Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 20. Januar 2022 wird als unzulässig verworfen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten in dem der Beschwerde zugrunde liegenden Rechtsstreit darüber, ob eine beim Kläger vorliegende Hörstörung als Berufskrankheit (BK) nach Nr 2301 der Anlage 1 der Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) - Lärmschwerhörigkeit - anzuerkennen ist.
Die im Anschluss an ein erfolgloses Verwaltungsverfahren erhobene Klage hat das SG abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 1.4.2020). Das LSG hat von Amts wegen ein HNO-ärztliches und ein arbeitstechnisches Sachverständigengutachten eingeholt, die Beklagte hat weitere Ermittlungen zu den arbeitstechnischen Voraussetzungen am Arbeitsplatz des Klägers durchgeführt. Hierzu haben der medizinische und der arbeitstechnische Sachverständige ergänzend Stellung genommen. Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 20.1.2022).
Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des LSG rügt der Kläger eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache und das Vorliegen von Verfahrensmängeln.
II
Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig. Die Begründung genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen, weil die geltend gemachten Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) sowie des Vorliegens eines Verfahrensmangels (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) nicht ordnungsgemäß dargelegt bzw bezeichnet worden sind (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG).
1. Grundsätzliche Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung angeben, welche Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Ein Beschwerdeführer muss mithin, um seiner Darlegungspflicht zu genügen, eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit, also Entscheidungserheblichkeit, sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung, die sog Breitenwirkung, darlegen (stRspr; zB BSG Beschluss vom 12.7.2022 - B 2 U 11/22 B - juris RdNr 6; BSG Beschluss vom 7.3.2017 - B 2 U 140/16 B - SozR 4-1920 § 52 Nr 18 RdNr 5 mwN; BSG Beschluss vom 4.1.2022 - B 9 V 22/21 B - juris RdNr 5 mwN).
Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdebegründung nicht. Sie gibt bereits keine Rechtsfrage iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG an. Der Kläger hält folgende Frage für grundsätzlich bedeutsam:
Für welchen Zeitraum kann eine "i.d.R. mehrjährige Exposition" iSd Königsteiner Empfehlungen angenommen werden.
Damit fehlt es an einer klar formulierten abstrakt-generellen Rechtsfrage zur Auslegung, Anwendbarkeit oder zur Vereinbarkeit einer konkreten revisiblen Norm des Bundesrechts (§ 162 SGG) mit höherrangigem Recht (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG). Die Frage lässt schon offen, welche Normen zur Überprüfung gestellt werden sollen. Wissenschaftliche Erkenntnisse, die zB in Konsensempfehlungen oder Merkblättern Niederschlag gefunden haben, entfalten keine normative Wirkung und stellen daher keine in einem Revisionsverfahren überprüfbare Rechtsnormen dar. Sie beinhalten medizinische Erfahrungssätze, die von den Sachverständigen zu berücksichtigen sind und in die Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) der Gerichte einfließen (zB BSG Urteil vom 6.9.2018 - B 2 U 13/17 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 10 RdNr 26; BSG Urteil vom 27.6.2017 - B 2 U 17/15 R - SozR 4-5671 Anl 1 Nr 3102 Nr 1 RdNr 19; BSG Urteil vom 12.4.2005 - B 2 U 6/04 R - SozR 4-2700 § 9 Nr 5 RdNr 15 ff; BSG Beschluss vom 4.8.1987 - 2 BU 109/87 - juris RdNr 4). Auch bei der Königsteiner Empfehlung handelt es sich um eine Darstellung medizinischer Erfahrungssätze.
