Entscheidungsstichwort (Thema)

Erfordernisse der Ermessensentscheidung über Zollnachforderung

 

Leitsatz (NV)

1. Zu den Anforderungen an die Ermessensentscheidung über die Aufhebung oder Änderung eines Zollbescheids zum Nachteil des Steuerpflichtigen.

2. Die Ermessensentscheidung (1.) ist in der Regel ausreichend begründet, wenn sich aus ihr ergibt, daß der nachgeforderte Betrag geschuldet wird und daß keine besonderen Gründe gegeben sind, die der Nachforderung entgegenstehen; dies gilt grundsätzlich auch, wenn der ursprüngliche Bescheid nach nicht nur summarischer Prüfung erlassen worden ist.

 

Normenkette

AO 1977 § 172 Abs. 1 Nr. 1, §§ 85, 5; FGO § 102; GZT Tarifst. 62.02 B IV

 

Tatbestand

Die Klägerin ließ am 18. Juni 1980 bei einer Dienststelle des Hauptzollamts - HZA - zur Aufnahme von Blumentöpfen bestimmte Jute-Hänger aus Thailand zum freien Verkehr abfertigen. Die Waren wurden in Übereinstimmung mit der Anmeldung und einer einem Dritten erteilten verbindlichen Zolltarifauskunft (vZTA) der Tarifstelle 59.05 B II des Gemeinsamen Zolltarifs (GZT) - Netze aus anderen Spinnstoffen - zugewiesen. Nach Aufhebung der vZTA und Neuzuordnung entsprechender Waren zu Tarifstelle 62.02 B IV c - Gegenstände zur Innenausstattung - durch die zuständige Oberfinanzdirektion - am 10. September 1980 - forderte das HZA unter Zugrundelegung der geänderten Tarifauffassung von der Klägerin Eingangsabgaben nach. Der Änderungsbescheid vom 12. Dezember 1980 wurde in dem von der Klägerin nach erfolglosem Einspruch angestrengten Klageverfahren durch einen neuen - zum Gegenstand des Verfahrens gemachten - Bescheid (vom 14. Mai 1984) ersetzt, den das HZA - bei gleichgebliebenem Inhalt im übrigen - auf § 172 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) stützte. Zur Begründung führte das HZA aus, die nach dieser Vorschrift im öffentlichen Interesse mögliche Prüfung auf Rechtsrichtigkeit bei summarisch ergehenden Bescheiden sei hier veranlaßt, die Korrektur aus Gründen der Rechtssicherheit erforderlich; der Gesichtspunkt von Treu und Glauben stehe der Nachforderung nicht entgegen, weil die Klägerin es unterlassen habe, für die eingeführten Waren eine vZTA zu beantragen.

Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt und hob den Änderungsbescheid ,,vom 12. Dezember 1980 in der Fassung vom 14. Mai 1984" und die Einspruchsentscheidung mit der Begründung auf, der Nachforderungsbescheid sei rechtswidrig, da er Ermessensfehler in Form der Ermessensunterschreitung enthalte. Die vom HZA angeführte Erwägung treffe regelmäßig für die an der Grenze schnell zu erledigenden Abfertigungen zu und sei die Begründung für die einschränkungslose Änderungsbefugnis nach § 172 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 bei Zöllen und Verbrauchsteuern. Hier sei aber keine Zollbehandlung gegeben, die unter Zeitdruck versehentlich zustande gekommen sei. Das HZA habe entsprechend der aufgehobenen vZTA bereits bei anderen Einfuhren und in zwei vorangegangenen Rechtsbehelfsverfahren der Klägerin tarifiert. Die Klägerin, der die vZTA bekannt gewesen sei, habe keine Veranlassung gehabt, ihrerseits für die gleiche Ware eine vZTA einzuholen. Das HZA hätte auch unter Ermessensgesichtspunkten prüfen müssen, ob eine rückwirkende Anwendung der geänderten Tarifauffassung im Falle der Klägerin angemessen gewesen sei. Das HZA sei als nicht an die vZTA gebundene Zollstelle nicht zur Änderung verpflichtet gewesen. Durch Anwendung der vZTA habe die Klägerin - wenn auch abgeschwächt - eine Vertrauensposition erlangt. Unter Beachtung dieser Gesichtspunkte hätte das HZA seine Ermessensentscheidung treffen müssen. Die üblichen und standardisierten Ermessensklauseln, wie sie im Änderungsbescheid enthalten seien, paßten nicht und reichten nicht aus. Über die Tarifierung brauche nicht mehr entschieden zu werden. Mittlerweile sei die Rechtslage ohnehin durch eine Tarifierungsverordnung der Kommission der Europäischen Gemeinschaften geklärt; diese gebe die bereits zuvor geltende Tarifauffassung der Gemeinschaft wieder.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des HZA, das ausführt, wie nach früherem Recht sei die Verwaltung verpflichtet, zu Unrecht zu niedrig festgesetzte oder gar nicht erhobene Zölle nachzufordern, sofern dem nicht der Rechtsgedanke von Treu und Glauben entgegenstehe. Letzteres treffe hier nicht zu, weil die Klägerin es unterlassen habe, für die eingeführte Ware eine vZTA zu beantragen. Nur ganz ausnahmsweise könne ein zwingendes Schutzbedürfnis des Steuerpflichtigen, der eine vZTA nicht eingeholt habe, in Betracht kommen. Im Streitfalle seien für eine derartige Ausnahme keine hinreichenden Anhaltspunkte ersichtlich.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und, da der Senat durcherkennen kann (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -), zur Abweisung der Klage, die als gegen den Bescheid vom 14. Mai 1984 gerichtet anzusehen ist.

