Leitsatz
Auch wenn die bei Prüfung der Voraussetzungen des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG zu Bestehen und Inhalt des ausländischen Rechts getroffenen Feststellungen des FG revisionsrechtlich wie eine Tatsachenfeststellung zu behandeln sind, ist das Revisionsgericht an diese Feststellungen nicht gebunden, soweit sie auf einem nur kursorischen Überblick über die zu behandelnde Materie beruhen.
Normenkette
§ 90 Abs. 2 AO, § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG, § 40 Abs. 2, § 76 Abs. 1, § 118 Abs. 1, § 155 FGO, § 293, § 560 ZPO, Art. 10 VO (EWG) Nr. 574/72, FamLstgG-PL
Sachverhalt
Der Kläger ist polnischer Staatsangehöriger und Vater von drei in Polen lebenden Kindern (A, B und C). Er wohnt in Deutschland, wo er eine gewerbliche Tätigkeit ausübt und privat kranken- und rentenversichert ist.
Seinen Antrag auf Kindergeld für A, B und C lehnte die Familienkasse ab und wies den Einspruch am 13.7.2007 zurück. Nach Teilabhilfe der Familienkasse war noch der Zeitraum Februar 2007 bis August 2007 streitig. Das FG Baden-Württemberg (vom 31.1.2011, 12 K 928/07, Haufe-Index 2643878, EFG 2011, 1002) gab der Klage statt. Zur Begründung führte es aus, dass im Streitfall ausschließlich deutsches Kindergeldrecht anwendbar sei. Der Anspruch des Klägers sei nicht nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG ausgeschlossen, weil in Polen während des Streitzeitraums weder kindergeldähnliche Leistungen bezogen worden seien noch ein Anspruch hierauf bestanden habe.
Entscheidung
Die Revision der Familienkasse hatte Erfolg:
Die Klage für August 2007 war unzulässig, weil durch den Ablehnungsbescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 13.7.2007 nur über den Anspruch bis Juli 2007 entschieden worden war.
Hinsichtlich des Zeitraums Februar 2007 bis Juli 2007 hob der BFH das FG-Urteil auf und verwies zurück, weil das FG sich nur sehr oberflächlich mit Inhalt und Auslegung des polnischen Familienleistungsrechts befasst hat. Der BFH vermisste insbesondere nachvollziehbare Darlegungen zu der Frage, ob der polnische Anspruch wegen eines zu hohen "Nettoeinkommens" ausgeschlossen war.
Hinweis
1. Der Kindergeldanspruch ist davon abhängig, ob ein entsprechender Anspruch im Ausland besteht. Das Nichtbestehen eines ausländischen Anspruchs braucht der Anspruchsteller nicht zu beweisen. Ihn treffen lediglich erweiterte Mitwirkungspflichten, und das auch nur hinsichtlich der im Ausland verwirklichten Tatsachen, nicht des ausländischen Rechts (§ 90 Abs. 2 AO). Wenn der Anspruchsteller im Ausland keinen Antrag auf Familienleistungen gestellt hat, darf daraus nicht geschlossen werden, dass ein Anspruch nach ausländischem Recht bestanden habe.
2. Die Familienkasse und das FG haben die ausländische Rechtslage zu prüfen; Erleichterungen dafür sieht § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG nicht vor. An ihre Ermittlungspflicht sind umso höhere Anforderungen zu stellen, je komplexer oder je fremder das anzuwendende ausländische Recht im Vergleich zum deutschen ist oder je detaillierter die Beteiligten zur ausländischen Rechtspraxis kontrovers vortragen.
3. Der BFH lässt die umstrittene Frage weiter offen, ob der Ablehnung des Anspruchs durch eine ausländische Behörde Bindungswirkung für die deutschen Behörden und Gerichte zukommt. An einer Bindungswirkung fehlt es aber jedenfalls dann, wenn die Ablehnung auf der Anwendung und Auslegung des Unionsrechts beruht oder bei Antragstellung gegenüber der ausländischen Behörde unzutreffende oder unvollständige Tatsachenangaben gemacht worden sind.
4. Mit der Revision kann nur die fehlerhafte Anwendung von Bundesrecht gerügt werden, nicht aber die Verletzung ausländischen Rechts (§ 118 Abs. 1 FGO). Feststellungen zum ausländischen Recht sind revisionsrechtlich wie Tatsachenfeststellungen zu behandeln und daher für den BFH grundsätzlich bindend. Die Art und Weise der Ermittlung ausländischen Rechts steht im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts. Beschränkt sich das FG aber auf einen kursorischen Überblick, so liegt darin ein materieller Fehler. Darüber hinaus kommt eine Verfahrensrüge in Betracht, weil in der unzureichenden Ermittlung des ausländischen Rechts ein Verstoß gegen die prozessrechtliche Ermittlungspflicht liegen kann.
5. Die Festsetzung des Kindergeldes erfolgt zwar in der Regel durch Dauer-VA, die Ablehnung regelt aber nur den Zeitraum bis zum Ablehnungsbescheid oder der Einspruchsentscheidung. Für den Folgezeitraum muss mithin ein neuer Antrag gestellt werden. Wird das versäumt, kann ein noch nicht beschiedener Antrag auf Kindergeld angenommen werden (§ 171 Abs. 3 AO), wenn im finanzgerichtlichen Verfahren zum Ausdruck gebracht wurde, dass Kindergeld auch für einen nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung liegenden Zeitraum beansprucht wird (BFH, Urteil vom 22.12.2011, III R 41/07, BFH/NV 2012, 1028, BFH/PR 2012, 240).
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 13.6.2013 – III R 10/11