Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Rechtsirrtum über Antragsfrist nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG
Leitsatz (NV)
1. Wegen unverschuldeten Rechtsirrtums über die Frist für den Antrag auf Veranlagung gemäß § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG kann Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 110 AO 1977 zu gewähren sein.
2. Der in der Aufforderung des Finanzamts zur Abgabe der Steuererklärung enthaltene Hinweis auf die Ausschlussfrist für Antragsveranlagungen begründet keinen schuldhaften Rechtsirrtum, wenn der Steuerpflichtige irrtümlich annimmt, wie in den Vorjahren zur Abgabe der Einkommensteuererklärung verpflichtet zu sein.
3. Ein die Wiedereinsetzung ausschließendes Verschulden ergibt sich auch dann nicht aus der Unkenntnis des Steuerpflichtigen vom Unterschied zwischen Amts- und Antragsveranlagung, wenn dieser die Anleitung zur Einkommensteuererklärung erhalten hat.
Normenkette
EStG § 46 Abs. 2 Nr. 8 S. 2; AO 1977 § 110
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) erzielte im Streitjahr (1999) Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, von denen ein Steuerabzug vorgenommen wurde. Nachdem die Klägerin in den Vorjahren jeweils von Amts wegen zur Einkommensteuer veranlagt worden war, forderte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) sie mit Schreiben vom 2. Oktober 2000 auf, bis zum 1. November 2000 die Einkommensteuererklärung für das Streitjahr einzureichen. Das Schreiben enthielt den Hinweis: "Sofern es sich bei der angeforderten Erklärung um eine Antragsveranlagung zur Einkommensteuer nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG handeln sollte, gilt dieses Schreiben nicht als Fristverlängerung über die dort genannte Ausschlussfrist hinaus." Die Klägerin beantragte Fristverlängerung für die Abgabe der Steuererklärung, die ihr nach einem Bearbeitungsvermerk des FA bis zum 30. Dezember 2000 gewährt wurde. Mit Schreiben vom 2. November 2001 übersandte ihr das FA eine "Zweite Erinnerung an die Abgabe der Steuererklärung(en)" für Einkommensteuer 1999 mit einer Frist bis zum 19. November 2001. In der beim FA für die Klägerin geführten Einkommensteuerakte ist dieses Datum gestrichen und handschriftlich durch "30.12.01" ersetzt.
Die Einkommensteuererklärung der Klägerin für das Streitjahr ging am 29. Januar 2002 beim FA ein. In dem der Steuererklärung beigefügten Anschreiben nahm die Klägerin auf eine "telefonische Fristverlängerung vom 20.12.2001" Bezug. Das FA lehnte den Antrag auf Veranlagung ab. Mit ihrem Einspruch trug die Klägerin insbesondere vor, ihr sei am 20. Dezember 2001 telefonisch eine weitere Fristverlängerung bis Ende Januar 2002 gewährt worden. Das FA sei nach der Mahnung zur Abgabe der Einkommensteuererklärung aber auch unabhängig von der Fristverlängerung verpflichtet, die Veranlagung durchzuführen. Der Einspruch blieb ohne Erfolg.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2005, 1738 veröffentlichten Gründen ab. Der Klägerin sei wegen schuldhafter Versäumung der Ausschlussfrist gemäß § 46 Abs. 2 Nr. 8 des Einkommensteuergesetzes (EStG) keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Beruhe die Fristversäumnis auf einem Rechtsirrtum des Steuerpflichtigen über die Frist als solche, so liege regelmäßig kein unverschuldeter Wiedereinsetzungsgrund vor, da es sich um einen Irrtum über das materielle Recht handele. Die Klägerin müsse sich schuldhaftes Verhalten vorwerfen lassen, da sie dem Hinweis auf die Ausschlussfrist in dem Aufforderungsschreiben des FA vom 2. Oktober 2000 nicht weiter nachgegangen sei. Etwas Anderes könne nur gelten, wenn der Rechtsirrtum erst durch das Verhalten des FA hervorgerufen oder die Klägerin in dem Irrtum bestärkt worden sei. Dies sei jedoch nicht der Fall.
Mit der Revision rügt die Klägerin Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das FG habe der Klägerin die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu Unrecht versagt. Selbst wenn ihr Inhalt und Folgen des § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG bekannt gewesen wären, wäre sie von einer Erklärungspflicht ausgegangen. Der Klägerin sei nicht bekannt gewesen, aus welchen Gründen das FA sie zur Abgabe der Einkommensteuererklärung aufgefordert habe. Durch das Aufforderungs- und das Erinnerungsschreiben habe das FA einen Vertrauenstatbestand geschaffen, der für eine Erklärungspflicht der Klägerin spreche.
