Entscheidungsstichwort (Thema)
Revisionsnichtzulassungsbeschwerde. Darlegung der Klärungsbedürftigkeit. Gesetzliche Krankenversicherung. Überprüfung neuer Behandlungsmethoden. Fehlende Arzneimittelstudie. Leistungen im Arzneimittelbereich
Orientierungssatz
1. Die Rechtsprechung des BSG hat den Gesichtspunkt der rechtlichen und ethischen Problematik von (fehlenden) Arzneimittelstudien bzw Verfahren zur Überprüfung neuer Behandlungsmethoden bei seltenen lebensbedrohenden bzw die Lebensqualität nachhaltig beeinträchtigenden Erkrankungen mit einfließen lassen (vgl insbesondere BSG vom 28.3.2000 - B 1 KR 11/98 R = BSGE 86, 54 = SozR 3-2500 § 135 Nr 14 mwN).
2. Das BSG ist trotz dieser Aspekte gleichwohl nicht davon abgerückt, dass die Krankenkassen auch bei den genannten Erkrankungen im Arzneimittelbereich nur Leistungen gewähren müssen, die einem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen und bei denen ein Mindestmaß an Arzneimittelsicherheit und -wirksamkeit gewährleistet ist. In diesem Zusammenhang sind die Anforderungen an die Evidenz herabgesetzt worden, indem auch die Heranziehung von außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnenen wissenschaftlich untermauerten Erkenntnissen für zulässig erachtet wurden.
Normenkette
SGB 5 § 2 Abs. 1 S. 3, § 31 Abs. 1; AMG 1976
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 04.11.2003; Aktenzeichen L 11 KR 2116/03) |
SG Freiburg i. Br. (Urteil vom 31.03.2003; Aktenzeichen S 5 KR 1695/02) |
Tatbestand
Die 1960 geborene, bei der beklagten Krankenkasse versicherte Klägerin litt im ersten Lebensjahr an einer Poliomyelitis. Seit Januar 2002 befindet sie sich in Behandlung des Neurologen T., der bei ihr Folgezustände der Poliomyelitis und einen Verdacht auf ein Post-Polio-Syndrom diagnostizierte. Er verordnete der Klägerin auf Privatrezept das Medikament Biocarn, das zwar eine Arzneimittelzulassung für die Behandlung von Carnitinmangel bei Muskeldystrophie, bei Dialyse-Patienten sowie bei einzelnen Formen der progressiven Muskeldystrophie besitzt, nicht jedoch für das Post-Polio-Syndrom. Die Klägerin beantragte im Februar 2002 erfolglos die Übernahme der Kosten des Medikaments Biocarn. Das Sozialgericht (SG) hat die auf Kostenerstattung (240 €) und weitere Kostenübernahme gerichtete Klage abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen und im Wesentlichen ausgeführt: Die Voraussetzungen für eine Leistungspflicht der Beklagten bei einem Off-Label-Use lägen nicht vor. Dieser setze nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (≪BSG≫, Hinweis auf BSGE 89, 184 = SozR 3-2500 § 31 Nr 8) neben dem Vorliegen einer schwerwiegenden Erkrankung und dem Fehlen anderweitiger Therapiemöglichkeiten voraus, dass auf Grund der Datenlage begründete Aussicht bestehe, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg kurativ oder palliativ zu erzielen sei. Hier fehle es jedenfalls an hinreichend gesicherten Erkenntnissen über die Wirksamkeit einer Behandlung mit Biocarn im Hinblick auf das Post-Polio-Syndrom. Klinische Studien seien nicht bekannt. Auch sei unbekannt, ob es sich bei der vom Arzt der Klägerin vorgelegten Studie des Dr. L. um eine kontrollierte klinische Studie gehandelt habe. Diese Studie beruhe lediglich auf den persönlichen Einschätzungen von 26 Patienten und sei vom Datenmaterial her viel zu gering, um einen therapeutischen Nutzen zu belegen. In den einschlägigen Fachkreisen bestehe auch kein Konsens über die Nützlichkeit der Behandlung von Post-Polio-Patienten mit Biocarn. Von den Anforderungen an den Wirksamkeitsnachweis könne beim Post-Polio-Syndrom nicht abgesehen werden. Zwar habe das BSG in seinem Urteil vom 16. September 1997 (BSGE 81, 54 = SozR 3-2500 § 135 Nr 4) zur Duchenneschen Muskeldystrophie entschieden, dass bei seltenen und weitgehend unerforschten Krankheiten geringere Anforderungen an den zu erbringenden Wirksamkeitsnachweis zu stellen sind. Das Post-Polio-Syndrom sei ausweislich der Auskunft des Neurologen T. jedoch wissenschaftlich gesichert und recht gut erforscht. Die Erkrankung komme in der Regel erst im Erwachsenenalter zum Ausbruch, sodass - anders als bei der Duchenneschen Erkrankung - das Argument, Entwicklungsfortschritte seien schwer erkennbar, nicht greife. Darüber hinaus sei das Post-Polio-Syndrom zwar eine sehr beeinträchtigende Erkrankung, jedoch verlaufe sie nicht tödlich; der Aspekt, dass für eine wissenschaftliche Untersuchung Placebos eingesetzt werden müssten, greife nicht in dem Maße wie bei der Duchenneschen Erkrankung (Urteil vom 4. November 2003).
