Entscheidungsstichwort (Thema)
unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge. Eilkompetenz. Staatsanwaltschaft. Ermittlungsrichter. Unzutreffende richterliche Kompetenzausübung. Aktenkenntnis. Beweismittel. Beweismittelverlust. Verteidigerkonsultation. Beschuldigtenvernehmung. Anwaltsnotdienst
Leitsatz (redaktionell)
1. Die rechtmäßige Inanspruchnahme der Eilkompetenz der Staatsanwaltschaft liegt jedenfalls dann vor, wenn der zuständige Ermittlungsrichter meint, ohne Aktenkenntnis nicht, auch nicht mündlich entscheiden zu können, und der Verlust des Beweismittels zeitnah droht. Einer Verhinderung von Beweismittelverlusten durch Wahrnehmung der Eilkompetenz stehen verfassungsrechtliche Einwände nicht entgegen.
2. Scheitert der Versuch, mit einem vom Beschuldigten genannten Rechtsanwalt in Kontakt zu treten, und verzichtet der Beschuldigte sodann auf anwaltlichen Beistand, so ist die danach erfolgte Beschuldigtenvernehmung verwertbar, da der vernehmende Polizeibeamte in dieser Situation nicht verpflichtet war, in Erfüllung der Pflicht zur Belehrung über das Recht zur Verteidigerkonsultation auf einen bestehenden Anwaltsnotdienst hinzuweisen.
Normenkette
StPO § 105 Abs. 1 S. 2, § 136 Abs. 1 S. 2
Verfahrensgang
LG Dresden (Urteil vom 08.12.2004) |
Tenor
Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Dresden vom 8. Dezember 2004 gemäß § 349 Abs. 4 StPO mit den Feststellungen aufgehoben, soweit die Angeklagten verurteilt worden sind.
Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revisionen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten F wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in sechs Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und zehn Monaten und die Angeklagte K als dessen Gehilfin zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten verurteilt. Hinsichtlich dreier Fälle hat das Landgericht die Angeklagten ausweislich des verkündeten Urteilstenors und der Urteilsgründe (UA S. 18) freigesprochen. Die Urteilsurkunde enthält diesen Teil des verkündeten Tenors zwar nicht; maßgebend ist aber der aus dem Protokoll ersichtliche verkündete Urteilstenor (vgl. Meyer-Goßner, StPO 48. Aufl. § 268 Rdn. 18). Die Revisionen der Angeklagten haben mit der Sachrüge Erfolg. Auf die Verfahrensrügen kommt es demnach nicht mehr an.
1. Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:
Der Angeklagte F kaufte – in Anwesenheit der Zeugin S – von Februar bis April 2004 in Dresden an fünf verschiedenen Orten je 120 bis 125 g Heroin von einem „M” für jeweils 3.000 Euro und nach einer Zugfahrt nach Berlin dort – an einem unbekannten Platz – weitere 125 g. Der Angeklagte F und die Zeugin S verpackten nach den ersten drei Ankäufen einen Teil des erworbenen Rauschgifts als Kügelchen zu je 0,2 g in Plastikfolie. Die Reste aus den ersten drei Ankäufen und die übrigen Gesamtmengen verpackte der Angeklagte F mit Unterstützung seiner Lebensgefährtin, der Angeklagten K, in deren Wohnung auf die gleiche Weise. F und andere Personen, darunter auch die Zeugin S, verkauften das Rauschgift mit Gewinn im Stadtgebiet Dresdens.
Das Landgericht stützt seine Beweisführung ganz wesentlich auf die als glaubhaft erachtete Aussage der Zeugin S. Durch diese seien Angaben der Angeklagten K im Ermittlungsverfahren – sie und der Angeklagte F seien nur Verpacker des von S und deren Lebensgefährten A angelieferten und später wieder verkauften Rauschgifts gewesen – widerlegt. Obwohl das Landgericht auf Grund weiterer Zeugenaussagen fehlerfrei davon ausgehen konnte, F sei als „John vom Postplatz” ein bekannter Drogenkleinverkäufer in Dresden gewesen, reicht dies als Stütze der belastenden Aussagen der Zeugin S für sechs Ankäufe erheblicher Drogenmengen und deren Weiterverkauf in alleiniger Regie des Angeklagten F im Blick auf die Besonderheiten der Beweislage nicht aus.
