Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahrensmangel. Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung. Amtsermittlungsgrundsatz. Beweisantrag. Ordnungsgemäße Sachaufklärungsrüge. Gehörsrüge. Ständige ärztliche Anwesenheit. Intensivstation. OPS-Kode 8-980. Nachtdienst. Wochenenddienst. Notfalleinsatz. Rechtsfrage
Leitsatz (redaktionell)
1. Der Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung von § 109 SGG und § 128 Abs. 1 S. 1 SGG (Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
2. Wer die Verletzung des rechtlichen Gehörs rügt, muss ausführen, welchen erheblichen Vortrag das Gericht bei seiner Entscheidung nicht zur Kenntnis genommen hat, welches Vorbringen des Rechtsuchenden dadurch verhindert worden ist und inwiefern das Urteil auf diesem Sachverhalt beruht.
3. Die Anforderungen an eine ordnungsgemäße Sachaufklärungsrüge können nicht dadurch umgangen werden, dass der Vorhalt unzureichender Sachaufklärung in der Gestalt einer Gehörsrüge geltend gemacht wird.
4. Das Bedürfnis für die Klärung einer Rechtsfrage fehlt, wenn ihre Beantwortung nach der dazu ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung keinem vernünftigen Zweifel unterliegt, die Frage also „geklärt” ist.
Normenkette
SGG §§ 62, 103, 109, 128 Abs. 1 S. 1, § 160 Abs. 2 Nrn. 1, 3, § 160a Abs. 2 S. 3, Abs. 4 S. 1, § 169 S. 3; GG Art. 103 Abs. 1; Charta der Grundrehte der EU Art. 47 Abs. 2; EMRK Art. 6 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 8. Dezember 2016 wird als unzulässig verworfen.
Die Beklagte trägt auch die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 12 578,92 Euro festgesetzt.
Gründe
I
Die Beklagte, Trägerin eines für die Behandlung Versicherter zugelassenen Krankenhauses, behandelte den bei der klagenden Krankenkasse (KK) versicherten S (im Folgenden: Versicherter) stationär vom 24.5. bis 27.7.2007, zeitweise auf der Intensivstation. Die Beklagte kodierte ua den Operationen- und Prozedurenschlüssel (OPS) 8-980 (Intensivmedizinische Komplexbehandlung ≪Basisprozedur≫) nach dem 2007 geltenden OPS und berechnete 51 870,99 Euro (Fallpauschale - Diagnosis Related Group 2007 ≪DRG≫ B36A). Die Klägerin bezahlte den Betrag, machte aber eine Erstattung in Höhe von 12 578,92 Euro geltend: Bei einer Begehung der Intensivstation (14.1.2010) sei der Medizinische Dienst der Krankenversicherung zu dem Ergebnis gekommen, dass die Voraussetzungen für die Abrechnung des OPS-Codes 8-980 nicht erfüllt seien. Eine ständige ärztliche Anwesenheit auf der Intensivstation sei nicht in allen Fällen gewährleistet. Das SG hat die Beklagte zur Zahlung der Erstattung nebst Zinsen verurteilt (Urteil vom 10.11.2014). Das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen: Die Beklagte habe den Nacht- und Wochenenddienst dergestalt organisiert, dass der diensthabende Anästhesist der Intensivstation bei einem entsprechenden Notfall bis zum Eintreffen des Hintergrunddienstes planmäßig in der Notaufnahme tätig werde. Damit seien die Voraussetzungen für die Abrechnung einer intensivmedizinischen Komplexbehandlung nicht erfüllt (Urteil vom 8.12.2016).
Die Beklagte wendet sich mit ihrer dagegen eingelegten Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil.
II
Die Beschwerde der Beklagten ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 iVm § 169 S 3 SGG zu verwerfen. Ihre Begründung entspricht nicht den aus § 160a Abs 2 S 3 SGG abzuleitenden Anforderungen an die Darlegung der geltend gemachten Revisionszulassungsgründe des Verfahrensfehlers (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) und der grundsätzlichen Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG).
1. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung von § 109 SGG und § 128 Abs 1 S 1 SGG (Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Um einen Verfahrensmangel in diesem Sinne geltend zu machen, müssen die Umstände bezeichnet werden, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen (vgl zB BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 24, 36).
a) Soweit die Beklagte einen Verstoß gegen die Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) rügt, legt sie diesen nicht in der gebotenen Weise dar. Sie bezeichnet schon keinen Beweisantrag, den sie gestellt und bis zur Entscheidung des LSG aufrecht erhalten habe (vgl BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 9 S 20 f; Nr 29 S 49; Nr 31 S 51 f; BSG SozR 4-1500 § 160 Nr 13 RdNr 11 mwN).
b) Wer - wie hier die Beklagte - die Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG, Art 47 Abs 2 Charta der Grundrechte der EU, Art 6 Abs 1 EMRK) rügt, muss ausführen, welchen erheblichen Vortrag das Gericht bei seiner Entscheidung nicht zur Kenntnis genommen hat, welches Vorbringen des Rechtsuchenden dadurch verhindert worden ist und inwiefern das Urteil auf diesem Sachverhalt beruht (vgl zB BSG SozR 1500 § 160a Nr 36; BSG Beschluss vom 10.3.2011 - B 1 KR 134/10 B - Juris RdNr 6 mwN). Daran fehlt es.
Die Beklagte macht geltend, das LSG habe ihren Anspruch auf rechtliches Gehör dadurch verletzt, dass es sich nicht mit ihrem Vortrag betreffend den Notfalleinsatz des Arztes der Intensivstation in ihren Schriftsätzen vom 3.3.2016 (S 1 und 2) und vom 29.4.2016 (S 2) sowie mit dem von ihr hierzu in der mündlichen Verhandlung vom 8.12.2016 zu Protokoll Erklärten auseinandergesetzt habe. Das LSG habe unberücksichtigt gelassen, dass die Notfallversorgung durch den auf der Intensivstation diensthabenden Anästhesisten nur in absoluten Ausnahmefällen zum Tragen komme. Das Vorbringen der Beklagten, dass wenn tatsächlich bei Notfällen ein Anästhesist gebraucht werde, der sogenannte Hintergrunddienst informiert und der Anästhesist von der Intensivstation in der Regel nicht benötigt werde, habe das LSG nicht in seine Feststellungen mit einbezogen. Die Beklagte legt aber schon nicht dar, wieso das LSG den Beklagtenvortrag nicht im Tatbestand durch die Worte zur Kenntnis genommen hat: "Denn die Einsätze des diensttuenden Arztes auf der Intensivstation erfolgten nur dann im Bereich der Notaufnahme, wenn dies bis zum Eintreffen des sog. Hintergrunddienstes notwendig sei. Der diensttuende Anästhesist müsse sich dann aber nur wenige Minuten mit dem Notfallpatienten beschäftigen. Dies sei nur im Nachtdienst oder am Wochenende der Fall, da ansonsten schon ein weiterer Anästhesist vor Ort sei. Nach Ansicht der Beklagten stehe es dem Krankenhausträger frei, wie er sich organisiert und sicherstellt, dass der Anästhesist nur in äußerst seltenen Notfällen die Intensivstation verlassen muss."
Die Beklagte legt auch keine Verletzung ihres Gehörs damit dar, dass das LSG entgegen ihrem Vortrag in den genannten Schriftsätzen und in der mündlichen Verhandlung fälschlicherweise ohne weitere Tatsachenermittlungen davon ausgegangen sei, dass der auf der Intensivstation tätige Anästhesist planmäßig in der Notfallaufnahme tätig werden müsse. Die Beklagte kann die Anforderungen an eine ordnungsgemäße Sachaufklärungsrüge nicht dadurch umgehen, dass sie den Vorhalt unzureichender Sachaufklärung in der Gestalt einer Gehörsrüge geltend macht (stRspr, vgl zB BSG Beschluss vom 25.4.2006 - B 1 KR 97/05 B - Juris RdNr 6 mwN). Denn Voraussetzung für den Erfolg einer Rüge eines Gehörsverstoßes ist es ua, dass der Beschwerdeführer darlegt, seinerseits alles ihm Zumutbare getan zu haben, um sich rechtliches Gehör zu verschaffen (vgl BSG SozR 4-1500 § 153 Nr 13 RdNr 6 mwN). Dies bedingt die - von der Beklagten nicht dargelegte - Stellung und Aufrechterhaltung eines Beweisantrags bis zur Entscheidung des LSG (vgl BSG Beschluss vom 16.8.2017 - B 1 KR 2/17 B - Juris RdNr 10). Im Kern wendet sich die Beklagte dagegen, dass das LSG den Einsatz des auf der Intensivstation diensthabenden Anästhesisten in der Notfallaufnahme, wie er 2007 bei der Beklagten praktiziert wurde, als planmäßig und damit die Voraussetzung der Gewährleistung einer ständigen ärztlichen Anwesenheit auf der Intensivstation des OPS-Codes 8-980 als nicht erfüllt gewürdigt hat. Damit greift sie jedoch die Beweiswürdigung und die Richtigkeit der Entscheidung im Einzelfall an. Dies ist nicht Gegenstand einer Nichtzulassungsbeschwerde.