Die Klägerin beantragt, das angefochtene Urteil sowie den Bescheid vom 21. März 2002 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 15. Mai 2002 aufzuheben und das FA zu verpflichten, sie für den Veranlagungszeitraum 1999 zur Einkommensteuer zu veranlagen.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und der Klage stattzugeben (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Entgegen der Ansicht der Vorinstanz ist die Klägerin zur Einkommensteuer für 1999 zu veranlagen.
1. Besteht das Einkommen ganz oder teilweise aus Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit, von denen ein Steuerabzug vorgenommen worden ist, wird eine Veranlagung nur unter den in § 46 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 8 EStG genannten Voraussetzungen durchgeführt. Nach der im Streitfall allein in Betracht kommenden Vorschrift des § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG wird die Veranlagung durchgeführt, wenn sie beantragt wird. Der Antrag ist gemäß § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG bis zum Ablauf des auf den Veranlagungszeitraum folgenden zweiten Kalenderjahrs durch Abgabe einer Einkommensteuererklärung zu stellen.
Im Streitfall hat die Klägerin innerhalb der Antragsfrist des § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG, die mit Ablauf des Jahres 2001 endete, keinen Antrag auf Veranlagung gestellt. Die Einkommensteuererklärung für das Streitjahr ging dem FA erst am 29. Januar 2001 zu. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) führte auch die Aufforderung zur Abgabe der Steuererklärung nicht zu einer Verlängerung der Antragsfrist des § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG (vgl. Urteile vom 22. Mai 2006 VI R 51/04, BFH/NV 2006, 1982; vom 14. März 1989 I R 77/85, BFH/NV 1991, 311; vom 8. Mai 1979 VIII R 78/77, BFHE 128, 210, BStBl II 1979, 676).
2. Der Klägerin ist wegen Versäumung der Antragsfrist jedoch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
a) Die Antragsfrist des § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG ist eine Ausschlussfrist, bei deren Versäumung nach § 110 der Abgabenordnung (AO 1977) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden kann (BFH-Urteil in BFH/NV 2006, 1982, m.w.N.).
Gemäß § 110 Abs. 1 AO 1977 ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. "Ohne Verschulden" verhindert, eine gesetzliche Frist einzuhalten, ist jemand dann, wenn er die für einen gewissenhaft und sachgemäß handelnden Verfahrensbeteiligten gebotene und ihm nach den Umständen zumutbare Sorgfalt beachtet hat (vgl. BFH-Urteile vom 9. August 2000 I R 33/99, BFH/NV 2001, 410; vom 4. März 1998 XI R 44/97, BFH/NV 1998, 1056; vom 11. August 1993 II R 6/91, BFH/NV 1994, 440). Wegen unverschuldeten Rechtsirrtums kann nach ständiger Rechtsprechung des BFH Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden, wenn sich der Irrtum auf die Frist selbst oder die Form der Fristwahrung bezieht. Irrtümer über das Wesen einer Ausschlussfrist oder über materielles Recht begründen dagegen eine Wiedereinsetzung grundsätzlich nicht; denn in diesen Fällen kann dem Steuerpflichtigen oder seinem Berater zugemutet werden, von den Verfahrensrechten in der gebotenen Weise Gebrauch zu machen bzw. sich hierüber zu informieren (BFH-Urteile in BFH/NV 2006, 1982, m.w.N.; vom 27. August 1998 III R 47/95, BFHE 187, 134, BStBl II 1999, 65; vom 3. Juli 1986 IV R 133/84, BFH/NV 1986, 717; Beschluss vom 8. Mai 1996 X B 166/95, BFH/NV 1996, 771). Zur Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes dürfen die Anforderungen an das Vorliegen der Voraussetzungen für die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach den hierfür maßgeblichen Vorschriften nicht überspannt werden. Im Zweifel verdient diejenige Interpretation eines Gesetzes den Vorzug, die eine Entscheidung über die materielle Rechtslage ermöglicht und nicht verhindert (vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 2. September 2002 1 BvR 476/01, BStBl II 2002, 835, m.w.N.).
b) Nach diesen Grundsätzen hat das FG zu Unrecht keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt. Ob der Steuerpflichtige unter den gegebenen Umständen ohne Verschulden gehandelt hat, ist zwar im Wesentlichen Tatfrage. Im Streitfall hat das FG jedoch die rechtlichen Maßstäbe verkannt, die nach der Rechtsprechung des BFH bei der Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zugrunde zu legen sind. Das FG hat rechtsfehlerhaft entschieden, die Unkenntnis der Klägerin von der Ausschlussfrist sei ein Irrtum über das materielle Recht. Dies entspricht nicht der Rechtsprechung des BFH, nach der Irrtümer über die Frist selbst --wie zuvor dargelegt wurde-- gerade nicht als Irrtümer über das materielle Recht angesehen werden. Aus dem von der Vorinstanz für ihre Meinung herangezogenen BFH-Beschluss in BFH/NV 1996, 771 ergibt sich nichts Anderes.