2. Die beweiswürdigenden Ausführungen des Landgerichts sind zum Teil widersprüchlich. Sie entbehren ferner der Darlegung der Entstehungsgeschichte der belastenden Aussagen der Zeugin S und setzen sich nicht mit einer nahe liegenden Falschbelastungshypothese auseinander. Solches war vorliegend aber geboten, weil widersprüchliche Aussagen von in ein Geflecht illegalen Rauschgifthandels verstrickter Personen zu würdigen waren, deren Motivation möglicherweise auf eigene Vorteile oder auf die Abwehr weiterer Beschuldigungen ausgerichtet war (vgl. BGH, Beschluss vom 4. August 2004 – 5 StR 267/04; BGH StV 2005, 253, 254; jeweils m.w.N.).
a) Die Feststellungen des Landgerichts (UA S. 6), die Zeugin S sei bei den sechs Ankäufen des F von „M” anwesend gewesen, wird von der in der Beweiswürdigung wiedergegebenen Aussage dieser Zeugin nicht gedeckt. Danach hatte sie nämlich ausgesagt, sie hätte „M” selbst nur zwei- bis dreimal gesehen, „ansonsten habe dieser sich nur mit dem Angeklagten F getroffen” (UA S. 9). Die Zeugin S hatte ferner unmittelbar nach ihrem Aufgriff am 12. Mai 2004 gegenüber Polizeibeamten geäußert, dass „M” größere Mengen Drogen an F – auch in die Wohnung der Angeklagten K – geliefert hätte (UA S. 13). Die daraufhin erfolgte Durchsuchung brachte aber nur vier Heroinbömbchen zutage.
b) Ebenfalls am 12. Mai 2004 hatte der Zeuge T bei einer Polizeikontrolle angegeben, er hätte Heroin bei der Zeugin S und deren Freund A gekauft (UA S. 12). Diese Aussage hätte aber im Blick auf den zeitlichen Zusammenhang die Erörterung der Frage nahe gelegt, ob die Zeugin S nicht in Kenntnis des gegen sie und ihren Lebensgefährten gerichteten Tatverdachts – zudem in einer Situation möglicher Aufklärungshilfe –, um ihren Freund zu schonen, den ihr als Drogenhändler bekannten Angeklagten F als den Lieferanten einer größeren Menge Heroin zu Unrecht benannt haben könnte. Eine solche Falschbelastungshypothese hätte möglicherweise zwar widerlegt werden können, weil die Zeugin S in einer späteren Aussage, deren Zeitpunkt und nähere Umstände das Landgericht aber nicht mitteilt, auch A belastet hatte, der ab Ende Mai bis zu seinem Verschwinden Mitte August 2004 ebenfalls von „M” alle zwei Wochen Heroin gekauft hätte (UA S. 9). Dieser Zusammenhang wird freilich vom Landgericht nicht beweiswürdigend erwogen. Offen bleibt daneben auch der Widerspruch zwischen der Aussage des Zeugen T, A sei schon am 12. Mai 2004, vor der Verhaftung des F, als Rauschgifthändler aufgetreten, und der Aussage der Zeugin S, die bekundet hatte, erst Ende Mai habe sie mit A zusammen den Rauschgifthandel aufgenommen.
Bedenken begegnet es auch, soweit das Landgericht zur Stützung der Glaubhaftigkeit der Aussage der Zeugin S darauf abgestellt hat, dass sie bei ihrer polizeilichen Vernehmung den Eindruck vermittelt habe, sie hätte „aussteigen” wollen. Nach den weiteren Feststellungen war sie nämlich bis zu ihrer Entgiftung im August 2004 drogenabhängig und als Drogenhändlerin tätig.
