtigung bei der Feststellung des Gewerbesteuermeßbetrags hätte auffallen müssen, nicht auf den fehlenden Antrag hingewiesen habe und sich jetzt gegenüber ihrem Berichtigungsantrag darauf berufe, daß sie die Veranlagungen hätten anfechten müssen.

 

Entscheidungsgründe

Die Rb. mußte zur Aufhebung der Vorentscheidung führen.

Wenn die Bf. eine Berichtigung ihrer Einkommensteuerveranlagung über eine Fehleraufdeckung durch die Oberfinanzdirektion gemäß § 222 Abs. 1 Ziff. 4 AO anstrebten, so war die ihnen durch das Finanzamt mitgeteilte Ablehnung der Oberfinanzdirektion eine Verfügung, die nicht mit dem Einspruch, sondern mit der Beschwerde angreifbar war (Urteil des Bundesfinanzhofs III 241/59 U vom 17. November 1961, BStBl 1962 III S. 72, Slg. Bd. 74 S. 190; Gutachten des Großen Senats Gr.S. D 1/51 S vom 17. April 1951, BStBl 1951 III S. 107, Slg. Bd. 55 S. 277; jetzt § 237 AO), Das Finanzamt hätte das von den Bf. gegen die Ablehnung ihres Antrags durch die Oberfinanzdirektion eingelegte Rechtsmittel bei sinngemäßer Auslegung als Beschwerde behandeln und dem Finanzministerium des Landes vorlegen müssen, bevor die Frage vor die Steuergerichte gebracht werden konnte.

Das angefochtene Urteil war danach aufzuheben, weil das Finanzgericht erst zur Entscheidung berufen war nachdem zuvor das Finanzministerium des Landes über die Beschwerde des Steuerpflichtigen hinsichtlich der Fehleraufdeckung befunden hatte. Die nicht spruchreife Sache wird an das Finanzamt zurückverwiesen, damit dieses die Sache der der Oberfinanzdirektion übergeordneten Behörde zur Entscheidung vorlegt.

Zur sachlichen Beurteilung sei, ohne der Beschwerdeentscheidung des Ministeriums vorzugreifen, aus Gründen der Prozeßökonomie allgemein bemerkt: Die Vergünstigung des § 10 d EStG ist, wie das Finanzgericht zutreffend ausgeführt hat, anders als die Kürzung um den Gewerbeverlust nach § 10 a GewStG nicht von Amts wegen, sondern nur auf Antrag zu berücksichtigen. Trotzdem hat das Finanzamt, wenn es erkennt, daß ein Steuerpflichtiger von seinem Antragsrecht versehentlich keinen Gebrauch gemacht hat, grundsätzlich den Steuerpflichtigen auf die ihm zustehende Möglichkeit hinzuweisen, zumal es, wie die Bf. mit Recht hervorheben, kaum einzusehen ist, warum ein Steuerpflichtiger die Vergünstigung des § 10 d EStG nicht ausnutzen sollte. Das gilt aber nur, wenn das Finanzamt die Nichtinanspruchnahme der Vergünstigung durch den Steuerpflichtigen erkannt hat. Es ist nicht etwa verpflichtet, bei jeder Veranlagung zu untersuchen, ob der Steuerpflichtige auch alle ihm zustehenden Vergünstigungsmöglichkeiten tatsächlich ausgeschöpft hat. Wenn das Gesetz eine Vergünstigung von einem Antrag des Steuerpflichtigen abhängig macht, so kommt damit zum Ausdruck, daß der Gesetzgeber es zunächst als Sache des Steuerpflichtigen betrachtet, sich um die Vergünstigung zu bemühen (vgl. auch das Urteil des Senats VI 175/59 U vom 22. Januar 1960, BStBl 1960 III S. 178, Slg. Bd. 70 S. 474). Der von der Finanzverwaltung ausgegebene Erklärungsvordruck enthält übrigens einen Hinweis auf die Vergünstigung (Antragsmöglichkeit). Unter diesen Umständen kann man es einem Finanzamt im allgemeinen nicht vorwerfen und es als Fehler im Sinne von § 222 Abs. 1 Ziff. 4 AO werten, wenn es, sofern ein Steuerpflichtiger - zumal ein durch einen Steuerberater vertretener - die Frage nach dem Verlustabzugs in der Steuererklärung offengelassen oder gar gestrichen hat, es übersieht, daß der Steuerpflichtige in den Vorjahren einen Verlust gehabt hatte. Anders kann es dagegen liegen, wenn das Finanzamt, obgleich der Steuerpflichtige keinen Antrag gestellt hatte, auf den Verlust und damit auf die Nichtausnutzung der Vergünstigung des § 10 d EStG aufmerksam geworden ist, weil es, wie es im Streitfall geschehen sein kann, die Einkommensteuerveranlagung und die Festsetzung des Gewerbesteuermeßbetrags in einem Arbeitsgang durchgeführt und also in einem Zuge bei der Gewerbesteuer den Verlust berücksichtigt, ihn aber bei der Einkommensteuer wegen des Fehlens des Antrags bewußt nicht angesetzt hat.

 

Fundstellen

Haufe-Index 411003

BStBl III 1964, 52

BFHE 1964, 132

BFHE 78, 132

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