Das LSG hat die Revision nicht zugelassen. Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Beschwerde.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist unzulässig. Sie genügt nicht den Begründungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
1. Soll die Revision wie vorliegend nach § 160 Abs 2 Nr 1 SGG wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen werden, muss in der Beschwerdebegründung die grundsätzliche Bedeutung dargelegt werden (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Hierzu ist es erforderlich, eine Rechtsfrage klar zu formulieren und aufzuzeigen, dass sie über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besitzt, und dass die Rechtsfrage klärungsbedürftig sowie klärungsfähig ist, dh sie im Falle der Zulassung der Revision entscheidungserheblich wäre. Eine Rechtsfrage, die das BSG bereits entschieden hat, ist nicht mehr klärungsbedürftig und kann somit keine grundsätzliche Bedeutung haben, es sei denn, die Beantwortung der Frage ist aus besonderen Gründen klärungsbedürftig geblieben oder erneut geworden; das muss substanziiert vorgetragen werden (BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 21 S 38 mwN). Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdebegründung nicht.
Die Beschwerde hält für grundsätzlich bedeutsam, "unter welchen Voraussetzungen im Zuge eines Off-Label-Use Krankenkassen die Kosten der Behandlung des Post-Polio-Syndroms durch Biocarn (L-Carnitin) übernehmen müssen, wenn - wie hier - klinische Studien nicht durchgeführt werden dürfen, weil hierzu erforderliche Testungen durch erforderliche Belastungen der Muskeln zu irreversiblen Schäden führen und daher verboten sind und wenn - wie ebenfalls hier - sich auf Grund der geringen Anzahl der in Deutschland von dieser Erkrankung Betroffenen keine Institutionen finden lassen, welche überhaupt Studien, beispielsweise Untersuchungen mit Verum und Placebo finanzieren."
Der erkennende Senat hat in seiner Entscheidung zum Off-Label-Use vom 19. März 2002 (BSGE 89, 184, 191 f = SozR 3-2500 § 31 Nr 8 S 36 f) indessen allgemein bereits die Voraussetzungen dargelegt, unter denen ein zugelassenes Arzneimittel zu Lasten der Krankenversicherung außerhalb des Anwendungsgebiets verordnet werden kann, auf das sich die Arzneimittelzulassung erstreckt. Die Verordnung eines Medikaments in einem von der Zulassung nicht umfassten Anwendungsgebiet kommt danach nur in Betracht, wenn es (1) um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn (2) keine andere Therapie verfügbar ist und wenn (3) auf Grund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann. Damit Letzteres angenommen werden kann, müssen Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Von hinreichenden Forschungsergebnissen kann nach der Rechtsprechung des Senats ausgegangen werden, wenn
- entweder die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt ist und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen (1. Alternative) - oder außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und auf Grund deren in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht (2. Alternative).
Die Beschwerde wirft darüber hinaus der Sache nach die Frage auf, ob ein Off-Label-Use auch dann in Betracht kommt, wenn die in der ersten Alternative verlangten klinischen Studien nicht durchgeführt werden können. Die Beschwerde unterstellt dabei, dass klinische Studien im Falle des hier betroffenen Arzneimittels wegen fehlenden wirtschaftlichen Interesses der Pharmaindustrie oder irreversibler, weiterer Schädigungen der Patienten durch die Studien ausscheiden. Dass diese Behauptungen zutreffen, kann mangels entsprechender Tatsachenfeststellungen des LSG vom erkennenden Senat jedoch nicht zu Grunde gelegt werden (vgl § 163 SGG).