Der Klägerin war nach ihrem --vom FA nicht bestrittenen-- Vortrag die Antragsfrist des § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG unbekannt. Hiervon geht das FG ebenfalls aus. Die Klägerin nahm an, die Veranlagung für das Streitjahr müsse auch aufgrund ihrer erst nach Ablauf des Jahres 2001 abgegebenen Einkommensteuererklärung noch durchgeführt werden. Damit befand sie sich in einem Irrtum über die Frist selbst.
Die Klägerin hat die Antragsfrist ohne Verschulden versäumt. Diese Würdigung kann der Senat auf der Grundlage der insoweit ausreichenden, tatsächlichen Feststellungen des FG selbst vornehmen (vgl. BFH-Urteil vom 16. September 2004 IV R 62/02, BFHE 207, 269, BStBl II 2005, 75; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 118 Rz. 57). Da die Klägerin in dem Irrtum befangen war, sie sei für das Streitjahr --ebenso wie schon für die Vorjahre-- zur Einkommensteuer zu veranlagen, kommt es entgegen der Auffassung des FG für die Frage des Verschuldens nicht darauf an, ob in der Anleitung zur Einkommensteuererklärung auf die Fristgebundenheit der Antragsveranlagung hingewiesen wurde. Die Klägerin hatte deshalb auch keinen Anlass, hinsichtlich der Antragsfrist beim FA nachzufragen oder sonst eine Klärung zum Ablauf der Antragsfrist herbeizuführen. Dies gilt entgegen der Ansicht des FG auch in Ansehung des Schreibens des FA vom 2. Oktober 2000. Zwar hat das FA in diesem Schreiben darauf hingewiesen, die Aufforderung zur Abgabe der Steuererklärung gelte im Falle einer Antragsveranlagung nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG nicht als Fristverlängerung über die dort genannte Ausschlussfrist hinaus. Die Bedeutung dieses Hinweises hätte sich der Klägerin jedoch nur dann erschließen müssen, wenn ihr bekannt war oder zumindest hätte bekannt sein müssen, dass bei ihr nur eine Antragsveranlagung in Betracht kommen würde. Dies war indessen nicht der Fall. Die Klägerin war vielmehr gerade irrtümlich der Meinung, sie sei zur Abgabe der Einkommensteuererklärung verpflichtet, weil sie nicht nur auf Antrag zu veranlagen sei.
Ein Verschulden der Klägerin ergibt sich letztlich auch nicht aus ihrer Unkenntnis vom Unterschied zwischen Amts- und Antragsveranlagung. Zwar wird in der Anleitung zur Einkommensteuererklärung zwischen der "Erklärungspflicht" und dem "Antrag auf Einkommensteuerveranlagung" unterschieden. In der Anleitung sind jedoch lediglich einige, nicht abschließende Beispiele aufgeführt, in denen ein Arbeitnehmer "zur Abgabe der Einkommensteuererklärung verpflichtet" ist bzw. "sich ein Antrag auf Einkommensteuerveranlagung insbesondere lohnen" kann oder "auf Antrag eine Einkommensteuerveranlagung z.B. durchgeführt" wird. Ob die Klägerin von Amts wegen oder nur auf Antrag zur Einkommensteuer zu veranlagen war, konnte die Klägerin aus der Anleitung damit nicht so sicher entnehmen, dass ihr hinsichtlich ihrer Unkenntnis ein Verschuldensvorwurf gemacht werden kann. Bei dieser Sachlage kann dahinstehen, ob die von der Klägerin gerügte Feststellung des FG, ihr seien die Merkblätter zusammen mit den Erklärungsvordrucken anlässlich der Amtsveranlagungen der vorangegangenen Jahre zugesandt worden, verfahrensfehlerfrei zustande gekommen ist.
3. Das FG hat im Ergebnis folglich zu Unrecht erkannt, die Klägerin sei für das Streitjahr nicht zur Einkommensteuer zu veranlagen. Das FA ist vielmehr verpflichtet, die Veranlagung durchzuführen.
Fundstellen
Haufe-Index 1707911 |
BFH/NV 2007, 861 |