Die von der Klägerin eingeführten Jute-Hänger waren der Tarifstelle 62.02 B IV c GZT (,,andere" Gegenstände zur Innenausstattung, aus ,,anderen" Spinnstoffen) zuzuweisen. Nach der am 23. März 1984 in Kraft getretenen Verordnung (EWG) Nr. 555/84 der Kommission vom 29. Februar 1984 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften - ABlEG - L 61/18) - vgl. Erläuterungen zum Zolltarif zu 62.02 Teil III Rdziff. 8 - gehören zu Tarifstelle 62.02 B IV Waren, in Makrameespitzentechnik aus Garnen, Bindfäden, Seilen oder Tauen handgeknüpft, die als Aufhängevorrichtungen für Blumentöpfe hauptsächlich zur Innenausstattung verwendet werden. Wie der Vorentscheidung entnommen werden kann, trifft diese Warenbeschreibung auf die eingeführten Jute-Hänger zu. Bedenken gegen die Rechtsgültigkeit dieser Einreihungsverordnung sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Insbesondere ist nicht erkennbar, daß sich die Verordnung nicht im Rahmen der ihr zugrunde liegenden gemeinschaftsrechtlichen Ermächtigungsnorm hielte oder daß sie gegen höherrangiges Zolltarifrecht verstieße (zu den Erfordernissen der Gültigkeit einer Einreihungsverordnung Senat, Urteil vom 30. April 1987 VII K 2/86, BHFE 150, 227, 229 f). Da die in Betracht kommenden Tarifvorschriften - insbesondere Tarifstelle 62.02 B IV - im maßgebenden Zeitpunkt denselben Wortlaut wie im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Einreihungsverordnung hatten, bestehen auch keine Bedenken, die der Verordnung zugrunde liegende Tarifauffassung auf die Einfuhr der Jute-Hänger anzuwenden (vgl. hierzu Lux in Bail/Schädel/Hutter, Zollrecht, F II 1 Rz. 174). Darüber, daß bei Anwendung der Tarifstelle 62.02 B IV c Eingangsabgaben in einer Höhe anfallen, die die angefochtene Nachforderung rechtfertigen würde, besteht zwischen den Parteien kein Streit. Umstritten ist allein die Frage, ob der angefochtene Bescheid unter Berücksichtigung der im übrigen zu seiner Begründung angeführten Erwägungen rechtmäßig ist. Diese Frage ist im Gegensatz zur Auffassung der Vorinstanz zu bejahen.

