Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache. Überprüfung untergesetzlicher Rechtsetzungsakte. Verletzung des Amtsermittlungsgrundsatzes
Orientierungssatz
1. Untergesetzliche Rechtsetzungsakte, die in einem Rechtsstreit für die Beurteilung geltend gemachter Ansprüche entscheidungserheblich sind, sind bei entsprechendem Anlass regelmäßig inzident auch auf ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht hin zu überprüfen, sofern nicht Abweichendes im Sinne eines Entscheidungsmonopols anderer Gerichte oder Behörden ausnahmsweise explizit geregelt ist (hier: Überprüfung einer auf eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung gestützten Beitragsnachforderung).
2. Die Anforderungen an eine statthafte Sachaufklärungsrüge (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 iVm § 103 SGG) können nicht durch das Aufwerfen von Rechtsfragen nach vermeintlich einschlägig gewesenen prozessualen Pflichten eines Gerichts umgangen werden (vgl BSG vom 14.4.2009 - B 5 R 206/08 B = SozR 4-1500 § 160 Nr 18 RdNr 6, vom 5.5.2010 - B 5 R 26/10 B und vom 26.11.1975 - 5 BKn 5/75 = SozR 1500 § 160 Nr 13).
Normenkette
SGG § 160 Abs. 2 Nrn. 1, 3 Hs. 2, § 160a Abs. 2 S. 3, § 169 Sätze 2-3, § 103; TVG § 5 Abs. 1 S. 1 Nr. 1; SGB 4 § 28d; SGB 4 § 28e Abs. 1; SGB 4 § 28p Abs. 1 S. 5
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 29. Oktober 2010 wird als unzulässig verworfen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Kosten der Beigeladenen sind nicht zu erstatten.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 72 215,48 Euro festgesetzt.
Gründe
I. In dem der Beschwerde zugrundeliegenden Rechtsstreit hat sich die klagende Arbeitgeberin gegen die von der beklagten Rentenversicherungsträgerin als Folge einer Betriebsprüfung verfügte Nachforderung von Sozialversicherungsbeiträgen und Beiträgen zur Bundesagentur für Arbeit in Höhe von 141 241,20 DM (72 215,48 Euro) gewandt. Diese Beiträge entfallen - so die Beklagte - auf von der Klägerin gegenüber den Beigeladenen zu 3. bis 30. aufgrund eines für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrages geschuldetes, ihnen tatsächlich aber nicht gezahltes Arbeitsentgelt für Zeiträume zwischen dem 1.12.1996 und dem 30.4.1999. Während die dagegen gerichtete Klage in erster Instanz ohne Erfolg geblieben ist, hat das LSG auf die Berufung der Klägerin das SG-Urteil und die Bescheide der Beklagten aufgehoben.
Mit der Beschwerde wendet sich die Beklagte gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG vom 29.10.2010.
II. Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG ist in entsprechender Anwendung von § 169 Satz 2 und 3 SGG als unzulässig zu verwerfen. Die Beklagte hat Zulassungsgründe nicht in der nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG gebotenen Weise dargelegt oder bezeichnet.
Das BSG darf gemäß § 160 Abs 2 SGG die Revision gegen eine Entscheidung des LSG nur dann zulassen, wenn
- die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr 1) oder
- das angefochtene Urteil von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abweicht (Nr 2) oder
- bestimmte Verfahrensmängel geltend gemacht werden (Nr 3).
Die Behauptung der inhaltlichen Unrichtigkeit der Berufungsentscheidung ist demgegenüber kein Zulassungsgrund.
Die Beklagte beruft sich ausschließlich auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG). Die grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache lässt sich nur darlegen, indem die Beschwerdebegründung ausführt, welche Rechtsfrage sich ernsthaft stellt, deren Klärung über den zu entscheidenden Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder Rechtsfortbildung im allgemeinen Interesse erforderlich (Klärungsbedürftigkeit) und deren Klärung durch das Revisionsgericht zu erwarten (Klärungsfähigkeit) ist (BSG SozR 1500 § 160a Nr 60 und 65; BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 16 mwN; vgl auch BVerfG SozR 3-1500 § 160a Nr 7). Die Beschwerdebegründung hat deshalb auszuführen, inwiefern die Rechtsfrage nach dem Stand von Rechtsprechung und Lehre nicht ohne Weiteres zu beantworten ist, und den Schritt darzustellen, den das Revisionsgericht zur Klärung der Rechtsfrage im allgemeinen Interesse vornehmen soll (BSG SozR 1500 § 160a Nr 31). Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdebegründung nicht.
