Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. Verletzung rechtlichen Gehörs. Überraschungsentscheidung. keine Pflicht des Gerichts auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung leitenden Gründe zuvor zu erörtern

 

Orientierungssatz

1. Die Willkürlichkeit der angefochtenen Entscheidung kann im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren nur im Sinne einer willkürlichen Handhabung verfahrensrechtlicher Bestimmungen auf dem Weg zur Entscheidung (sog "error in procedendo") als Verfahrensmangel gerügt werden (vgl BSG vom 12.12.2018 - B 6 KA 23/18 B = juris RdNr 31).

2. Eine den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzende Überraschungsentscheidung liegt nur vor, wenn das Urteil auf Gesichtspunkte gestützt wird, die bisher nicht erörtert worden sind, und dadurch der Rechtsstreit eine unerwartete Wendung nimmt, mit der auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verfahrensverlauf selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen braucht (vgl BVerfG vom 5.4.2012 - 2 BvR 2126/11 = NJW 2012, 2262 = juris RdNr 18 mwN; BSG vom 22.4.2015 - B 3 P 8/13 R = BSGE 118, 239 = SozR 4-3300 § 23 Nr 7, RdNr 37 mwN).

3. Es gibt keinen allgemeinen Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichten würde, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern (vgl BSG vom 21.6.2000 - B 5 RJ 24/00 B = SozR 3-1500 § 112 Nr 2 S 3 mwN). Eine solche Verpflichtung des Gerichts wird insbesondere weder durch den allgemeinen Anspruch auf rechtliches Gehör aus § 62 SGG bzw Art 103 Abs 1 GG noch durch die Regelungen zu richterlichen Hinweispflichten (§ 106 Abs 1, § 112 Abs 2 S 2 SGG) begründet.

 

Normenkette

SGG § 160a Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 3, § 160 Abs. 2 Nr. 3, §§ 62, 106 Abs. 1, § 112 Abs. 2 S. 2; GG Art. 103 Abs. 1

 

Verfahrensgang

SG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 30.03.2017; Aktenzeichen S 34 KR 869/14)

Hessisches LSG (Urteil vom 20.01.2021; Aktenzeichen L 8 KR 12/20 ZVW)

 

Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 20. Januar 2021 wird als unzulässig verworfen.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I. Der bei der beklagten Krankenkasse gesetzlich versicherte Kläger hat dem SG während des bereits laufenden Rechtsstreits über die Übernahme von (anderweitigen) Zahnbehandlungskosten einen privatärztlichen Kostenvoranschlag seiner behandelnden Zahnärztin vom 2.11.2015 über insgesamt 5341,78 Euro übersandt für die Versorgung mit neun Einlagefüllungen nebst funktionsanalytischen/funktionstherapeutischen Maßnahmen. Die Beklagte hat die Versorgung mit Schriftsatz vom 30.11.2015 abgelehnt. Nachfolgend hat der Kläger die Erstattung der ihm im Dezember 2015 und Februar 2016 in Rechnung gestellten Kosten iHv insgesamt 3453,42 Euro sowie die Übernahme der nach dem Kostenvoranschlag noch ausstehenden Behandlungen beantragt. Widerspruch, Klage und Berufung des Klägers hatten keinen Erfolg. Das LSG hat zur Begründung ausgeführt, dem Kläger habe kein Anspruch auf die zahnärztlichen Leistungen zugestanden. Ihm stehe auch kein Kostenerstattungsanspruch aufgrund eingetretener Genehmigungsfiktion zu. Ein solcher Anspruch scheide aus, wenn - wie vorliegend - vor dem Antrag auf Kostenerstattung nicht zuerst ein Antrag auf Leistungsgewährung gestellt worden sei. Auch den Freistellungsanspruch könne der Kläger nicht auf die Genehmigungsfiktion stützen, weil diese lediglich einen Anspruch auf Kostenerstattung begründe (Urteil vom 20.1.2021).

Der Kläger wendet sich mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil.

II. Die Beschwerde ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 3 SGG zu verwerfen. Ihre Begründung entspricht nicht den aus § 160a Abs 2 Satz 3 SGG abzuleitenden Anforderungen an die Darlegung der geltend gemachten Revisionszulassungsgründe der Divergenz (dazu 1.) und des Verfahrensmangels (dazu 2.).