Rechtsgrundlage des angefochtenen Bescheids ist § 172 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977. Die Verordnung (EWG) Nr. 1697/79 des Rates vom 24. Juli 1979 betreffend die Nacherhebung . . . (ABlEG L 197/1) - insbesondere Art. 2 (Verpflichtung zur Nacherhebung nicht angeforderter Eingangsabgaben) - war noch nicht anwendbar, weil bereits vor ihrem Inkrafttreten am 1. Juli 1980 die Abgaben buchmäßig erfaßt worden waren (vgl. Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom 12. November 1981 Rs. 212-217/80, EuGHE 1981, 2735, 2750). Hiervon ist - zutreffend - auch das FG ausgegangen. Richtig ist auch seine Annahme, daß § 172 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 eine Ermessensvorschrift ist (ebenso Senat, Urteile vom 31. März 1981 VII R 1/79, BFHE 133, 13, BStBl II 1981, 507, und vom 22. März 1988 VII R 8/84, BFHE 152, 430, 436, BStBl II 1988, 517). Dagegen kann der Vorinstanz nicht darin gefolgt werden, daß der angefochtene Bescheid im Hinblick auf die dazu gegebene Begründung einen Ermessensfehler in Gestalt der Ermessensunterschreitung aufweise.

§ 172 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 (,,darf . . . geändert werden") hat § 94 Abs. 1 Nr. 1 der Reichsabgabenordnung - AO - (,,kann . . . ändern") abgelöst und läßt wie diese Vorschrift die Aufhebung und Änderung fehlerhafter Zoll- und Verbrauchsteuerbescheide zu (vgl. auch Begründung zu § 153 des Regierungsentwurfs, BTDrucks VI/1982 S. 152), ohne daß die Änderungsbefugnis von besonderen Voraussetzungen abhängig wäre (Senat, Urteil vom 12. Mai 1987 VII R 115/84, BFH/NV 1988, 137; vgl. auch Förster in Koch, Abgabenordnung 1977, 3. Aufl., § 172 Rdnr. 11). Zu § 94 Abs. 1 Nr. 1 AO hat der Senat in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß die Finanzbehörde grundsätzlich zur Nachforderung verpflichtet ist, vorbehaltlich der durch den Grundsatz von Treu und Glauben gezogenen Grenzen (zuletzt Urteil vom 12. März 1985 VII R 91/82, BFH/NV 1986, 1 mit Nachweisen). Diese Rechtsprechung beruhte auf der Auffassung, daß das Berichtigungsermessen nach § 94 Abs. 1 Nr. 1 AO durch den dem § 223 AO zu entnehmenden Gesetzesbefehl zur Nacherhebung unerhoben gebliebener Eingangsabgaben eingeschränkt war. Obgleich eine dem § 223 AO genau entsprechende Vorschrift in der AO 1977 fehlt, sind die Grundsätze der vorbezeichneten Rechtsprechung auch bei einer auf § 172 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 gestützten, zuungunsten des Steuerpflichtigen erfolgenden Aufhebung oder Änderung von Zoll- und Verbrauchsteuerbescheiden maßgebend. Dies folgt aus der Aufgabennorm in § 85 AO 1977, nach der die Finanzbehörden die Steuern nach Maßgabe der Gesetze gleichmäßig festzusetzen und zu erheben haben, wozu auch gehört, die gesetzlich geschuldeten Steuern geltend zu machen (vgl. Helsper in Koch, a.a.O., § 85 Rdnr. 6). Diese Aufgabe erfordert es, ganz oder teilweise nicht erhobene Eingangsabgaben innerhalb der Festsetzungsfrist nachzuerheben, soweit dies nicht gegen Treu und Glauben verstößt. Wird davon bei der Nachforderung von Eingangsabgaben nach § 172 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 ausgegangen, so werden die gesetzlichen Grenzen des Ermessens (vgl. § 5 AO 1977) nicht überschritten. Ein nach § 102 FGO gerichtlich nachprüfbarer Ermessensfehler liegt damit grundsätzlich nicht vor, wenn sich aus der Begründung des angefochtenen Bescheids ergibt, daß die Abgaben geschuldet werden und daß keine besonderen Gründe gegeben sind, die der Nachforderung entgegenstehen.

Diesen Anforderungen wird der angefochtene Bescheid gerecht. Besondere Umstände, die weitere als die angeführten Erwägungen erforderlich gemacht haben könnten, lagen entgegen der Ansicht des FG nicht vor.