Auch soweit die Beschwerdebegründung sinngemäß auf die Auslegung von § 9 Abs 1 SGB VII iVm Nr 2301 der Anl 1 BKV - Lärmschwerhörigkeit - abzielt, kann ihr keine revisible Rechtsfrage entnommen werden. Eine Rechtsfrage zielt auf die Auslegung des Tatbestandes einer gesetzlichen oder untergesetzlichen Regelung ab. Die Anforderungen an die von der Beschwerdebegründung als Frage benannte Dauer einer Lärmbelastung als arbeitstechnische Voraussetzung ist indes nicht Teil des Tatbestandes der Nr 2301 der Anl 1 BKV. Auch wenn es sich um sog generelle Tatsachen handeln sollte, können Fehler bei deren Ermittlung allenfalls mit der Sachaufklärungsrüge geltend gemacht werden (s auch BSG Urteil vom 27.6.2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr 7, RdNr 24 mwN; BSG Beschluss vom 7.10.2005 - B 1 KR 107/04 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 9 RdNr 8 ff; Karmanski in Roos/Wahrendorf/Müller, SGG, 3. Aufl 2023, § 160 RdNr 29 mwN; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 160 RdNr 7 mwN).
Jedenfalls enthält die Beschwerdebegründung keine Darlegung zur (konkreten) Klärungsfähigkeit, dh zur Entscheidungserheblichkeit der benannten Frage in dem Sinne, dass ihre Klärung im Revisionsverfahren erwartet werden kann. In der Beschwerdebegründung muss dargelegt werden, dass es für die Entscheidung des konkreten Rechtsstreits auf die Beantwortung der aufgeworfenen Rechtsfrage ankommt. Hierzu ist auch darzulegen, dass das LSG die im Fragetext genannten Tatsachen für das BSG bindend (§ 163 SGG) festgestellt hat (zB BSG Beschluss vom 15.8.2022 - B 2 U 147/21 B - juris RdNr 11 mwN; BSG Beschluss vom 28.6.2022 - B 2 U 181/21 B - juris RdNr 10 mwN). Die Wiedergabe von Inhalten der Königsteiner Empfehlung in der benannten Frage lässt hier nicht erkennen, dass das LSG in seiner Entscheidung auf diese entscheidungserheblich abgestellt haben könnte. Die Beschwerdebegründung behauptet dies auch nicht, sondern legt selbst dar, dass das LSG mehrere Gutachten eingeholt hatte.
Die Beschwerdebegründung wendet sich daher im Kern gegen die durch die Vorinstanzen vorgenommene Beweiswürdigung iS von § 128 Abs 1 Satz 1 SGG. Auf letztere kann eine Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision jedoch nicht gestützt werden (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG). Die Beschränkung von Verfahrensrügen kann nicht durch eine Rüge in anderer Gestalt umgangen werden (stRspr; zB BSG Beschluss vom 28.6.2022 - B 2 U 181/21 B - juris RdNr 12; BSG Beschluss vom 22.12.2021 - B 9 SB 42/21 B - juris RdNr 12 mwN; BSG Beschluss vom 6.2.2007 - B 8 KN 16/05 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 12 RdNr 7).
2. Der Kläger hat auch einen Verfahrensfehler (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) in Gestalt der Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) nicht hinreichend bezeichnet. Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 1 SGG), so müssen die diesen vermeintlich begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des LSG, ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht, auf dem Mangel beruhen kann. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel allerdings nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
Um den Verfahrensmangel der Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) ordnungsgemäß zu rügen, muss die Beschwerdebegründung (1.) einen für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren, bis zuletzt aufrechterhaltenen oder im Urteil wiedergegebenen Beweisantrag bezeichnen, dem das LSG nicht gefolgt ist, (2.) die Rechtsauffassung des LSG wiedergeben, auf deren Grundlage bestimmte Tatfragen klärungsbedürftig hätten erscheinen müssen, (3.) die von dem Beweisantrag betroffenen tatsächlichen Umstände aufzeigen, die zur weiteren Sachaufklärung Anlass gegeben hätten, (4.) das voraussichtliche Ergebnis der unterbliebenen Beweisaufnahme angeben und (5.) erläutern, weshalb die Entscheidung des LSG auf der unterlassenen Beweiserhebung beruhen kann (stRspr; zB BSG Beschluss vom 27.9.2022 - B 2 U 42/22 B - juris RdNr 7 mwN; BSG Beschluss vom 11.3.2021 - B 9 SB 51/20 B - juris RdNr 9; BSG Beschluss vom 12.12.2003 - B 13 RJ 179/03 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 5 mwN).
Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht. Der vor dem LSG anwaltlich vertretene Kläger bezeichnet bereits keinen prozessordnungsgemäßen Beweisantrag, den er im Berufungsverfahren bis zum Schluss aufrechterhalten hat. Wird ein Rechtsstreit - wie hier - nach § 124 Abs 2 SGG mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden, tritt an die Stelle des Schlusses der mündlichen Verhandlung der Zeitpunkt der Zustimmung zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (stRspr; zB BSG Beschluss vom 28.11.2022 - B 2 U 84/22 B - juris RdNr 11; BSG Beschluss vom 11.6.2022 - B 9 V 5/22 B - juris RdNr 4 mwN). Der förmliche Beweisantrag hat Warnfunktion und soll der Tatsacheninstanz unmittelbar vor der Entscheidung signalisieren, dass ein Beteiligter die gerichtliche Aufklärungspflicht noch für defizitär hält (stRspr; zB BSG Beschluss vom 16.3.2022 - B 2 U 164/21 B - juris RdNr 17; BSG Beschluss vom 14.7.2021 - B 6 KA 42/20 B - juris RdNr 7 mwN; BSG Beschluss vom 29.3.2007 - B 9a VJ 5/06 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 13 RdNr 11 mwN). Der Kläger legt indes nicht dar, dass er den benannten Beweisantrag bis zuletzt aufrechterhalten hat. Die Beschwerdebegründung versäumt insoweit eine Auseinandersetzung damit, dass das LSG nachfolgend zu dem bezeichneten Schriftsatz vom 10.1.2022 nochmals zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung angehört und der Kläger hierzu nochmals mit Schriftsatz vom 19.1.2022 sein Einverständnis hierzu erteilt hat.
Unabhängig davon legt die Beschwerdebegründung nicht hinreichend dar, dass das LSG dem Antrag ohne hinreichenden Grund nicht gefolgt ist. § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist im Hinblick auf das Erfordernis "ohne hinreichende Begründung" nicht formell, sondern materiell im Sinne von "ohne hinreichenden Grund" zu verstehen (BSG Beschluss vom 15.8.2022 - B 2 U 141/21 B - juris RdNr 15; BSG Beschluss vom 27.1.2021 - B 13 R 77/20 B - juris RdNr 7 mwN; BSG Beschluss vom 31.7.1975 - 5 BJ 28/75 - SozR 1500 § 160 Nr 5 S 6 = juris RdNr 2). Entscheidend ist, ob sich das LSG von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus hätte gedrängt fühlen müssen, den beantragten Beweis zu erheben, weil nach den dem LSG vorliegenden Beweismitteln Fragen zum tatsächlichen Sachverhalt aus seiner rechtlichen Sicht erkennbar offengeblieben sind.
Die Beschwerdebegründung rügt, dass die Annahmen des LSG zu der täglichen Lärmbelastung fehlerhaft gewesen seien und die Vernehmung des Geschäftsführers eine deutlich höhere Lärmbelastung des Klägers bewiesen hätte. Die Beschwerdebegründung führt insoweit aber selbst aus, das LSG habe schon die Dauer der Lärmbelastung von mindestens 85 db(A) nicht als ausreichend angesehen. Dementsprechend zeigt der Kläger nicht auf, dass die Entscheidung des LSG von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus auf der unterbliebenen Sachaufklärung beruhen könnte. Nicht maßgeblich ist, dass der Kläger aus seiner Sicht weiteren Aufklärungsbedarf durch Vernehmung des Geschäftsführers angenommen hat. Soweit er sich damit auch gegen die Beweiswürdigung der Vorinstanz wendet, vermag dies die Zulassung der Revision nicht zu begründen (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG iVm § 128 Abs 1 Satz 1 SGG).
3. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
4. Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung ehrenamtlicher Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2, § 169 Satz 2 und 3 SGG).
5. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung der §§ 183, 193 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI15718995 |