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Die Beklagte formuliert (sinngemäß) folgende Rechtsfragen: |
1.Sind die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit befugt, im Rahmen der Überprüfung einer auf eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung (AVE) gestützten Beitragsnachforderung inzident das Vorliegen der Voraussetzungen einer AVE iS von § 5 Tarifvertragsgesetz (TVG) von Amts wegen nachzuprüfen und die Wirksamkeit der AVE für den Einzelfall zu verneinen? |
2.Ist es mit dem Amtsermittlungsgrundsatz vereinbar, wenn das Gericht seine Entscheidung darauf stützt, das Zahlenmaterial, mit dessen Hilfe die für die Zulässigkeit einer AVE notwendige 50%-Quote ermittelt wurde, sei zweifelhaft, selber aber keine Ermittlungen anstellt, um die vorliegenden Zahlen zu verifizieren? |
In Bezug auf die Frage zu 1. wird jedenfalls die Klärungsbedürftigkeit nicht in der gebotenen Weise dargetan. Die Klärungsbedürftigkeit einer Rechtsfrage fehlt nämlich, wenn ihre zutreffende Beantwortung nach dem Inhalt der maßgeblichen Rechtsvorschriften bzw der dazu vorliegenden höchstrichterlichen Rechtsprechung keinem vernünftigen Zweifel (mehr) unterliegen kann (vgl zB BSG SozR 3-2500 § 75 Nr 8 S 34; SozR 3-1500 § 146 Nr 2 S 6 und § 160a Nr 21 S 38), die Frage also "geklärt" ist. Dazu ist es erforderlich, dass sich die Beschwerdebegründung sowohl mit einschlägiger Rechtsprechung des BSG oder - wenn eine solche fehlt - jedenfalls mit derjenigen anderer Bundesgerichte zum Fragenkomplex bzw zu damit eng in Zusammenhang stehenden Fragen auseinandersetzt (vgl zB Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 160a RdNr 14d mwN). Das geschieht hier nicht, obwohl dazu Anlass bestand. Zwar geht auch die Beklagte - die eine ausschließliche Zuständigkeit der Arbeitsgerichtsbarkeit für die Klärung der Wirksamkeit einer AVE für gegeben erachtet - (zutreffend) davon aus, dass es sich bei einer AVE um einen Akt untergesetzlicher Rechtsetzung durch die Exekutive auf dem Gebiet des kollektiven Arbeitsrechts handelt (vgl zB BAG AP Nr 13 und Nr 14 zu § 5 TVG; BVerfG AP Nr 15 zu § 5 TVG; BVerwG AP Nr 23 zu § 5 TVG). Sie nimmt jedoch nicht in den Blick, dass untergesetzliche Rechtsetzungsakte, die in einem Rechtsstreit für die Beurteilung geltend gemachter Ansprüche entscheidungserheblich sind, bei entsprechendem Anlass regelmäßig inzident auch auf ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht hin zu überprüfen sind, sofern nicht Abweichendes im Sinne eines Entscheidungsmonopols anderer Gerichte oder Behörden ausnahmsweise explizit geregelt ist (zB Art 100 GG, Art 234 EG-Vertrag; ähnlich § 108 SGB VII; dazu zB Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, § 51 RdNr 45). So bejaht auch die höchstrichterliche arbeitsgerichtliche Rechtsprechung wegen der fehlenden Möglichkeit Normunterworfener, eine AVE unmittelbar anzufechten, eine gerichtlich vorzunehmende Inzidentkontrolle gerade dann, wenn Arbeitnehmer und Arbeitgeber über Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis streiten und diese Ansprüche davon abhängen, ob ein darauf einwirkender, für allgemeinverbindlich erklärter Tarifvertrag in Einklang mit höherrangigem Recht steht (vgl zB BAGE 40, 288 = AP Nr 18 zu § 5 TVG ≪Streit über die Höhe des tariflich geschuldeten Entgelts≫; BAGE 74, 226 = AP Nr 2 zu § 1 TVG Tarifverträge Gerüstbau ≪Streit über Sozialkassenbeitragspflichten≫; BAG AP Nr 12 zu § 91a ZPO; BAG AP Nr 6 und Nr 25 zu § 5 TVG). Das Beschwerdevorbringen der Beklagten geht nicht darauf ein, weshalb vor dem aufgezeigten Hintergrund dann aber im sozialgerichtlichen Verfahren in Bezug auf die an Entgeltforderungen anknüpfende Beitragspflicht zur Sozialversicherung anderes gelten könnte. Insbesondere erschließt sich nicht, weshalb die vom LSG inzident vorgenommene Prüfung des Vorliegens der gesetzlichen Voraussetzungen für den Erlass einer AVE ausgeschlossen gewesen sein sollte, obwohl von der Wirksamkeit der AVE letztlich die streitbefangene Beitragsforderung abhängt.