3. Somit kann der Schuldspruch zum Nachteil des Angeklagten F nicht bestehen bleiben. Die Sache bedarf neuer tatrichterlicher Aufklärung und Bewertung. Dies gilt auch, soweit die Angeklagte K verurteilt worden ist. Der Senat hat zwar erwogen, ob die auf UA S. 7 wiedergegebene Beschuldigtenaussage dieser Angeklagten als Grundlage des Schuldspruchs ausreicht. Dies kann aber nicht angenommen werden, weil das Landgericht die Verurteilung der Angeklagten K nicht allein auf ihr – auch nur als wenig substantiiert mitgeteiltes – polizeiliches Geständnis gestützt hat, sondern auch Aussagen der Zeugin S ohne weitere Würdigung zur Überzeugungsbildung mit herangezogen hat (UA S. 9). Demnach ist nicht auszuschließen, dass auch die Verurteilung der Angeklagten K auf der unzureichenden Beweiswürdigung der Aussage der Zeugin S beruht.
4. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass die mit den Verfahrensrügen geltend gemachten Umstände eine rechtswidrige Erlangung von Beweismitteln nicht begründen. Beweisverwertungsverbote scheiden damit von vornherein aus (vgl. dazu BVerfG NJW 2005, 1917, 1923; BGH NJW 2005, 1060; BGHR StPO § 105 Abs. 1 Durchsuchung 4).
a) Die ermittelnde Staatsanwältin wurde am Tag der vorläufigen Festnahme der Zeugin S gegen 16.15 Uhr von deren polizeilicher Aussage unterrichtet, dass sich ca. 50 g Heroin des „J” in der Wohnung der Angeklagten K befinden müssten, da diese Menge gegen 19.00 Uhr von einem „Jo” abgeholt werden sollte. „Bei sofortiger Rücksprache mit der Ermittlungsrichterin erklärte diese, dass sie ohne Akte keinen Durchsuchungsbeschluss erlassen kann. Vor dem Hintergrund, dass der Zugriff in Kürze erfolgen musste, wurde Durchsuchung wegen Gefahr in Verzug angeordnet.”
Davon ausgehend war die Anordnung gemäß § 105 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 StPO rechtmäßig. Die rechtmäßige Inanspruchnahme der Eilkompetenz der Staatsanwaltschaft setzt voraus, dass die richterliche Anordnung nicht eingeholt werden kann, ohne dass der Zweck der Maßnahme gefährdet wird (vgl. BGH JZ 1962, 609, 610; Meyer-Goßner, StPO 48. Aufl. § 98 Rdn. 6). Solches liegt auch vor, wenn – wie hier – die Ermittlungsrichterin meint, ohne Aktenkenntnis nicht, auch nicht mündlich (vgl. BGH NJW 2005, 1060) entscheiden zu können, und der Verlust der Betäubungsmittel als Beweismittel zeitnah droht (vgl. Hofmann NStZ 2003, 230, 232; Schulz NStZ 2003, 635, 636; Schäfer in Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 105 Rdn. 24; Meyer-Goßner aaO § 105 Rdn. 2). Bei dieser Sachlage fehlt es an einer eigenverantwortlichen Prüfung und Entscheidung durch die Ermittlungsrichterin, was es der Staatsanwaltschaft verwehren würde, anstelle des Gerichts die Durchsuchung anzuordnen (vgl. BGH NStZ 2001, 604, 606). Einer Verhinderung von Beweismittelverlusten durch Wahrnehmung der Eilkompetenz stehen verfassungsrechtliche Einwände nicht entgegen. Ein solches Vorgehen entspricht der verfassungsrechtlichen Gewährleistung einer rechtsstaatlich geordneten Rechtspflege, die sich, bei nachhaltiger Sicherung der Rechte des Beschuldigten, auch auf eine wirksame Strafverfolgung erstreckt. Daher müssen die Strafverfolgungsbehörden die Entscheidung, ob auf Grund der konkreten Umstände des Einzelfalls von der Gefahr eines Beweismittelverlusts auszugehen ist, so rechtzeitig treffen können, dass dieser Gefahr wirksam begegnet werden kann (BVerfGE 103, 142, 154 f.). Der Senat entnimmt dem Ergebnis dieser Abwägung die Zulässigkeit der Inanspruchnahme der Eilkompetenz auch in dem Fall einer unzutreffenden richterlichen Kompetenzausübung.