Das FG folgert offenbar aus dem Zweck des § 172 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977, wenn die Zollbehandlung nicht ,,unter Zeitdruck . . . versehentlich" erfolgt sei, müsse eine spätere Nachforderung zusätzlich begründet sein, solle sie der gerichtlichen Ermessenskontrolle standhalten. Richtig ist, daß § 172 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 (wie die Vorgängervorschrift) in der Tat bezweckt, im öffentlichen Interesse die Überprüfung und Korrektur solcher Bescheide zu ermöglichen, die unter Zeitdruck, nur summarisch geprüft, ergehen (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, 12. Aufl., § 172 AO 1977 Tz. 4; Senat in BFH/NV 1988, 137; siehe auch Bundesfinanzhof, Beschluß vom 16. Oktober 1986 V B 64/86, BFHE 148, 10, 12, BStBl II 1987, 95). Dieses Motiv hat aber in den Tatbestand keinen Eingang gefunden. Die einschränkungslose Änderungsbefugnis besteht auch, wenn der später geänderte oder aufgehobene Zoll- oder Verbrauchsteuerbescheid nach einer nicht nur summarischen Prüfung ergangen ist. Ein solcher Bescheid kann grundsätzlich sogar noch nach einer für den Steuerpflichtigen günstigen Einspruchsentscheidung zu dessen Nachteil geändert werden (so - zu § 172 Abs. 1 Satz 2, Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO 1977 - Senat in BFHE 152, 430, BStBl II 1988, 517). Aus der auch in derartigen Fällen bestehenden freien Änderungsmöglichkeit folgt, daß eine besondere Begründung nicht schon deshalb erforderlich ist, weil der ursprüngliche Bescheid, wie das FG hier anzunehmen scheint, nach gründlicherer Prüfung der Sach- und Rechtslage - hier: in Anwendung einer der Klägerin bekannten, jedoch nicht ihr erteilten vZTA - erlassen worden ist.

Fehl geht auch die Ansicht der Vorinstanz, die Klägerin habe durch die später aufgehobene vZTA ,,eine dem § 23 Zollgesetz ähnliche, wenn auch abgeschwächte Vertrauensposition erlangt", die es erforderlich gemacht hätte, unter Ermessensgesichtspunkten zu prüfen, ob die Tarifierungsänderung im Falle der Klägerin rückwirkend habe berücksichtigt werden dürfen. Die vZTA begünstigt nur den Antragsteller, dem sie erteilt worden ist, Dritte können sich auf sie nicht berufen, auch nicht in dem Sinne, daß sie eine ,,abgeschwächte Vertrauensposition" geltend machen. Für die Annahme des FG gibt es keine Rechtsgrundlage. Wenn das FG meint, das HZA sei (als nicht gebundene Zollstelle) nicht zur rückwirkenden Änderung im Sinne der geänderten Tarifauffassung - der neuen vZTA - verpflichtet gewesen, so verwechselt es Ursache und Wirkung. Die vZTA wurde aufgehoben und durch eine neue ersetzt, weil die Verwaltung zu einer anderen - richtigen - Tarifauffassung gelangt war; nicht aber ergab sich die richtige Tarifierung erst aus der neuen, nur zugunsten des Antragstellers wirkenden vZTA. An einer später als unrichtig erkannten Rechtsauffassung darf die Finanzbehörde nicht aus dem Grunde festgehalten werden, weil sich diese Auffassung in einer vZTA niedergeschlagen hatte, die nicht dem Steuerpflichtigen, sondern einem Dritten erteilt worden war. Zieht sie später gegenüber dem Steuerpflichtigen die gebotenen abgabenrechtlichen Folgerungen und fordert sie unerhoben gebliebene Eingangsabgaben nach, so verhält sie sich im Rahmen des ihr zustehenden Ermessens, braucht sie die Ermessensübung nicht mit Rücksicht darauf, daß sie früher entsprechend der vZTA tarifiert hatte, besonders zu begründen.

Gründe, aus denen die angefochtene Nachforderung wegen Verstoßes gegen Treu und Glauben ermessensfehlerhaft sein könnte, sind nicht ersichtlich. Der Klägerin stand es frei, sich für ihre Einfuhren den Schutz einer vZTA zu verschaffen; daß sie das nicht getan hat, geht zu ihren Lasten. Den Ausführungen in der Vorentscheidung über frühere Abfertigungen und Rechtsbehelfsverfahren, bei denen die später aufgegebene Tarifauffassung zugrunde gelegt worden sei, kann nicht entnommen werden, daß das HZA gegenüber der Klägerin nachhaltig so vorgegangen war, daß diese auf eine entsprechende künftige Verfahrensweise vertrauen durfte (vgl. zum Vertrauenstatbestand Senat, Urteil vom 5. Februar 1980 VII R 101/77, BFHE 130, 90, 95).

 

Fundstellen

Haufe-Index 415982

BFH/NV 1989, 335

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