Die Zulassung der Revision hinsichtlich der Frage zu 2. scheitert demgegenüber an der fehlenden Darlegung der Klärungsfähigkeit einer abstrakten Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, wobei dahinstehen kann, ob insoweit nicht ohnehin nur die Fehlerhaftigkeit der Rechtsanwendung im Einzelfall gerügt wird. Entscheidend ist insoweit, dass die Frage nach der Vereinbarkeit einer bestimmten Verfahrensweise des LSG auf seinem Weg zur Rechtsfindung mit dem Amtsermittlungsgrundsatz nach § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG beschränkt ist. Danach kann ein zur Zulassung der Revision führender Verfahrensmangel auf eine Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG (freie richterliche Beweiswürdigung) gar nicht und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur unter qualifizierten Voraussetzungen, nämlich dann gestützt werden, wenn sich der Verfahrensmangel auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Auf diese Voraussetzungen bezogenes Vorbringen enthält die Beschwerdebegründung der Beklagten nicht. Die Anforderungen an eine statthafte Sachaufklärungsrüge (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 iVm § 103 SGG) können aber nicht durch das Aufwerfen von Rechtsfragen nach vermeintlich einschlägig gewesenen prozessualen Pflichten eines Gerichts umgangen werden (stRspr, vgl zB BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 18 RdNr 6 mwN ≪zur unterbliebenen persönlichen Anhörung≫; BSG Beschluss vom 5.5.2010 - B 5 R 26/10 B, juris RdNr 10 ≪zu § 106 Abs 1 und § 112 Abs 2 Satz 1 SGG≫; BSG SozR 1500 § 160 Nr 13). Ähnlich verhält es sich hier, weil die im Zentrum des Vortrags der Beklagten stehende Behauptung der Verletzung von Amtsermittlungspflichten durch das LSG (vermeintlich fehlende Ermittlungen zur Verifizierung von vorliegendem Zahlenmaterial) unzulässig in eine Frage von angeblich grundsätzlicher Bedeutung gekleidet wird. Auch die Frage, ob das LSG seine Entscheidung zur Unwirksamkeit der AVE auf das vorliegende Zahlenmaterial stützen durfte, betrifft im Kern nur die Würdigung vorliegender Beweismittel durch das Berufungsgericht und ist daher als Grundsatzrüge ebenfalls nicht statthaft.
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab, weil sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbs 2 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Halbs 3 SGG iVm § 154 Abs 2, § 162 Abs 1 und 3 VwGO .
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren war gemäß § 197a Abs 1 Satz 1 Halbs 1 SGG iVm § 63 Abs 2, § 52 Abs 1 und 3, § 47 Abs 1 und 3 GKG entsprechend den von den Beteiligten nicht beanstandeten Feststellungen des Berufungsgerichts in Höhe der mit der Klage angegriffenen Beitragsforderung festzusetzen.
Fundstellen