Leitsatz
1. § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG verpflichtet das FG im Grundsatz, eine eigene Entscheidung darüber zu treffen, ob für ein Kind ein Anspruch auf Gewährung dem Kindergeld vergleichbarer Leistungen nach ausländischem Recht besteht.
2. Bei dieser Prüfung hat es das maßgebende ausländische Recht gem. § 155 FGO i.V.m. § 293 ZPO von Amts wegen zu ermitteln und festzustellen.
3. Den für die Subsumtion unter das maßgebliche ausländische Recht entscheidungserheblichen Sachverhalt hat das FG unter Beachtung der erweiterten Mitwirkungspflichten des Klägers nach § 76 Abs. 1 Satz 4 FGO i.V.m. § 90 Abs. 2 AO von Amts wegen zu ermitteln und festzustellen.
Normenkette
§ 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG, § 90 Abs. 2 AO, § 40 Abs. 2, § 76 Abs. 1, § 118 Abs. 1, § 155 FGO, § 293, § 560 ZPO, Art. 13 Abs. 1 Satz 1 VO (EWG) Nr. 1408/71, Art. 10 VO (EWG) Nr. 574/72, FamLstgG-PL
Sachverhalt
Der Kläger, ein polnischer Staatsangehöriger, betrieb einen Gewerbebetrieb im Inland, war hier privat kranken- und rentenversichert und wohnte in Nürnberg. Seine Ehefrau lebte mit den beiden Kindern in Polen. Nach einer Bescheinigung der polnischen Sozialversicherungsbehörde (Vordruck E 411) war er in Polen nicht versichert und seine Ehefrau hatte keinen Anspruch auf Familienleistungen, weil sie in Polen nicht berufstätig war. Die Familienkasse setzte Kindergeld zugunsten des Klägers ab Januar 2005 in jeweils hälftiger Höhe des gesetzlichen Anspruchs fest.
Im Einspruchsverfahren legte der Kläger einen Bescheid des Gemeindesozialamts vor, wonach ein Bewilligungsbescheid vom 16.11.2004, der der Ehefrau des Klägers polnische Familienleistungen zugesprochen hatte, aufgehoben worden war. Zur Begründung wurde auf die Bestimmungen über die Koordinierung der Sozialleistungssysteme und die berufliche Tätigkeit des Klägers in Deutschland verwiesen.
Die Familienkasse teilte daraufhin der polnischen Behörde mit, dass der Kläger kein Beschäftigter i.S.d. VO Nr. 1408/71 sei, weil er in Deutschland nur privat versichert sei. Zudem wurde erfragt, ob der Ehefrau des Klägers bei Antragstellung ein Anspruch auf polnische Familienleistungen zugestanden hätte. In dem Antwortschreiben (E 001) führte die polnische Behörde mit Blick auf die fehlende Erwerbstätigkeit der Ehefrau aus, dass Deutschland zur Zahlung der Familienleistungen verpflichtet sei. Die Familienkasse wies den Einspruch als unbegründet zurück.
Die Klage, mit der der Kläger Kindergeld für Januar 2005 bis September 2009 in voller Höhe begehrte, war für den Zeitraum September 2006 bis August 2009 erfolgreich. Im Übrigen wies das FG (FG Nürnberg, Urteil vom 1.8.2011, 3 K 2003/2009, Haufe-Index 2767879) die Klage als unbegründet ab. Im Streitfall sei ausschließlich deutsches Kindergeldrecht anwendbar, aber für Januar 2005 bis August 2006 sowie September 2009 habe ein Anspruch auf kindergeldähnliche Leistungen nach polnischem Recht bestanden.
Mit der Revision macht die Familienkasse eine unzutreffende Auslegung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG geltend. Die vom FG angenommene Pflicht zur Prüfung des polnischen Rechts bestehe weder für sie noch für das FG.
Entscheidung
Der BFH wies die Revision als unbegründet zurück. Anders als in der Sache III R 10/11 beanstandete er die Ausführungen des FG zum polnischen Recht nicht.
Hinweis
Das Urteil befasst sich – wie die vorstehende Entscheidung III R 10/11 – mit der Ermittlung ausländischer Kindergeldansprüche, die den deutschen Kindergeldanspruch ausschließen oder mindern können (§ 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG). Der Sachverhalt zeigt zugleich, welche tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten dies bereiten kann.
1. Familienkasse und FG müssen prüfen, ob kindergeldähnliche Leistungen nach ausländischem Recht zu zahlen sind oder bei entsprechender Antragstellung zu zahlen wären. Dabei ist unerheblich, ob der ausländische Anspruch der nach deutschem Recht kindergeldberechtigten Person oder einem Dritten zusteht.
2. Die erweiterte Mitwirkungspflicht des Anspruchstellers bezieht sich nur auf die Ermittlung der im Ausland verwirklichten Tatsachen, nicht auf die dortige Rechtslage. Er braucht im Ausland auch keinen Antrag zu stellen. Wenn kindergeldähnliche Leistungen gleichwohl im Ausland beantragt und abgelehnt werden, so bindet dies nicht im Hinblick auf § 65 EStG, wenn die Ablehnung auf der Auslegung des Unionsrechts oder auf unzutreffenden oder unvollständigen Tatsachenangaben im Antrag beruht.
3. Die zutreffende Auslegung des ausländischen Rechts durch das FG wird vom BFH nicht geprüft. Die Revision kann insoweit nur darauf gestützt werden, dass das FG sich – wie in der Sache III R 10/11 – mit einem kursorischen Überblick des ausländischen Rechts begnügt hat und daher die Bindungswirkung entfällt, oder dass das FG bei der Ermittlung des ausländischen Rechts gegen seine prozessrechtliche Ermittlungspflicht verstoßen hat (Verfahrensrüge).
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 13.6.2013 – III R 63/11