1. Wer sich auf den Zulassungsgrund der Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) beruft, muss entscheidungstragende abstrakte Rechtssätze im Urteil des Berufungsgerichts einerseits und in einem Urteil des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG andererseits gegenüberstellen und Ausführungen dazu machen, weshalb beide miteinander unvereinbar sein sollen und das Berufungsurteil auf dieser Divergenz beruht (vgl zB BSG vom 19.9.2007 - B 1 KR 52/07 B - juris RdNr 6; BSG vom 9.5.2018 - B 1 KR 55/17 B - juris RdNr 8; zur Verfassungsmäßigkeit dieser Darlegungsanforderungen vgl BVerfG ≪Dreierausschuss≫ vom 8.9.1982 - 2 BvR 676/81 - juris RdNr 8). Erforderlich ist, dass das LSG bewusst einen abweichenden Rechtssatz aufgestellt und nicht etwa lediglich fehlerhaft das Recht angewendet hat; dies hat der Beschwerdeführer schlüssig darzulegen (vgl zB BSG vom 19.11.2019 - B 1 KR 72/18 B - juris RdNr 8). Daran fehlt es.

a) Soweit der Kläger rügt, das LSG weiche von der Rspr des BSG ab, indem es das Vorliegen eines fiktionsfähigen Antrages verneine, stellt er keine voneinander abweichenden abstrakten Rechtssätze des LSG und des BSG gegenüber. Er macht lediglich geltend, das LSG hätte seinen Antrag vom 3.11.2015 unter Berücksichtigung der Rspr des BSG als Leistungsantrag auslegen müssen und nicht als Kostenerstattungsantrag. Damit wendet er sich allein gegen die inhaltliche Richtigkeit des angegriffenen Urteils, ohne eine Divergenz in dem vorbeschriebenen Sinne aufzuzeigen. Die Behauptung, die Berufungsentscheidung sei inhaltlich unrichtig, kann aber nicht zur Zulassung der Revision führen (stRspr; vgl zB BSG vom 19.6.2018 - B 1 KR 87/17 B - juris RdNr 7; BSG vom 26.6.1975 - 12 BJ 12/75 - SozR 1500 § 160a Nr 7 S 10). Daran ändert sich auch nichts dadurch, dass der Kläger die Auslegung des LSG als überraschend und willkürlich bezeichnet (siehe dazu noch unten 2.).

b) Der Kläger sieht eine Divergenz ferner darin, dass das LSG entgegen der Rspr des BSG als Voraussetzung der Genehmigungsfiktion verlange, dass die begehrte Leistung im Leistungskatalog der GKV und mithin materiell-rechtmäßig sei. Insofern hat er schon nicht schlüssig dargelegt, wo sich der angebliche Rechtssatz des LSG im angefochtenen Urteil befindet bzw aus welchen konkreten Ausführungen er sich sinngemäß ergeben soll (vgl zum Erfordernis dieser Darlegung BSG vom 15.4.2019 - B 14 AS 124/18 B - juris RdNr 4). Aus dem vom Kläger hierzu angeführten Satz des LSG, dass es nicht Zweck des § 13 Abs 3a SGB V sei, dem Versicherten Leistungen zu verschaffen, auf die er keinen Anspruch hat, ergibt sich der behauptete Rechtssatz jedenfalls nicht. Dieser Satz findet sich wörtlich auch in dem Urteil des BSG vom 26.5.2020 (B 1 KR 9/18 R - BSGE 130, 200 = SozR 4-2500 § 13 Nr 53, RdNr 18) und begründet lediglich die Auslegung des § 13 Abs 3a SGB V als reine Kostenerstattungsregelung. Soweit das LSG im Übrigen ausführt, der Kläger besitze wegen eines fehlenden Leistungsanspruchs keinen Anspruch auf Freistellung von den Kosten noch ausstehender Behandlungen, bezieht sich dies ersichtlich nicht auf die erst nachfolgenden Ausführungen zu § 13 Abs 3a SGB V (sondern auf § 13 Abs 3 SGB V).

Der Kläger hat auch nicht schlüssig dargelegt, dass die Berufungsentscheidung auf der angeblichen Divergenz beruht.

Wird ein Urteil auf zwei voneinander unabhängige Begründungen gestützt, muss für jede Begründung ein Zulassungsgrund dargelegt werden (vgl BSG vom 21.2.2017 - B 1 KR 41/16 B - juris RdNr 14; BSG vom 2.8.2018 - B 10 ÜG 2/18 B - juris RdNr 6). Hieran fehlt es. Denn soweit das LSG den Eintritt der Genehmigungsfiktion wegen Fehlens eines fiktionsfähigen Antrages verneint hat, hat der Kläger keinen Zulassungsgrund schlüssig dargelegt (siehe dazu oben a und unten 2.).