Etwas anderes könnte sich allerdings dann ergeben, falls die Ermittlungsrichterin, was die Revisionen behaupten, von der Staatsanwältin unvollständig unterrichtet worden ist, um eine Ablehnung eines richterlichen Beschlusses zu provozieren und dadurch für sich die Eilkompetenz zu begründen. Dafür bestehen aber keine Anhaltspunkte.
b) Die – keine Drogen konsumierende – Angeklagte K hat als Beschuldigte nach Eröffnung des Tatvorwurfes bekundet, sie werde einen Rechtsanwalt mit der Wahrnehmung ihrer Interessen beauftragen. Sie war nach weiterer Belehrung über die Voraussetzungen des § 31 BtMG am Abend des 12. Mai 2004 zu Äußerungen über den Tatvorwurf bereit. Sie wünschte aber zunächst eine Besprechung mit Rechtsanwalt V aus Berlin. Die zu diesem Zweck über den deutschen Rechtsanwaltzentralruf sodann ermittelte Mobiltelefonnummer dieses Rechtsanwalts erwies sich aber als „nicht vergeben”. Die Beschuldigte erklärte daraufhin, sie verzichte auf einen Anwalt und möchte trotzdem zum Sachverhalt aussagen.
Die danach erfolgte Beschuldigtenvernehmung ist verwertbar. Der vernehmende Polizeibeamte war nicht verpflichtet, die Beschuldigte nach Scheitern der Kontaktaufnahme mit Rechtsanwalt V in Erfüllung der Pflicht zur Belehrung über das Recht der Verteidigerkonsultation nach § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO – wie die Revisionen meinen – auf den Dresdner Anwaltsnotdienst hinzuweisen (vgl. BGHSt 47, 233, 234 f.).
Indes hat der Senat eine derartige Hilfestellung für den Fall erwogen, dass ein Beschuldigter zunächst nach einem Verteidiger verlangt hatte und die Vernehmung ohne vorangegangene Konsultation eines Verteidigers fortgesetzt wurde (vgl. BGHSt 42, 15, 19 f.; anders BGHSt 42, 170, 173). Vorliegend hat die Beschuldigte zunächst auch allgemein ihre Absicht bekundet, einen Rechtsanwalt beauftragen zu wollen, was nach der Entscheidung des Senats eine Pflicht zur Hilfestellung hätte auslösen können.
Indes war die gebotene Hilfe nach Benennung eines bestimmten Rechtsanwalts auf eine Ermöglichung der Kontaktaufnahme mit diesem beschränkt. Die dafür erforderliche Hilfe hat der vernehmende Polizeibeamte geleistet. Nach Scheitern der Verbindung mit Rechtsanwalt V hat die Beschuldigte nicht etwa zu erkennen gegeben, sie wolle einen anderen Rechtsanwalt wählen. Sie hat damit ihr Recht auf Verteidigerkonsultation letztlich nicht anders ausgeübt, als wenn sie von vornherein zu erkennen gegeben hätte, dass sie keinen Verteidiger konsultieren wolle (vgl. BGHSt 47, 233, 234).
5. Für die neue Beweiswürdigung weist der Senat ferner darauf hin, dass erneut festzustellende Qualitätsmängel der Aussage der Belastungszeugin S einer genaueren Darstellung und Bewertung der die Mängel begründeten Umstände und einer Betrachtung der Entwicklung der verschiedenen Aussagen in einer Gesamtwürdigung bedürfen (vgl. BGH NJW 2003, 2250 m.w.N.).
Unterschriften
Basdorf, Häger, Gerhardt, Brause, Schaal
Fundstellen
Haufe-Index 1463194 |
NStZ 2006, 114 |
JA 2006, 408 |
JuS 2006, 272 |
PStR 2006, 4 |
Kriminalistik 2006, 246 |
StV 2006, 515 |
StV 2006, 569 |
StV 2007, 282 |