2. Wer sich auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) beruft, muss eine Rechtsfrage klar formulieren und ausführen, inwiefern diese Frage im angestrebten Revisionsverfahren entscheidungserheblich sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl zB BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 21 S 38; BSG SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2 f; BSG SozR 3-2500 § 240 Nr 33 S 151 f mwN). Die Beklagte richtet ihr Vorbringen hieran nicht aus.
Die Beklagte formuliert als Rechtsfrage:
"Ist die ständige ärztliche Anwesenheit auf der Intensivstation beim OPS-Kode 8-980 gewährleistet, wenn der diensthabende Anästhesist auf der Intensivstation im Nachtdienst und/oder am Wochenende kurzzeitig (10-15 Minuten) zu einem Notfalleinsatz in der Notaufnahme des Krankenhauses bis zum Eintreffen des anästhesiologischen Hintergrunddienstes für die Notaufnahme hinzugezogen wird?"
Die Beklagte zeigt schon den Klärungsbedarf der Rechtsfrage nicht hinreichend auf. Das Bedürfnis für die Klärung einer Rechtsfrage fehlt, wenn ihre Beantwortung nach der dazu ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung keinem vernünftigen Zweifel unterliegt, die Frage also "geklärt" ist (vgl zB BSG Beschluss vom 21.10.2010 - B 1 KR 96/10 B - RdNr 7 mwN). Die Beklagte hätte sich deshalb in der Beschwerdebegründung näher damit auseinandersetzen müssen, wieso in Würdigung der ergangenen höchstrichterlichen Rspr noch Klärungsbedarf verblieben ist. Die Beschwerdebegründung genügt diesen Anforderungen nicht. Sie setzt sich nicht damit auseinander, dass die Rspr des BSG eine Gewährleistung der ständigen ärztlichen Anwesenheit, wie sie der OPS-Code 8-980 voraussetzt, nur bei einem planmäßigen Bereitschaftsdienst der Stufe D ausschließlich für die Intensivstation als gegeben ansieht (BSG SozR 4-5562 § 7 Nr 4 RdNr 18). Die Beklagte legt nicht dar, weshalb angesichts dieser Ausführungen noch klärungsbedürftig ist, dass der grundsätzlich vorhersehbare kurzzeitige Einsatz des für die Intensivstation diensthabenden Anästhesisten zur Nachtzeit und an Wochenenden zusätzlich in der Notaufnahme bis zum Eintreffen des anästhesiologischen Hintergrunddienstes dem Erfordernis "ständiger ärztlicher Anwesenheit" nicht genügt.
Eine Rechtsfrage, über die bereits höchstrichterlich entschieden worden ist, kann zwar dennoch (erneut) klärungsbedürftig sein, wenn der Rspr in nicht geringfügigem Umfang widersprochen wird und gegen sie nicht von vornherein abwegige Einwendungen vorgebracht werden (vgl zB BSG SozR 1500 § 160a Nr 13 S 19 mwN; BSG Beschluss vom 27.1.2012 - B 1 KR 47/11 B - Juris RdNr 4; BSG Beschluss vom 5.2.2013 - B 1 KR 72/12 B - RdNr 7). Dies ist jedoch im Rahmen der Beschwerdebegründung ebenfalls darzulegen (vgl zB BSG Beschluss vom 22.12.2010 - B 1 KR 100/10 B - Juris RdNr 7; BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 32 RdNr 5). Daran fehlt es.
3. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 S 1 Teils 3 SGG iVm § 154 Abs 2 VwGO, diejenige über den Streitwert auf § 197a Abs 1 S 1 Teils 1 SGG iVm § 63 Abs 2 S 1, § 52 Abs 1 und 3, § 47 Abs 1 und 3 GKG.
Fundstellen
Dokument-Index HI11385775 |