Eine Abweichung iS des § 160 Abs 2 Nr 2 SGG ist im Übrigen auch dann nicht formgerecht bezeichnet, wenn trotz naheliegender rechtlicher Gestaltung die schlüssige Darlegung fehlt, dass die Entscheidung des LSG nicht mit einer anderen als der vom LSG angeführten rechtlichen Begründung bestätigt werden kann, die Divergenzfrage mithin auch für das BSG entscheidungserheblich ist (vgl BSG vom 17.5.2021 - B 1 KR 5/20 B - juris RdNr 4 mwN). Insoweit hätte sich der Kläger auch mit Blick auf das im angefochtenen Urteil wiedergegebene Vorbringen der Beklagten damit auseinandersetzen müssen, dass nach der Rspr des BSG ein Kostenerstattungsanspruch aufgrund einer Genehmigungsfiktion nicht in Betracht kommt, wenn der Versicherte schon vor Ablauf der maßgeblichen Entscheidungsfristen auf die Selbstbeschaffung der beantragten Leistung vorfestgelegt ist (vgl BSG vom 27.10.2020 - B 1 KR 3/20 R - BSGE 131, 94 = SozR 4-2500 § 13 Nr 55; BSG vom 25.3.2021 - B 1 KR 22/20 R - juris RdNr 18).

2. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung von § 109 SGG und § 128 Abs 1 Satz 1 SGG (Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Um einen Verfahrensmangel in diesem Sinne geltend zu machen, müssen die Umstände bezeichnet werden, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen (vgl zB BSG vom 18.2.1980 - 10 BV 109/79 - SozR 1500 § 160a Nr 36 mwN; BSG vom 31.7.2017 - B 1 KR 47/16 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 30 RdNr 16 mwN). Daran fehlt es.

a) Der Kläger macht geltend, die Auslegung seines in dem Schriftsatz vom 3.11.2015 enthaltenen Antrages durch das LSG als Antrag auf Kostenerstattung statt auf Leistungsgewährung sei überraschend und willkürlich.

aa) Die Willkürlichkeit der angefochtenen Entscheidung kann im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren allerdings nur im Sinne einer willkürlichen Handhabung verfahrensrechtlicher Bestimmungen auf dem Weg zur Entscheidung (sog "error in procedendo") als Verfahrensmangel gerügt werden (vgl BSG vom 12.12.2018 - B 6 KA 23/18 B - juris RdNr 31). Einen solchen Verfahrensmangel hat der Kläger nicht dargetan.

bb) Eine den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzende Überraschungsentscheidung liegt nur vor, wenn das Urteil auf Gesichtspunkte gestützt wird, die bisher nicht erörtert worden sind, und dadurch der Rechtsstreit eine unerwartete Wendung nimmt, mit der auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verfahrensverlauf selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen braucht (vgl nur BVerfG ≪Kammer≫ vom 5.4.2012 - 2 BvR 2126/11 - NJW 2012, 2262 - juris RdNr 18 mwN; BSG vom 22.4.2015 - B 3 P 8/13 R - BSGE 118, 239 = SozR 4-3300 § 23 Nr 7, RdNr 37 mwN). Es gibt keinen allgemeinen Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichten würde, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern (vgl BSG vom 30.10.2019 - B 1 KR 99/18 B - juris RdNr 10 mwN; BSG vom 21.6.2000 - B 5 RJ 24/00 B - SozR 3-1500 § 112 Nr 2 S 3 mwN). Eine solche Verpflichtung des Gerichts wird insbesondere weder durch den allgemeinen Anspruch auf rechtliches Gehör aus § 62 SGG bzw Art 103 Abs 1 GG noch durch die Regelungen zu richterlichen Hinweispflichten (§ 106 Abs 1, § 112 Abs 2 Satz 2 SGG) begründet (vgl BSG vom 29.4.2021 - B 5 RS 3/21 B - juris RdNr 5). Eine Hinweispflicht kann jedoch dann bestehen, wenn sich das Gericht hinsichtlich der Beweiswürdigung zuvor abweichend geäußert hat (vgl hierzu BSG vom 3.4.2014 - B 2 U 308/13 B - juris RdNr 8). Dass gemessen daran die Auslegung des Antrages durch das LSG eine den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzende Überraschungsentscheidung darstellte, legt der Kläger ebenfalls nicht dar.

b) Sofern der Kläger schließlich eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht gemäß § 103 SGG rügt, fehlt es hierzu an jeglichen Darlegungen (vgl zu den Anforderungen an die Sachaufklärungsrüge BSG vom 17.12.2020 - B 1 KR 84/19 B - juris RdNr 5 mwN).

3. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).

4. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Schlegel Scholz Bockholdt

 

Fundstellen

Dokument-Index HI15073901

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