Den von der Beschwerde dabei aufgegriffenen Gesichtspunkt der rechtlichen und ethischen Problematik von (fehlenden) Arzneimittelstudien bzw Verfahren zur Überprüfung neuer Behandlungsmethoden bei seltenen lebensbedrohenden bzw die Lebensqualität nachhaltig beeinträchtigenden Erkrankungen hat der Senat in seine Rechtsprechung im Übrigen bereits mit einfließen lassen (vgl insbesondere BSGE 86, 54, 62 = SozR 3-2500 § 135 Nr 14 S 69 mwN; ferner zB BSGE 89, 184, 189 = SozR 3-2500 § 31 Nr 8 S 32 f; BSGE 81, 54, 67 = SozR 3-2500 § 135 Nr 4 S 23; jüngst: BSG, Urteil vom 19. Oktober 2004 - B 1 KR 27/02 R, vgl Presse-Mitteilung Nr 57/04). Er ist trotz dieser Aspekte gleichwohl nicht davon abgerückt, dass die Krankenkassen auch bei den genannten Erkrankungen im Arzneimittelbereich nur Leistungen gewähren müssen, die einem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse (vgl § 2 Abs 1 Satz 3 SGB V) entsprechen und bei denen ein Mindestmaß an Arzneimittelsicherheit und -wirksamkeit gewährleistet ist. In diesem Zusammenhang hat er allerdings - wie dargestellt - die Anforderungen an die Evidenz herabgesetzt, indem er auch die Heranziehung von außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnenen wissenschaftlich untermauerten Erkenntnissen für zulässig erachtet hat.
Die Beschwerde geht nicht darauf ein, ob ein Anspruch der Klägerin in diesem Sinne auch nach der vom Senat aufgezeigten Alternative des Wirksamkeitsnachweises ausgeschlossen ist. Ein Eingehen hierauf drängt sich jedoch schon deshalb auf, weil die Beschwerde mit ihren Unterstellungen selbst eine Situation konstruiert, in denen klinische Studien und damit die oben aufgezeigte erste Alternative des Wirksamkeitsnachweises praktisch ausscheiden sollen. Für diesen Fall indessen hat der Senat gerade die weitere Möglichkeit des Wirksamkeitsnachweises eröffnet. Könnte sich die Klägerin für ihren behaupteten Anspruch auf in der Rechtsprechung des Senats bereits geklärte Grundsätze wie denjenigen des Off-Label-Use nach der zweiten Alternative des Wirksamkeitsnachweises stützen, bedarf es nicht der Beantwortung weiterer Rechtsfragen; auf diese käme es allenfalls dann noch an, wenn sich der behauptete Anspruch nicht aus den bereits geklärten Grundsätzen ableiten ließe. Letzteres muss in der Beschwerde dargelegt werden. Hieran fehlt es vorliegend.
Die Beschwerde trägt vor, von dem Krankheitsbild des Post-Polio-Syndroms seien in Deutschland einige, wenn auch wenige tausend Menschen betroffen; sie legt jedoch nicht dar, dass es sich dabei um ein derart seltenes Krankheitsbild handelt, dass eine systematische Erforschung der Behandlungsmöglichkeiten praktisch ausscheidet (zu einem solchen Fall vgl BSG, Urteil vom 19. Oktober 2004 - B 1 KR 27/02 R, vgl Presse-Mitteilung Nr 57/04). Soweit die Klägerin geltend macht, es bestehe Einigkeit, dass ca 40 der mit Biocarn behandelten Post-Polio-Patienten nach Auffassung der mit der Erkrankung in Deutschland befassten Ärzte Beschwerdebesserungen zeigten, fehlen entsprechende Feststellungen des LSG bzw dagegen geltend gemachte Revisionszulassungsgründe. Abgesehen davon, dass eine Revisionszulassung nicht auf eine Verletzung des § 109 oder des § 128 SGG (Grundsatz der freien Beweiswürdigung) gestützt werden könnte (vgl § 160 Abs 2 Nr 3 2. Halbsatz SGG), greift die Beschwerde die Beweiswürdigung des LSG nicht an, soweit dieses die Studie des Dr. L. als nicht geeignet ansieht, den therapeutischen Nutzen von Biocarn zu belegen. Im Übrigen wurde im Berufungsverfahren offenbar nur ein Antrag nach § 109 SGG gestellt, auf den die Beschwerde ebenfalls nicht eingeht.
2. Soweit die Beschwerde beiläufig eine Abweichung des LSG-Urteils von Rechtsprechung des BSG erwähnt, zeigt sie nicht auf, welchen abstrakten Rechtssatz das LSG in Abweichung vom BSG aufgestellt hat (zu diesem Erfordernis vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 67). Von einer weiteren Begründung wird insoweit gemäß § 160a Abs 4 Satz 3 2. Halbsatz SGG abgesehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Fundstellen